Beitichtift für
Politik, Literatur und Kunft
Berausgegeben von Georg Cleinow
74. Dabrgang - Jähtlih 52 Nefte
Nr. 14
Die deutfche Induftrie im Kriege. Don Fritz Röl. . . .».. 1
Das Eindringen Englands in Aegypten. Don Prof. Dr. Gottlob . 9
JJ 24
Deitfhe Soldatenbriefe. Don Dr. Fritz Roepe . . . 2... 26
Ausgegeben am 7. April ı915
mn Berlin DW. I *
Lempelhofer Ufer 35a vierteljährlich
Aolizen
Der Leipziger Lehrerverein unterhaͤlt ſeit dem
Mai 1906 ein Inſtitut für experimentelle Pädagogik
und Pſychologie, dad unter der wiſſenſchaftlichen
Zeitung de3 Leipziger Univerfitäteprofeflor® Dr. Mar
Brahn Steht. Was das Inſtitut in den verflofjenen
Jahren an wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen geleiftet
hat, erfieht man aus den vorliegenden Bänden feiner
Beröffentlihungen. Es befteht wohl fein Zweifel,
daß diefe Unterſuchungen, die nicht nur der feelifchen,
fondern auch der koͤrperlichen Beſchaffenheit des
Kindes, foweit fie für die Piychologie von Bedeutung
fein fann, gelten, dem Erziehungswerk in hohem
Maße zugute fommen werden. „Die vortrefflichen
Arbeiten zeigen deutlich,” ichrieb Wilhelm Wundt
an den Borftand de3 Inſtituts, „wie frucdhtbringend
eine Arbeitsteilung fein fann, wenn fi der Praltifer
ebenfojehrder Notwendigkeit einer foliden theoretiſchen
Grundlage bewußt ift, wie der Theoretiker feinerfeits
en Blid auf dad Ganze und auf den Zuſammen⸗
bang der Gebiete richten jollte.” Die pädagogiſch⸗
Hiodolo logiihen Arbeiten find fämtlih im Verlag
il ed Hahn, neipäig, Johannisgaſſe 3, erjchienen.
Die paffiven Mitglieder des Inſtituts, für die der
—— Mitgliedsbeitrag mindeſtens 20 M. beträgt
erhalten die Drudfahen durd den erſten Schri te
führer des Inſtituts, Lehrer Paul Schlager, Leipzig,
Eutritzſcherſir. 1911, umfonft und poftfrei zugeftellt.
al Fa —— Max: Das Problem des ah Friedens.
erlin atı tıler u. Sobn. M. 1
Die — im — Reihe am Ende des
ahres 1913. 10. Sonderheft zum eK ——
erlin, Gall — Berlag.
Evers, Prof. Dr. Edwin: Hie guet Zo * 00 Jahre go
zolern-Kegierung. Berlin-Lichterfelde, Edwin Runge. M. 0.50,
Anzeigen - Annahme durch
Grunow & Co,
und durch den Ve
Grenzboten, Berlin S
der
Büderliffe
— S Bernhard von: Paul von Hindenburg. in
* — * — von — u. Loeffler, Berlin 1916.
reis ge
Ein —— —8 das uns einige Daten
aus dem Leben Hindenburgd vermittelt. Wir bören von den
Familien, denen er arte en iſt und lernen feinen Lebenegan
fennen. Auch wird veiſucht, durch einige Briefproben =
Schilberungen die Hauptzüge — EN lenntlich Fr ma
Hũbſche Bhotographien y den geiälligen Yin
ganzen: eine ——* abe. In ſtolzer Freude — ſie
dem deutſchen B
Illuſtrierte Gef — des Re 1914/15. Allgemeine
a en öchentlich 1 Heft zum Preiſe von 26 Bi.
Union Deuiſche Berlagsgeielliaft in Stuttgart, Berlin,
einzig, Wien.) Heit 21—26 liegen und vor.
Kohl, Hort: Mit — daheim und iR Berlins
Kichtereibe Edwin —— M. 0.60, gar
Endell, Eddy: Die Be — des Fr in ı Preußen.
Berlin, . Zrenfel.
Stöhr, Ara "Dr. Adolf: Leitfaden der Logik in —
erender Darſtellung. Leipzig, gran eutide. M. 360.
Liebe, Raul: Ein SFrauenwettitreit im ® (tertrieg, Angöbug
Heiligenfeger u. EN, Buchdruderei.
aaa erg Carl: Aus dem großen u e. Dromatifde
zenen. Leipzig, Kurt Wolff, Verlag. M. neb. W.4,—.
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gegen Ru (and. Berlin, Carl Krol. M. 1—
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— W.: Deutſchland, Polen und die ruffiihe Gefahr.
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pi ‚ Berlag. M. 1.—, geb. M. 1.60.
Kriegöffugbiatt, 16/16. Zwei Kriegslieber. 17/18. Bier Krieg:
der. — Bier Kriegslieder. Jena, Eug. Diederichs.
Muöfetier Teins (uft’ge Brüder. Alte liebe Solbatenlieber.
——— von Fritz Jöde. Jena, Eug. Diederichs.
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ll
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durch die Direktion.
Die Grenzboten
24. Jahrgang. Zweites Dierteljahr
Die
Srenzboten
Heitjchrift für
Dolitif, Kiteratur und Kunft
Berausgeber
Georg Lleinow
74. Jahrgang
Zweites Dierteliahr
Berlin
Derlag der Grenzboten &.m. b. H.
1915
Inhaltsverzeichnis
Jahrgang 1915. Zweites Vierteljahr
Heft Seite
Bolitit, Geſchichte, Kolonialweſen,
Milttär
Agents provocateurs . . 2220.
—ãe— ‚Das — Englands i in —, von
Amerita, die irn Staaten von — und
Japan, von Dr. jur. Kurt &b. Imberg .
Belgien, ae 3 —— um —, von Dr.
Be giend Berfafjung und Staatsleben, von
Dr. rad Bornhal
Con
Bel * Rentralttät, Deutfchland "und die —
si ethiſcher Beleuhtung . - . 2...
Belle Alliance, Zum undertfien Gedenttage am
18. Juni 1015, von Dr. ®. Gapele . . .
ee ie Rachfolge —, don Maximilian
von Dagen . » 2 2 2 or re.
om en tfeier ber
uni 1915, von Brof.
bert B ei 4, 886:
Deutiälend, und * —— Neutralität in
Se ) Das Ein ——* ——
ro [ SEE Zr Br 6—
Smperialismusß, 2 — li A
nor Dr. Ele Si Hub ? Ibebrandt. 'der uftafung
— Sei ober amd —? von
— Wilde Im May
—— von Dr. Eduard Wilhelm Mayer .
Japan, Die Bereinigten Staaten von Amerila
md —, ven Dr. jur. Ru d. berg .
Kriegstagebud). ‚16, 91; 18, 157; 20, 221;
, 816:
Ropoleond Plan einer Invafion En —*X
1808—1806, von Prof. Dr. Willi Mü
— Das — und bie nafär:
Hg, —— 8 Staates, von Dr. jur.
te Fr ber Weittrie, ‘von Dr. Ge
zandt .
14, 9
. 15, 88
17, 115
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34, 827
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2, 860
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20, 198
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22, 261
22, 257
16, 66
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3, 412
. 18, 188
18, 129
20, 188
26, 886
. 17, 9
Heft Geite
Glanenbund von Nordeuropa, von Yuftizrat
Neburfgenfie t, vergleihe ben A Bur
dert ier der D t
—— ——
Bollsawirtſchaft, Berwaltung,
Sozialweſen
— m enausfuhr, — A der
— und olgen, von Dr. Sennig
Sambia ik, I — —— ee Dr. Hugo
am
&
—— Früchte bes —, Betrachtungen aus dem
— von Unteroffizier Dtto Dahmie .
eh von Güterdireftor
EORDER 5 0 0 ae
Kriegägewinns, Die Beſtenerung bes —
Slewerungerschtigkeit, von Prof. Witt eo
Krisgsge! ewinnfteuer, Für die —, von Yuftizrat
AMDerBeE . . ou 0 0 ne
—— von Dr. sc. pol. Ernſt
Oberfobreen . 2 2 0 0 ae en
Onpreuktnpiife, von Pror. Dr. Mar I. Wolff
—— und — ——— von Walther Claſſen
Weltkrieg und Vollsz
Nechtsfragen, BR und
Erziehung, Kirche
—— die Zukunft der —, I. Die lörper⸗
tigung ber Jugend und bie Er—
— ur Wehrtüchtigkeit, II. Die Einigung
er erzieheriſchen Ju endpflege und daB
Mittelamt für Jugendpflege” von Dr. ®.
—8 ne see ne 28,
er Schule, von Dr. R. Shadt . .
Sale, an — Age des —,
en Conrad Bornhaf. . . . .
Univerftätägefen, Ein ——— —, — Prof. Dr.
Eduard Hubrich... .....
Volkskindergartens, Die er Aufgabe
de8 —, von Dr. phil. Anton —
Bollzlirche, Die — und ihre — ndi)
Sendung, vo von Ardibiafonus Artur Braufe-
» . ‘ . ® ” ‘ ® . ® . ‘
316389
”
23, 294
. 28, 389
19, 171
15, 650
14, 1
4, 48
28, 298
17, 108
17, 113
19, 176
2, 406
18, 149
20, 206
’
8302, 26, 892
. 18, 1562
24, 321
21, 245
24, 851
16, 71
Heft Seite
Kulturgefhichtliches,
Länber-, Böller- und Sprachenkunde
Altrömiichen Feldarztes, Tharakterbild eines —,
von Dr. Wilhelm onad
Deutſchbaltiſchen Menſchen, Die Krifis des —,
von Dr. Max Hildbebert Boehm . 4, 886:
Gobineau über Deutſche und vangofen, a
Prof. Dr. Ludwig Schemann . .
Rultur, Bon deutſcher — und beutfcher geiei
von Prof. Dr. Erih Jung. .
SODNEROHLIE, Deutſche —, von Dr. Fig
oeple. . .
Spraden, Die europäife en — und der Krieg,
von Prof. Dr. Sütterlin-. . «2 202.
Suezkanal, ———— — am —, von
Dr. Walther Jan
Verdeutſchungen, von” Earlomig-
Hartigih .
Wokevre, Ein Blid in die - —, "daß Borland von
Toul und Berdun, von Bıof. Dr. Reihlen
Literatur, Kuuſt, Philoſophie
——— und die belgiſche Neutralität in
ethiſcher Beleuchtung.. 2 2 0.
Dramatiler, Sollen die — Iamelden? von
Dr. Julius Seitler . ——
Geibel, Vom unbefannten —, von Dr. R.
Scha
a Deuiſche — heut unb vor
hundert Jahren, von Dr. W. W
Zweck, Der — in der Politil, von Dr. Paul
Feldkellerr. 0 0 nn
Rovellen, Romane, Gedichte
Abſchied, von Roderich Ley . wen
Der Gefangene . a
Mondnacht, von Roderich dey N
Nach den Treubruch, von Mar Bittric) . a
Reiters Morgenruf, von NRoberih Ley . . .
Bücerbeiprecgungen
Ein „B“ anftelle ber Geitenzahl bedeutet:
Bügerlifte im Ungeigenteil bes betr. Heftes.
Bauer, Karl:
Führer und Helden. Feder—⸗
zeihnungen .
Baum, Dr. Georg: 8 regsbüctein. für das
deutihe Haus (Dr. Sontag)
est senowie: Allgemeine Dienftpflicht
Sans, dere von: Bom Kriege (*) ;
Denis, Emeit: La Guerre (Dr. Fris Roepfe)
Fuͤcer, Adolf: Menſchen und Tiere in Süb-
weit (Brof. Panl Matſchie)
i A e Erid: em Öanstomöbien mit
Bunt, Dr. nation: Freie deutfche Blätter
(Dr. Earl Jentih) .
Gobineau: a qui est arrive en ‘France en
1870. FH den Auffat: Bobineau
über Deutihe und Yranzofen (Prof. Dr.
Ludwig Ehemann) . . 58;
Gocbel, Otio: Der and von Sadalin und
andere Geſchichten aus Sibirien (*)
— Guſtav: Denkwürdigkeiten Br Alt:
jterreih (Heinz Amelung) . .
Hatſchek, Prof. Dr. Ludwig: Das Barlamentd-
recht des Deutichen Neides (Brof.Dr. va
Bornbaf) . . FRE
Hedin, Sven: Ein Bolt in Waffen —
Hennig, Dr. Richard: Unſer Vetter Zartuffe
oder Wie England feine Kolonien erwarb
(Heinrich Reub) .
— enburg, Bernhard von: Baul von Hinden-
se Ric
Sönig, Dr. Johannes: Ferdinand Gregotovius
als Dichter (Dr. phil. 8.9. Rofe). . .
. 2%, 880
3, 871
16, 80
22, 264
14, 26
22, 272
21, 225
. 20, 214
17, 120
26, 860
23, 8308
. 21, 248
. 19, 179
. 20, 198
18, B
191
. 16, B
17, 126
14, B
. 17, 127
Jentſch,
‚Bey, Roderich:
Heft Seite
le: — * Reiche bes Geldes (Dr. Karl
Labberton, Dr.: Die Verlegung. ber Beigifchen
Neutralität .
Poe, Edgar: Werte (Exrnit oͤndwig Sgellenberg
Rinn und Jüngſt; ——— dee
bud (Heinrich Reuß) . . ; ;
Rupp, Julius: Geſammelte Bere .
Sombatt, — und Heiden (Dr.
Garl Jent 1) Ve Er —
Steffen, Bultav : Krieg und Rultur. Ber
gleige die Au fäge: 9 ehweden und ber
elttrieg“ und „Der Imperialismus in
engl! her Auffafſung“ (Dr. Elſe Hilde»
Phi h Holtder: Bismard . . . {
Mitarbeiter-Bergeichnis
Amelung, ty „Denlwürdigkeiten aus Alt-
Dfterrei Peraußgegeben von Guſtav Gugitz
en Suftigeat: : Bär bie —
euer . F
— Stoatenbund von Nordeuropa
Bittrih, Mar: — dem Treu * —
Boehm, Dr. ildebert: Die Krifis bes
dentichbaltilchen enihen . .
Borbat, Prof. Dr. Conrad: BZeigiens Berfaffung
und Staatsleben
„Dad Barlamentsreht bes Deutichen
Reiches“, von Prof. Dr. Ludwig Hatſche
Stellung des
21, 4
15, 60
17, 118
28, 29%
, 8, 41
24, 886; 3, 871
. 26, 898
. 19, 191
’
— Die völterregtli Papfies 24, 821
Böttger, M. d. % Dr. Hugo: Unſere nächfte
Hanbelspolitit . .
Braufewetter, Arhidiafonus Artur: Die Bolts:
firhe und ihre vaterländiihe Sendung
Capelle,Dr.®.: Belle Alliance, Zum hundertften
Gedenktage am 18. Juni 1915 .
Karlowig-Hartigfch, m von: Berdeutiungen
Elaffen, Walther: Tu und Giedlung
Clellan, Prof. George Der Preis für
Stallend Neutralität
Dahmte,Unteroffizier Dtio: rüdte bes Krieges,
— ans bem iselde . . . ..
de Ionge, Dr. M.: Das itafienifche Barlament
Gelee: Dr. Baul: Der Zwed ın der Bolitit
ottlob, Prof. Dr.: Das Erben Englands
in Ügypten . er ee
u Bazimitian von: Die Radiolge
8 — Ric d: Der Rüd »b
enni r. Ridar er gang er eng-
Liichen Rohlenausfuhr und ihre Folgen
Hildebrandt, Dr. Elfe: 2 —— alismus
in engliiher Auffafjung R
— Schweden und ber Welt tig»
Hubrich, nah, Dr. Eduard: Kin neues lini-
verfitäts ge! [3 Bu Br DE Bu RB HR NE
Amberg, Dr. jur. Kurt eb; gie Vereinigten
Staaten von Amerifa Japan .
Sanell, Dr. Walther: Annie ar Anteil am
Suezlanal .
Dr. Earl: ‚Sreie deutſche Blätter“,
herausgegeben von Dr. Philipp Funk
— „Händler und Helden“ von Werner Sombart
— „Im Reiche bed Geldes“ von Leo Jolles
Jung, Prof. Ir. Erih: Von’ deutſcher Kultur“
und deuticher ieh on. . 21, 385;
ſchied Ba al
15, 650
16,. 71
34, 827
X, 214
18, 149
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2A, 348
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19, 171
. 0, 198
17, 9
21, 245
15, 83
. 21, 226
20, 219
15, 63
21, 354
22, 264
17, 126
— Mondnadt . een ee AI
— Reiterd Mor enzuf . :
Matichie, Prof. Paul: „Menigen und Tiere in
Südweſt“ von Adolf Fi iicher
Mayer, Dr. Eduard Bilfelm: Dialieniſche oder
flawifche Irredenta?.. .
— Italiens Politik a dem Baltan und in
der Levante . .
Müller, Prof. Dr. Bi: Napoleons Plan einer
AInvafion Englands 1908—1806
abe iohten Dr. sc. pol. Ernſt: Rriendwirtfinits,
lehre
Reihlen, Rrof. Dr.: Ein Blid in bie Woßore,
das Borland von Toul und Berdun . .
. 17,
18, 166
(2
18, 176
7, 120
Heft Seite
9 ee
von f. nn und Pfarrer lic.
theol. ln m
„Unfer Beiter Zartuffe oder Wie "England
— Kolonien erwarb“ von Dr. Richard
Roepte, ne grip: Deutfche | Sotdatendriefe ;
Frantreichs Werben um Bel Igien ;
za Guerre“ von Erne
Kal, Sri: Die deutiche ndaftre im Kriege
Dale. phil. Anton ec: Die nationale
Aufgabe des Volkskindergartens
— „Ferdinand ee als Dichter“ von
Dr. ———
R. S. D „A gemeine Bienftpfit“ ı von
— — u Zr
a un e.
— — —— — eibel .
ellenberg, Ernit Ludwig: Edgar Boe's Werke
emann, Prof. Dr. Ludwig: — über
eutiche und — 6, 58;
Schonack, Dr. Bilhelm: Charatterbilt ne
altrömifhen Feldarztes
Kriegägetreibe-Bür-
- Schroeder, ——
ſorge
19, 189
17, 126
14, 26
17, 116
. 28, 314
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. 24, Bbl
. 17, 127
. 17, 128
. 18, 162
21
2, %37
16, 80
26, 880
. 23, 298
Heft Seite
Sontag, Dr.: —— für das deutſche
Haus“ von Dr. Georg
Siymantl, BURN Dr. Paul: "Sur Hunbertjahr-
feier der Deutihen Burſchenſchaft am
12. Juni 1015 .
Strahl, Dr. jur. R.: Das Rationalitätsprinzip
und die natürliden Grenzen des Staates
Sätterlin, Prof. Dr. Ludwig: Die europätihen
Spraden und ber Srieg .
Baritat, Dr. ®.: Die Zufunft der Jugenbpflege,
l. Die törperliche Kräftigung der Jugend und
die Erziehung zur Behrtüchtigfeit, U. Die
Einigung der erzieheriichen yugenbpllige und
das „Mittelamt für Jugendpflege” 23, 802;
— Deutiche Kriegsdichtung Heut und vor
hundert Jahren
Bittihemity, Prof.: Die Befteuerung des
Kriegdgewinnd — eine Steuerun erechtigkeit
Wolff, Prof. Dr. Max J.: Oſtpreuf enhilfe
Zeitler, Dr. Julius: Sollen bie
I meigen? .
leine Haustomöbien. mit.
„Dr. Erich Fi
„Vom Kriege“ Bon General von Eluufewig
Dramatiler
Muft“ von
22, 288
23, 239
. 18, 129
2, 212
26, 392
19, 179
17, 108
. 26, 406
23, 300
20, 220
17, 126
Die deutjche Induftrie im Kriege
Don Fritz RBll
ie &reigniffe der legten Wochen haben die einwandfreie und
endgültige Beftätigung erbracht, daß der gegen Deutſchland unter-
nommene Krieg nicht allein die Niederwerfung deuticher milttärifcher
A Kraft bezweden fol, fondern aud) und vor allem die Zertrümmerung
= deutſcher Wirtfhaft und deutſchen Handels. Seit dem Eintritt
des Deutichen Reiches in Welthandel und Weltpolitif hat England argmöhnifchen
Auges die Entwidlung des deutſchen Wirtfchaftslebens und der deutfchen Induſtrie
verfolgt, hat neiderfült den beifpiellofen Erfolg des deutſchen Außenhandels
wahrgenommen und hat, ohnmädtig fih in würdiger Weife des Täftigen
Konkurrenten zu erwehren, einen Weltbrand heraufbefhworen, um mit roher
Gewalt alles zu zerftören, was deutfcher Fleiß und deutfche Ausdauer in jahre-
langer, mühjeliger und heiliger Arbeit gefchaffen haben. In dem Zufammen-
bruch unſerer militärifchen Kraft, unferes Wirtfchaftslebens und unferes Handels
würden aber auch deutſche Kultur und deutjches Wefen zu Boden finfen, und
wir wifjen nicht wie lange es dauern würde, ehe alles das, was heute Ieben$-
und tatenfroh noch vor uns fteht, wieder zu bejcheidener Dafeinsbetätigung die
nötige Kraft finden fönnte. Aber wir wiſſen heute ſchon, daß die Rechnung
unferer Feinde Fehler aufmeift, und daß diefe Fehler den Mikerfolg mit uner-
bittlider Notwendigleit herbeiführen müffen.
Die Tapferkeit unferer fiegreihen Truppen bat den Anſchlag auf unfere
militärifhe Kraft zuſchanden gemadt, fie hat den Kampf in das Land unferer
Feinde getragen und hat verhütet, daß bis auf einen Kleinen Zeil die deutjche
Erde der Schauplat blutiger Schlachten und wüſter Zerftörungen wurde. Die
erfte Kriegswoche zeigte uns die lückenlos volllommene militäriſche Kriegs—
bereitjchaft, fie zeigte uns die gründlich durchdachte Bereitſchaft unferes Eifen-
Grenzboten M 1915 1
2 I Die deutfche Induftrie im Kriege
bahnweſens, fomweit e8 fi) um Angelegenheiten der Truppenbeförberung handelte,
und fie zeigte ung die muftergültige Bereitichaft für die Heeresverpflegung.
Aber fie zeigte uns auch, daß unfere Induſtrie und das von ihr abhängige
Wirtſchaftsleben nicht auf den Krieg vorbereitet waren. Die Yolge waren:
Kopflofigkeit, Unentfchloffenheit, Maffenfündigungen und als ſchlimmſte — drohende
Arbeitslofigleit. Die deutſche Induſtrie ſchien ftill zu fteben.
Schon erhoben fih zürnend die Stimmen der Feinde Tapitaliftiiher Wirt-
ſchaftsordnung. Sie prophezeiten die Niederlage Deutſchlands als notwendige
Folge diefes Syſtems. Yon anderer Seite aber erſcholl der dringlidhe Ruf:
„weiter arbeiten.” Denn das ward in jenen Tagen bie Überzeugung eines
jeden: Deutſchland kann nur dann fiegreih aus dem aufgebrungenen Kampfe
hervorgehen, wenn das zurücgebliebene Deutichland ſtark bleibt und mit feiner
Kraft ftügend im Rüden der lämpfenden Armeen ſteht. Denn nit in ben
Reihen der fiegreich vordringenden Truppen wird die Kriegesmübdigfeit lähmend
ihr Haupt erheben, fie wird geboren im Inland, inmitten arbeitSlofer, zu
Müpiggang und Notleiven verurteilter Menichenmafien.
So ſah fi die deutſche Induſtrie, die große Arbeit- und Brotgeberin
unferes Volles, vor eine große, faft übermenſchliche Aufgabe geitellt. Es galt
fhnell und wirkungsvoll zu handeln und das, was an Kriegsvorſorge verfäumt
worden war, durch Kriegsfürſorge wieder gut zu machen.
88 zeigte ſich indeſſen ſehr bald, daß an Arbeitsgelegenheit fein Mangel
berrihen würde. Der Krieg felbft und mit ihm die Heeresleitung ftellten
große Anforderungen an die Leiftungsfähigleit unferer Induſtrie. Der Bedarf
an Gefhügen, an Munition, an Ausrüftungsgegenftänden für das lämpfende
Heer, an Erzeugniffen, die fanitären Zwecken dienen, an Beförberungsmaterial uſw.
ftieg in$ Ungemefjene. Aber die Aufträge wurden von den militärifchen Be—
börden ohne genügende Prüfung, faft wahllos, vergeben, und das Fehlen einer
Drgantfation, die die Gefhäftsbeziehungen zwiſchen Militärverwaltung und
Induſtrie hätte regeln Tönnen, machte fi) unangenehm fühlbar. So kam
es, daß die dem Sit der Verwaltungen benachbarten Werle mit Aufträgen
überlaftet waren, während in entlegenen Gegenden Beſchäftigungsloſigkeit herrichte.
Eine weitere Folge war das Auftreten eines Jäftigen, oft unlauteren Zmwifchen-
handels, der nicht felten von Leuten betrieben wurde, die bisher in feiner Be⸗
ziehbung zu den arbeitenden Induſtrien ftanden. Hier regelnd zu wirlen, war
bie erfte Anforderung, die der Krieg an die organifatorifche Kraft unferer
Induſtrie ftelltee Sie wurde bei der Löfung diejer Aufgabe unterftäbt durch
die beftehenden ftarfen Organiſationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Bereits am 8. Auguft v. J. ſchloſſen ſich die beiden maßgebenden Verbände
ber deutſchen Induſtrie, der „Bund der Induſtriellen“ und der „Zentralverband
deutſcher Induſtrieller“ zufammen zur Bildung eines „Kriegsausſchuſſes der
beutfchen Induſtrie“, und ftellten fomit ihre weitreihenden Drgantfationen in
den Dienft des Vaterlandes. Diefer Kriegsausfhuß erfaßte die gefamten
Die deutfche Induſtrie im Kriege 3
geiftigen und materiellen Mittel, über welche die deutſche Induſtrie zurzeit
gebot und ftellte außerdem dur Kommiſſare eine zwedmäßige Verbindung mit
den Reichs⸗,, Staats- und Heeresverwaltungen ber. Die von diefen Stellen
erteilten Aufträge konnten nun zwedmäßig über die in Trage kommenden
Mmduftrien verteilt werden unter Ausſchluß jeglicher ftörenden fonftigen Ver⸗
mittlung. Die Aufgabe des Kriegsausfchufles war hiermit aber nicht erfchöpft.
Seine weiteren Ziele waren: zmwedmäßige Verwendung der verfügbaren wirt-
ſchaftlichen Kräfte, wirkſame Arbeitsteilung, Lieferungswefen, Materialbeihaffung
und ArbeitSausgleich zwiſchen den einzelnen Induſtrien, befonder8 aber zwiſchen
mduftrie und Landwirtſchaft. Das Iebtere war von großer Wichtigkeit, da bie
Landwirtſchaft fih durch die Mobilmahung ihrer Arbeitsfräfte beraubt ſah,
und diefe nur durch maſchinelle Einrichtungen zu erfegen waren. Es bildete
fh die landwirtſchaftliche Zentralftelle für Induſtriebeſchäftigung, welche den
landwirtſchaftlichen Bedarf an den Ausſchuß vermittelt und die Fachverbände
der einzelnen Induſtriezweige durch forgfättige Auskünfte unterftügt. Vor allem
aber wurden Kriegskreditbanken gegründet, bie, geſtützt auf Die Reichsbank, den
vom Kriege betroffenen Unternehmungen Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer
Betriebe zur Verfügung ftellten.
Immerhin Tonnte durch die plößlic auftretenden Bedürfniffe nur ber
Arbeitsbedarf gewiſſer Induftriezweige gededtt werden. Für die nicht beteiligten
Induſtrien galt es nun, fi wirkungsvoll ben neuen, oft außergemöhnlichen
Derhältniffen anzupafien.
Während in jenen Fabriken, die ihre Yabrilation ohne weiteres auf den
Heeresbedarf und auf bie Herftellung der taufenderlei Dinge, die unfere im
Feindesland ftehenden Truppen bedürfen, einftellen fonnten, eiftige Tätigkeit
herrſchte, mußten andere Fabriken eine Änderung ihrer Tätigfeit vornehmen.
So erzeugt die A. €. ©. in einem ihrer Betriebe an Stelle Dynamos Granaten,
in einem anderen Metallinöpfe und andere militärtfche Utenfilten, die Siemens»
Säudertwerle bauen Telegraphen- und Telephonanlagen für bie Heeresleitung,
Eifengießereien und Mafchinenfabrifen ftellen Granaten, Nähmafchinenfabrifen
Schrapnells her. Metallmarenfabrifen erzeugen Patronenhülfen. Eine Fabrik
für photographiiche Artikel fabriziert Koppelichlöffer, eine andere für Gewächs⸗
hausbau befchäftigt ſich mit der Herftellung von Werkzeugfäften und Feldftühlen.
So hat die Anpafjungsfähigfeit, die des Deutſchen hervorftechendes Merkmal
ift, in kurzer Zeit Dinge zuwege gebradt, die früher als unmöglich gelten konnten.
Die fi) immer fteigernde Nachfrage nad) Induſtrieerzeugniſſen im Verein
mit der Rückkehr normaler Kredit- und Zahlungsverhältnifie überwanden mit
unvorhergefehener Schnelligkeit die Lähmung der erften Kriegswochen, und bie
deutihe Induſtrie begann von neuem und kraftoll ihre Arbeit wieder auf-
junehmen.
Aber noch blieben Aufgaben von meitgehender Bedeutung zu löſen: es
mußte für einen ficher arbeitenden Arbeitsnachweis geforgt werden, um bie
*
4 | Die deutfhe Induftrie im Kriege
vorhandenen Arbeitsfräfte zwedimäßig zu verteilen; es mußte die SHerbei-
fhaffung der Rohmaterialien ficher geftellt werden, und ſchließlich mußte die
Eriftenz der Familienangehörigen der eingezogenen Induftrieangeftellten ge⸗
fihert werben.
Gleich zu Beginn des Srieges wurde die „Neichszentrale der Arbeitänad)-
weife” ins Leben gerufen. Sie umfaßte alle bereits beftehenden Arbeitsnach⸗
weife, die der Arbeitgeber fowie die der Arbeitnehmer und arbeitet unter Bei⸗
bilfe beider Gruppen auf paritätifcher Grundlage. Es zeigte fi, daß dieſes
fo heiß begehrte und fo ftark angefochtene Syitem für die vorliegenden Ber-
haͤltniſſe das einzig zweckentſprechende tft, und die Hoffnung tft nicht unbegründet,
daß die in diefen harten Zeiten gefammelten Erfahrungen auch hinauswirken,
in Tommende Friedenszeiten. Dur das Zujammenarbeiten der Arbeitgeber-
und Arbeitnehmerorgantifattionen aber bat filh zu unferer aller Überrafhung
gezeigt, daß die Gründung und Feftigung biefer beiden Drganifationsgruppen,
die fi in der Zeit des Friedens auf das heftigfte belämpften, tatſächlich die
einzige, zwar unbewußt gefchaffene aber um fo großzügiger durchgeführte
Kriegsporforge der deutfchen Induſtrie darftellte. Faſt alle beteiligten Perfonen,
Verbände und Gruppen waren in diefen beiden Drganijationen zujammen-
geſchloſſen, und es war nur noch nötig die durchgeführte Arbeitsgemeinſchaft
herbeizuführen, die e8 der deutſchen Induſtrie ermöglichte, ſich jo jchnell den
durdaus veränderten Berhältniffen anzupaſſen. Im Rahmen der einzelnen
Induſtrien vereinigten fi) beide Verbände, um gemeinfam für Beihaffung von
Arbeitögelegenheit und deren Verteilung: zu forgen, denn die Aufträge, bie
durch den Krieg der Induſtrie zufloffen, genügten nicht, das Heer der deutſchen
Arbeiter zu beichäftigen. Hier mußten Staat, Gemeinden und gemeinnüßige
Berbände als Auftraggeber binzugezogen werben. Der Staat ließ Kranfen-
häufer, wiſſenſchaftliche Inftitute, Waflerkraft- und Bahnanlagen bauen, die
Gemeinden jorgten dur GStraßen-, Brüden- und Sanalifationsanlagen für
Arbeit, und öffentliche Inftitute ſchloſſen fich diefen Beſtrebungen an. So ftellte
zum Beiſpiel das Deutſche Mufeum in München mehrere Millionen zur Ver⸗
fügung, um dur den weiteren Ausbau feines Heimes Bauunternehmer,
Tabrifen und Gewerbetreibende mit Aufträgen verfehen zu können. Diefen
Beitrebungen ift es denn auch zu danken, daß der Belchäftigungsgrad in der
deutſchen Induſtrie zurzeit ein erfreuliches Bild zeigt, und an Stelle der be—
fürchteten Arbeitslofigfeit ſtellenweiſe eine höchfte Anfpannung der Induſtrie herrſcht.
Bor allem aber war nötig, die Beichaffung der NRohmaterialien fiher
zu ſtellen. Dadurch, daß der Einfall der Feinde in die Imduftriegebiete des
Rheinlandes und Schlefiens verhindert wurde, Tonnte die inländiſche Roheiſen⸗
und Koblenverforgung ohne erhebliche Unterbrehung aufrecht erhalten werben.
Um aber auf den Anlauf und die Perteilung der nicht in Deutichland
gewonnenen Robftoffe zu. organifieren, haben fi) Materialverforgungsgefellichaften
gebildet, bei denen Erwerbszwede ſatzungsgemäß ausgeſchloſſen find. Die Wichtigkeit
Die deutfche Induftrie im Kriege 5
diefer Angelegenheit zeigt zum DBeifpiel die Nachfrage nad) Kupfer. In
Deutihland werden im Jahr ungefähr 100000 Tonnen Kupfer allein für
Kriegszwecke benötigt, eine Menge, von der nur der vierte Zeil im Lande
felbft erzeugt wird. Da in den lebten fünf Jahren aber jährlich) ungefähr
200000 Tonnen Kupfer mehr eingeführt als ausgeführt wurden, hat ſich ein
ſolch großer, allerdings meift verarbeiteter Kupfervorrat angefammelt, daß aus
ihm der Kupferbedarf des Heeres für lange Zeit und ohne allaugroße
Schwierigkeit gededt werben kann.
Auf ale Fälle war es nötig, von vornherein und entſchieden allen Preig-
treibereien entgegenzumirfen. Daß diefe Preistreibereien hintangehalten wurden,
ift außer den erwähnten Gefellichaften in erfter Linie dem Einwirken ver
militärifhen Behörden zu danken, die ihre Kommandogemalt benugten, um bie
Preife der Rohmaterialien feitzufegen.
War fomit für die ausreichende Beichäftigung der im Lande verbliebenen
Arbeitsfräfte und für die einigermaßen befriedigende SHerbeifhaffung der
nötigften Rohſtoffe geforgt, jo galt e8 noch jener zu gedenken, deren Ernährer
im Dienfte der Induſtrie tätig und nun hinausgeeilt waren, um da3 Bater-
land vor dreiftem Überfall zu bewahren. Hier zeigt fi uns ein Bild von
erbebender Opferbereitfhaft und wirkungsvoller Hilfeleiſtung. Der Umitand,
daß die deutfhen mduftrieunternehmer weiterarbeiten, zum größten Teil mit
Mugen weiterarbeiten Tonnten, ſetzte ſie in die Lage, große Mittel für die
Unterftügung der Familten ihrer MWerlSangehörigen bereitzuftelen. Die
Allgemeine Elektrizität8-Gefelfchaft, die ungefähr 14000 ihrer Mitarbeiter gegen
den Yeind gefchidt bat, verausgabt monatlid) 500000 M. für den erwähnten
Zwed. Dieſem Borgehen fließen fih faft ausnahmslos die übrigen Werke
würdig an. Sn diefer glänzend durchgeführten Unterftügung bringt die deutſche
Induſtrie in erbebender Weile zum Ausdrud, daß fie fi vollauf bemußt ift,
in welch außerordentlichem Maße fie ihre kraftvolle Entwidlung der Mitarbeit ihrer
Angeftellten und Arbeiter zu danken bat, und fie widerlegt überzeugend jene Dogmen,
die die Ausrottung der humanen Empfindungen durch die kapitaliſtiſche Wirtſchafts⸗
ordnung als drohende Gemwißheit hinſtellen. Vergegenwärtigt man fi nun
noch einmal das kraftvolle und gefchidte Weiterarbeiten dieſer Tapitaliftifh
orientierten, zurzeit vom Ausland faft vollitändig abgefchloffenen deutſchen
Sinduftrie, dann wird es verftändlih, wenn ein früherer fozialdemokratifcher
Abgeordneter, Anton Fendrich, in feiner Flugſchrift Über Krieg und Sozial⸗
Demolratie der kapitaliſtiſchen Wirtfchaftsordnung ausdrüdlih feine volle
Bewunderung ausdrüdt.
In ihrer Unterftügungstätigleit treten die deutſchen Gewerkſchaften den
Arbeitgebern und ihren DOrganifationen helfend zur Seite, indem fie ihre großen
Mittel in den Dienft derjelben Sache ftelen. Um eine Vorftellung von der
Tötigleit der Gewerkſchaften zu gewinnen, ftatteten bereit8 im November v. J.
Bertreter der Reichsbehörde und zwei Minifter dem Berliner Gewerkſchaftshaus
6 Die deutfche Induſtrie im Kriege
einen Befuh ab, und vor menigen Wochen lafen wir im Rerichsarbeits⸗
blatt:
- „Die Erfahrungen der erften Kriegsmonate haben gezeigt, daß die Arbeit-
nehmerverbände den ganz außerordentlichen Anforderungen, die durch den
Krieg namentlih an ihre materielle Leiftungsfähigleit geftellt werden, im
wejentlihen vollauf gewachſen find, und daß ihr Beitand über die Kriegsdauer
hinaus im ganzen als gefichert angefehen werben kann“ *).
Fürwahr, es ift ein verführeriſches, erhebendes Bild, diefe beiden großen,
bislang feindlichen Drganifationsgruppen bei gemeinfamer Arbeit zu jehen, denn
es läßt den Segen ahnen, der durch ihre dauernde Zufammenarbeit der Nation
zufließen würde. Die Beendigung des Krieges wird vorausfichtlich die früheren
Verhaͤltniſſe wieberbringen. Wenn aber die jebige, ſchwere Zeit in beiden Lagern
wenigftens den Wunfch nach Verftändigung und Zufammenarbeit mweden und
jtärfen würde, fo wäre dies ſchon als Gewinn zu preifen.
Der Kriegsbeginn traf die deutſche Induſtrie um fo heftiger und uner-
mwarteter, als fie in erbeblihem Umfang mit der außerdeutſchen Kundſchaft
befchäftigt war, und der wirtichaftliche Verkehr mit jenen Staaten, die mit uns
Krieg führen, troß der politiſchen Spannung bis zuletzt fehr lebhaft war. Der
Ausbruch des Krieges zerfchnitt diefe Beziehungen und unterband nahezu
jegliden Außenhandel. 20 bis 25 Prozent der deutſchen Warenerzeugung
fallen auf das Ausland, und ungefähr ein fechitel bis ein fünftel der deutſchen
Arbeiterfehaft waren für den nunmehr ftillgelegten Außenhandel, der im Vorjahr
20 Milliarden betrug, tätig. Für die hierdurch betroffene Induſtrie galt es,
das, was ihnen am Außenhandel verloren gegangen war, auf dem Inlands⸗
markt zu erobern. Glaubte England: die Zeit gelommen, um unferen Außen-
bandel mühelos an fi reißen zu können, fo war für uns ber Augenblid
günftig, den Inlandsmarlt von ausländifhen Erzeugniffen zu fäubern. Die
deutf he Kohleninduftrie zum Beiſpiel tritt erfolgreih in die Lüde, die durch
die nunmehr fehlende englifhe Kohleneinfuhr entitanden ift. Die ununterbrochene
Förderung von Gteinlohlen aber ift in der gegenwärtigen Zeit von um fo
größerer Wichtigkeit, als dadurch die ausreichende Erzeugung pharmazeutifcher
und chemifcher Artikel, die Verforgung mit Leuchtgas mit dem für die Land-
wirtihaft wichtigen fchwefelfauren Ammoniat und endlich die Herftelung der
Farbſtoffe gefichert wird. England, das lediglich auf den Bezug deutſcher
Tarbitoffe angewiefen ift, ſah ſich zur Stillegung eines großen Teiles feiner
tertilinduftriellen Betriebe veranlaßt. Auch. die Vereinigten Staaten, die um
die Jahreswende zwei Schiffe mit deutfchen chemifchen Erzeugniffen befrachteten
und mit Englands Genehmigung unter amerilanifcher Flagge nad Amerifa
führten, konnten Betriebgeinftellungen infolge Farbftoffmangels nicht verhindern.
*) Vgl den Aufiag „Die deutihen Gewerfihaftihaftsorganifationen und der Krieg”
bon Heinrich Göhring in Heft 51, 1914.
Die deutfhe Induftrie im Kriege 7
— — — — »
Ebenſo wie die Kohleninduſtrie treten die Induſtrien der Werkzeug⸗, land⸗
wirtſchaftlichen und Textilmaſchinen, der Kleineiſen- und Stahlwaren, des Schiff⸗
baues uſw. tatkräftig hervor, um ſich den ihnen längft gebührenden Anteil am
Inlandemarkt für dauernde Zeiten zu fihern. Aber auch in der Beſchaffung
jener Artilel, die bisher ungünftiger Bedingungen halber nicht im Inland ber-
geitellt wurden, muß der Augenblid benugt werden, um die deutſche Induſtrie
für immer von der Abhängigfeit vom Auslande zu befreien. Handelt es ſich
um natürlihe Produlte, fo jollen fie durch fünftliche, gleichwertige erfebt werden.
Die prinzipiell gelöfte Aufgabe der ſynthetiſchen Herftellung des Kautſchuls
läßt erwarten, daß die mit 200 Millionen bewertete Einfuhr zum größten Teil
durch inländifche Erzeugnifje erjebt werden fann. Der aus Yapan eingeführte
natürlide Kampfer wird im Inlande in nahezu volllommener Weile auf fyn-
thetiichem Wege erzeugt. Indeſſen müfjen jährlich noch große Mengen Kampfer
eingeführt werden, da bei uns, im Gegenſatz zu England, für die Herftellung
von Arzneien natürliher Kampfer vorgefchrieben tft. Grfolgreicher wird zum
Beifpiel Jute bereitS heute durch Tertilofe, einer Verbindung von Papter- und
Baummollfafer, erfeht.
Überbliden wir noch einmal das Bild, welches die deutfche Induſtrie im
gegenwärtigen. Kriege zeigt, fo offenbart fi uns die überwältigende Kraft, die
in dem deutſchen Wirtfchaftsleben enthalten ift, und die, nunmehr auf einen
Punkt, auf die Sicherftelung unferer nationalen Zukunft gerichtet, unübermindlich
eriheint. So aber mußte es auch fein, foll Deutichland flegreih aus dem
gegenwärtigen Krieg hervorgehen, denn für uns ift die Leiftungsfähigfeit der
heimiſchen Induſtrie von weitaus größerer Bedeutung als bet unferen Feinden.
Während jene ihren Bedarf an Waffen, Munition und den fonftigen Bedarfs-
artifeln im neutralen Ausland, befonders in den Vereinigten Staaten decken
fönnen, find wir in der Verforgung diefer Dinge lediglich auf die eigene
Induſtrie angemwiefen. Für unfere Induftrie iſt daher die Zahl der Feinde
größer als für die Triegführende deutfhe Nation. Diefe bat es nur mit den
erflätten Yeinden zu tun, jene aber hat außer den feindlichen Induſtrien auch
alle an den Feind Tiefernden Induſtrien zu überwinden. Dies gilt vor allem
im Hinblid auf das Verhalten der Vereinigten Staaten, von denen wir wiſſen,
daß ein großer Teil der führenden Induſtrieleiter deutſcher Herkunft find. Das
deutfche Voll aber hat die Pflicht, die Erinnerung an die amerilantfchen, unfere
Feinde begünftigenden Munitionslieferungen für alle Zeiten wach zu erhalten.
Es ſoll zum Schluffe nochmals des deutſchen Außenhandels gedacht werben.
Es ift wahr, er ruht zurzeit fait vollftändig. Aber verloren gebt er unferer
Snduftrie nicht, denn nicht engherziger Krämergeift und das Befcheiden mit
Selegenheitsgefhäften oder zufälligen Augenblidserfolgen haben Deutſchlands
Anteil am Welthandel erobert, fondern rajtlofe Zätigleit, zielficheres fcharf
durhdadtes Vorgehen, eijerner Fleiß und höchſte Muftergültigkeit der auf
den Markt gebrachten Erzeugnifje, waren die Waffen, mit denen Deutfchlands
8 ' ... Die deutfche JInduftrie im Kriege
Handel und Induſtrie am Weltmarkte auftraten. Was hiermit bereitS erreicht
war, wird wieber erreicht und übertroffen werden. Mag England uns getroft
unfere Patente ftehlen; was durch fie geſchützt tft: deutſche Denk- und Erfinder-
arbeit kann es uns nicht entwenden. So berichtet die Statiftil des Kaiferlichen
Patentamtes bereits für die Woche vom 9. bis 14. November von 389 Patent-
anmeldungen, während für normale Zeiten die Zahl 300 als Durchſchnitt
gelten kann. Mögen unfere Feinde immerhin bemüht fein, auf unlauteren
Wegen in den Befib deutſcher Preisliften, Kataloge, Abbildungen und Zeichnungen
von Maſchinen, ja Kundenverzeichnifie zu gelangen; es ift töricht zu glauben,
daß in der Aufregung einiger SKriegsmonate der durch raftlofe Zätigleit
gewonnene VBorfprung der deutſchen Induſtrie eingeholt werden kann. Im
übrigen liegt in allen am Krieg beteiligten Staaten der Außenhandel ebenfalls
derart darnieder, daß tatfächlicd die Vorberfage des „London Cconomift”, der
Krieg werde für England ein ſchweres wirtfchaftliches Unglüd darftellen, ſich
durchaus bewahrbeitet hat. Hält man die heutigen VBerhältniffe in Deutſchland
dagegen, fo tft e8 gerechtfertigt, wenn das deutſche Volk feiner Induſtrie volle
Bewunderung entgegenbringt und auch weitreichende Unterftügung für die von
ihr übernommene große nationale Arbeit.
Ein jeder von uns kann hierbei mit helfen, wir brauchen nur den Weg
zu befchreiten, den uns unfer nationaler Stolz vorfchreibt. Denn es tft unferer
unwäürdig, wenn fi) unjere national begeijterten Männer mit engliſchen Stoffen
Heiden, wenn unfere Frauen und Töchter, deren Gedanken beim lämpfenden
Heere weilen, franzöfifhen Moden buldigen und franzöſiſche Toilettemittel ge-
brauchen, es ift unferer unmwürdig, wenn unfere Brautpaare, außgerüftet mit in
England oder Amerifa erzeugten Handſchuhen vor das Antlit des deutfchen
Gottes treten, wenn die Ausftattungsgegenftände des deutſchen Heims mit
englifden oder amerikaniſchen Werkzeugmafchinen bergeftellt werden; wenn die
Scholle, die das deutſche Volk ernährt, mit bemfelben amerifanifhen Stahl
bearbeitet wird, der die Söhne eben diefer Erde zu Boden ftredt; es ift endlich
unferer unwürdig, wenn die engliſche Stablfeder deutiche8 Denken dem Papier
anvertraut.
Ebenfo wie in ſprachlicher Hinfiht verlangt auch bier die Sauberfeit
vaterländifhen Empfindens eine gründliche Reinigung des beutichen Weſens
und deutſcher Gepflogenheiten. Die Zeit zu biefer Arbeit aber ift gelommen.
Das Eindringen Englands in Agypten
Don Prof. Dr. Gottlob
I.
RE er große Britenhaffer Napoleon der Erſte fol bei feiner erften
Unterhaltung mit dem Gouverneur der Inſel St. Helena gejagt
| gasen Agypten fei dag twichtigfte Land der Erbe. Man barf biefe
— * Korſen betrachten, die auf die Demütigung Englands Binaus-
fefen. Wenn fi Heute, ein ganzes Jahrhundert Später, unfere antienglifchen
Gedanken und Wünfche wieder um das PBharaonenland drehen, fo find immerhin
bemerfenswerte Unterjchiede vorhanden. Napoleon wollte Agypten als Zwifchen-
ftation benugen, um von dort aus gegen die Engländer in Indien vorzugehen.
Heute find die Briten die Herrn im Nillande felbft. Ihre Truppen find zwar
nur zum Zeil Europäer, aber alle find europäifch geichult und europäiſch auß-
gerüftel. Bon dem Maffenheer, das jett in Ägypten aufammengezogen ift, müffen
die Türken alfo wohl ernften Widerftand erwarten, einen nachhaltigeren jedenfalls,
al8 der war, den die Mameluden gegen Napoleon geleiftet Haben. Der Wert
Ägyptens an fi ift gewachlen einmal durch den Suezkanal, fodann auch als
Eingangstor zu dem mittlerweile englifch gewordenen inneren Afrika.
Das Unternehmen Napoleons ift durch die Seeſchlacht bei Abufir gefcheitert,
dadurch, daß Nelfon die franzöfiiche Flotte vernichtete und ihm damit die Ber-
bindung mit der Heimat, den Nachſchub an Truppen und Kriegämaterial verlegte.
Man kann trogdem nicht fagen, daß die Erpedition von 1798 für Frankreich ganz
nutzlos gewejen fei. Im Gegenteill Die franzöfiſche Kultur, franzöfiiche Dentart
und Unternefmungsluft fanden feitdem in Agypten dankbare Aufnahme. Das
Franzöſiſche ift fogar Heute noch im Nillande die beliebtefte Umgangsiprache der
@ebildeten und fogar im Verkehr mit den Behörden zugelaflen; in Boft-, Eijen-
bahn⸗, und Zollſachen fommt man mit Franzöſiſch am eheiten durch. Daß man
von diefer Borzugsftellung des Franzöſiſchen, die iegt allerdingd nad) und nad
die Konkurrenz des Engliſchen auszuhalten hat, in Frankreich auch wirtichaftliche
Borteile Hatte, braucht faum erwähnt zu werden. Hätten die Franzoſen da8
urfprüngliche Übergewicht, das fie im Nillande befaßen, nur richtig ausgenutzt!
10 Das Eindringen Englands in Aegypten
Allerdings Haben ſchon in ben dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts
frangöfifche Offiziere dem Schöpfer des neuen Ägyptens, dem Vizekönig Mehemed
Ali (1811 bis 1848) geholfen, fein Heer auf einen neuzeitlihen Fuß zu bringen,
und aud) einige Verwaltungsverbefjerungen find von Franzoſen eingeführt worden.
Da8 wurde aber gar zu fehr in den Schatten geftellt einmal durch die große
Menge von Schwindlern und Abenteurern, die aus Frankreich berüberfamen, um
fih an den Ufern des Nild zu bereihern, fodann aud durch eine nie geſehene
Verſchwendungsſucht ägyptiſcher Herricher, die fi) Franzoſen in die Hände
gegeben und von diefen dann gründlich außgebeutet wurden.
Agypten ift flaatSrechtlich Heute noch ein Zributärftaat der Türkei. Bon ber
jüngft ausgefprochenen Annerion dürfen wir ja wohl abjehen. Ob fie in Geltung
bleibt, wird der gegenwärtige Krieg entſcheiden. Türkiſch geworden ift dag Nilland
bereit8 im fechzehnten Iahrhundert. Sultan Selim der Erfte bat dag Land 1518
erobert und in eine osmaniſche Provinz vertwandelt; aber aud) als foldje erfreute
es fih immer einer gewiflen Unabhängigkeit. Die Grundlage des gegenwärtigen
Berbältnifies zur Pforte bilden Verträge Mehemed Ali mit dem Sultan von 1840
und ein darauf gegrünbeter German von 1841. Der Wortlaut diejeg Fermans
tehrt feitdem in den Beitallungsurfunden der Vizekönige immer wieder; er wird
gewöhnlih nur in den Sägen abgeändert, die dem Khedive eine erweiterte Be-
fugni8 einräumen follen. Den Zitel „Khedive” führen die ägyptiſchen Herricher
feit dem Jahre 1867; er heißt foviel wie „Herr“ oder „Fürſt“. Das SKhebivat
ift in der Familie Mehemed Alis erblich nah dem Rechte der Erftgeburt. Die
Abgaben werden im Namen de8 Sultans erhoben; es fteht diefem aber von ben
Staatseinfünften nur ein jährlider Zribut von 17160000 Franken zu; die Zivil-
Iifte de SKchedive und feiner Familie beträgt 7280000 Franken. Für das Heer,
das der Vizekönig unterhält, ift die Höchſtgrenze in gewöhnlichen Zeiten 18000
Mann. Dem Sultan obliegt die Vertretung Agyptens nad) außen. Der Khedive
Bat aber feit 1873 das Recht, felbftändig Handelöverträge zu ſchließen. Er fann
ferner Zölle erheben und türkiihe Geldmünzen jchlagen; in feinem Namen wird
Hecht geiprochen, und er befegt die militärifhen und Zivilftellen bis zum Grade
des Bey oder Oberfi. Die Bejegung der höheren Stellen follte verfaffungsmäßig
durch den Sultan geſchehen; tatfächlich Hat aber feit dem Jahre 1882 wenigftens
in der Beſetzung der Militärpoften die englifche Regierung die Befugniſſe des
Sultans an fi) genommen.
Der ägyptiſche RegierungSapparat hat die gewöhnliche europäiſche Einteilung.
Die Regierungsweiſe ift grundfäglich felbftherrlih; man findet aber auch ſchon
Anſätze zum Parlamentarismus. Der „Sefetgebende Rat“ und die „Sejeßgebende
Berfammlung“, die ſich beide mit den allgemeinen Landesangelegenheiten befafien,
lafien ſich als angehende parlamentarifche Körperfchaften bezeichnen. Beide haben
indes nur ein beratende8 Votum; die Regierung ift an ihre Zuftimmung nicht
gebunden. Es drängt fi) übrigens jedem leicht die Beobadtung auf, daß ſich
ber Bildungsftand der Bevölkerung für parlamentarifche8 Leben noch wenig eignet.
Das Land ift jabrhundertelang der alttürfiihen Paſchawirtſchaft unterworfen
gewefen, deren Regierungsweisheit ſich befanntlich in der Dreiheit: &igentums-
beraubung, Frohndienſt und Brügelitrafe erihöpfte. Durch die jahrhundertelange
Mipwirtichaft, die übrigens ſchon lange vor der türfifhen Eroberung angefangen
Das Eindringen Englands in Aegypten 11
bat, ift da8 Boll in allem unluftig und gleichgültig geworden, und in den
berrichenden SKlaffen ift vielfach fittliche Korruption eingerifien. Es fiebt leider
auch nicht danach aus, als ob die jett eindringende europäifhe Kultur in dieſen
Mißſtänden Mangel ſchaffen werde. Bon den im Orient fich aufhaltenden Fremden
find ja die wenigften als Kulturträger tätig oder geeignet.
Man darf bei Erwähnung der Fremden in Agypten nicht bloß an bie
europäifchen Reijenden denten, die bes milden Klimas wegen oder um die groß-
artigen Biftoriihen Denkmäler au befuchen, jedes Jahr in Scharen dorthin
ſtrömen; aud nicht in eriter Linie an diejenigen, die ihren privaten Erwerb im
Pharaonenlande fuchen. Nein, feit den Reformen in der Verwaltung, die namentlid
Mehemed Ali und Ismail Paſcha eingeführt Haben, find in allen Zweigen des
öffentlihen Dienfte8 aud die europälfhen Beamten zahlreih. Ohne biefe
europäiſche Hilfe hätten ſich die Beſſerungen gar nicht durchführen laflen. Welches
Heer von Beamten bat allein ber Suezfanal mit einem Sclage nad) Ägypten
geworfen!
Der Suezlanal ift 1858 bis 1869 gebaut worden. Der Gedanke einer
Waſſerftraße vom Mittelländifhen zum Roten Meere, reicht, foviel wir feben
fönnen, bis in da8 vierzehnte Jahrhundert vor Chriſtus zurüd. Diefer alte Plan betrifft
die Ktanalverbindung vom öftlihen Nilarme durch das Wadi Tumyla zu der
nordweftlihen Bucht des Noten Meered. An dieſem Waſſerwege fol nad den
Forſchungen des Berliner Agyptologen Profeſſors Lepfius ſchon von König
Ramſes dem Zweiten, dem Zeitgenofien des Mofes, gegraben worden fein. Ob
er jemals vollendet und in Gebrauch geweſen ift, davon erfährt man nichts.
ebenfalls ift er fpäter wieder verfandet. Der jekt ausgeführte Kanal läßt den
Nil ganz unbenugt und gebt von dem innerften Winkel des Golfs von Suez faſt
in gerader Linie nah Norden. Bon natürlihen Senfungen liegen nur die
fogenannten Bitterfeen und der weiter nördlich gelegene Kleine Zimfab-See in der
BVaflerftraße, der Menfale - See dagegen wird öftlih umgangen. An den Bor-
arbeiten des Projelt3 find in den vierziger und fünfziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts Ingenieure verjchiedener Nationalität beteiligt geweſen; der eigentliche
Schöpfer bdesfelben war ber Öfterreicher Negrelli, der aber 1858 vor Inangriff-
nahme des Baues geftorben if. Seine Berechnungen, Pläne und Zeichnungen
wurden dann von dem Franzoſen Ferdinand Leflepg erworben. Leſſeps wurde
der Sroßunternehmer, der den Ruhm, Erbauer des Suezkanals zu fein, allein
geerntet Hat. Zur Ausführung des Gedanken? wurde zunächſt eine große
Aktiengejellihaft, die „Compagnie universelle du Canal maritime de Suez“
gebildet, die 1858 mit der Ausgabe ihrer Anteilfcheine zu je 500 Franken begann.
Das Aktienkapital war anfangs auf 200 Deillionen Franken berechnet; e8 wurden
aber tatfächlid mehr als 600 Millionen gebraudt. Mehr als die Hälfte der
urfprünglid; außgegebenen 400000 Altien wurden in Frankreich untergebradt;
nicht ganz fo viel, nämli rund 177000 Aktien, übernahm der Vizekönig Ismail
Paſcha. Schon bei dem Altienverfauf zeigte fich die Mißgunft Englands gegenüber
dem Unternehmen, einmal dadurd, daß ſich das engliihe Kapital der Aufnahme
der Stüde enthiell, — vor dem Anlauf der Aktien wurde amtlich gewarnt —
jodann auch dur Schwierigkeiten, die dem Berlauf der Aktien an den Börfen
bereitet wurden. Dieje Enthaltfamkeit Englands bat big nach der Tertigftellung
12 Das Eindringen Englands in Aegypten
—— m — — — — — — — —— — —
des Kanals angehalten, was um ſo empfindlicher war, als die Bauausführung
mehrmals neue Anleihen nötig machte. So kam es, daß die Aktien zeitweilig
ſogar unter der Hälfte des Nennwertes verkauft wurden. Ja, die Kanalgeſellſchaft
war ſogar noch 1871, alſo bereits nach der Fertigſtellung des Kanals, in größter
Geldklemme. Es Bing das freilich damals auch mit dem deutſch-franzöfſiſchen
Kriege und mit dem großen Geldbedürfnis Frankreichs für unſere Kriegsentſchädigung
gufammen. Später, als die Aktien durch den zunehmenden Schiffsverkehr ſchnell
in die Höhe gingen, da bat England gekauft, und Beute erfreuen fi) die Befiger
der Suezlanalaftien einer ungefähr achtfachen Rente.
Die engliſche Mißgunſt gegenüber der ägyptifhen Waſſerſtraße zeigte fidh
übrigen? nicht bloß auf dem Geldmarkte, fondern fie Hat auch diplomatiich der
Bauausführung Schwierigfeiten bereitet. Im Auftrage des Lord Palmerfton,
der damals das Kabinett von St. James beherrichte, wurde zum Beiſpiel gleich
zu Anfang der Sultan mit der Sorge erfüllt, Agypten möchte durch den Bau des
Kanals in Abhängigkeit von Frankreich geraten. Die dadurch bewirkte abwehrende
Haltung der Pforte konnte nur durch da8 Eingreifen Napoleons des Dritten
mittel8 des Verſprechens, den Waflerweg zu neutralifieren, befeitigt werben.
Ein fernere® Mal ftellten fi) die britiihen DMenfchenfreunde um die Freiheit der
ägyptiihen Stanalarbeiter befümmert. Khedive und Sultan wurden zu verdrießlidhen
Mapregeln veranlaßt, um von Fellachen, Armeniern, Negern ufw. jeden Zwang
fernzuhalten. Nun, der Kanal ift trog al diefer Hindernifie doch in verhältnis-
mäßig furger Zeit fertig geworden. Im Mai 1869 Hatte der Khedive Ismail die
Genugtuung, die europäifchen Höfe befuchen zu dürfen, wobei er die Herricher auf
den Herbſt zur Eröffnungsfeier einlud. Die offizielle Einweihung fand am
17. November unter großen Zeremonien ftatt. Die Kaiſerin Eugenie, der Kaiſer
von OÖfterreih, der Kronprinz von Preußen und andere hohe Herrichaften waren
zugegen.
Uber bie weltwirtichaftlihde Bedeutung bes Suezkanals braudt man fein
Wort zu verlieren. Es genügt der Hinweis, daß es jekt der Hauptwaflerweg
nad) Indien, China, Japan, Oftafrifa und Xuftralien if. Die Zahl der jährlich
paffierenden Schiffe betrug im Jahre 1912 über 5300. Davon waren 3335 englifche,
698 deutfche, 221 franzöfiihe. Die Einnahme aus den Pafjagegebühren beträgt
jest jährlih rund 136 Millionen Franken.
1.
Die Vollendung des Suezkanals war die größte, aber auch die legte große
Tat de Sranzofentums in Agypten. Bon da ab geht es mit dem Einfluß
Frankreichs abwärts. Man Hat das auch als Folge bes beutich - franzöſiſchen
Krieges Hinftellen wollen, und tatſächlich hat die Regierung der Republif nach
1870 nit mehr den Mut gefunden, dem fi immer ftärker geltend machenden
Wettbewerb der Engländer in Agypten energifch entgegenzutreten. Das war aber
ihre eigene Schuld, ihre eigene Blindheit. Die Franzoſen braudten bloß ben von
ihnen geihloffenen Frankfurter Frieden ehrlich anguerfennen, dann hätten fie von
Deutſchland nichts zu fürchten gehabt. Der Beweis dafür liegt in ihrem un-
geftörten Eindringen in Zuniß. |
Das Eindringen Englands in Aegypten 13
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — nn m en
Die engliſche öffentliche Meinung gegenüber dem ägyptiichen Kanal hat ſich
nach der Vollendung desſelben natürlich von der urſprünglichen Mißgunſt ſehr
bald zu dem Verlangen bekehrt, ihn in den eigenen Beſitz zu bringen. Wir
werden ſogleich ſehen, mit wie einfachen Mitteln dies erreicht wurde. Und nicht
bloß der Suezkanal iſt tatſächlich in den engliſchen Machtbereich gekommen, ſondern
auch das ganze Pharaonenland!
Eine erſte offizielle Handhabe, um in Agypten Einfluß zu gewinnen, wurde
den Briten durd) die Geldverlegenheiten Ismail Paſchas geboten. Diefer Herrſcher
Batte Leute, hauptſächlich Franzoſen, um fi), deren moralifche Eigenſchaften weder
ihm jelbft, no dem Lande zum Guten gereichten. Lorb Cromer nennt den
Ismail ſelbſt einen „oberflächlichen Zyniker“, der „jeine Handlungsweiſe ſyſtematiſch
auf der Anſicht begründete, daß fein Menſch ehrlich ſei“'. Ismail Bat in den
erften dreizehn Jahren feiner Regierung, in denen er noch frei über die Staat$-
einkünfte verfügte, die ägyptiſche Schuld von rund 60 Millionen Franken auf
rund zwei Milliarden vermehrt. Er verbraudte im Durchſchnitt jedes Jahr
140 Millionen. Als im Sabre 1875 von dem Engländer Mr. Cave eine Rechnungs⸗
überfiht über die Jahre 1864 bis 1875 gemacht wurbe, ergab fi) erftens, daß
die Sefamteinnahme um rund 60 Millionen geringer war, als die berechtigten
und unberedtigten Ausgaben; zweitens, daß der vorhandenen großen Berfchuldung
außer dem Suezlanal feine neuen pofiven Werte gegenüberftanden. An dem
Kanal war Agypten mit rund 83 Millionen Franken beteiligt; drittens ging aus
der Rechnung bervor, daß dag ganze Ergebnig der ägyptiſchen Anleihen und der
fhwebenden Schuld zur Zahlung der Zinſen und Amortifationen aufgebraucht
wurde. Mit anderen Worten: Agypten ftand damals unmittelbar vor dem Staats-
banterott. Der Khedive felbit juchte fich noch zu reiten, indem er plöglich feinen
geſamten Beſitz an Suezaltien zum Berfauf ſtellte. Loyalerweiſe bot er fie zuerft
Sranfreih zum Kauf an, dann aber, ald die Regierung der Republit noch zögerte
zuzugreifen, England. Disraeli nahm fih nicht einmal die Zeit, erft ben
Minifterrat zu befragen, fondern war fofort bereit und gab dem Londoner Bank⸗
baufe Rotbichild unverzüglid Anweifung, dem in Not befindlichen Ismail vier
Millionen Pfund vorzuftreden. Die einzelne Altie, die jett über 4000 Franken
foftet, wurde in dem Berlaufsgefhäft zu 568 Franken bewertet. Gegenüber der
ungeheuren Schuldenlaft war der Erlös natürlih bei weiten nicht genügend,
fondern der drohende Krach trat im Frühjahr 1876 ein, indem der Khedive die
Einlöfung feiner Schatzamtsſcheine einftellte.
* *
*
Bon den Reformen, die in den Jahren 1876 big 1882, daß beißt bis zum
Übergang des Landes in das vorläufige Patronat von England, in Agypten
eingeführt wurden, will id) nur die Hauptfädhlichfien nennen. Das erfte war bie
Einjegung einer Kontrolmiffion für die Verwaltung der öffentliden Schulden.
Die Berordnung des Khedive darüber datiert vom 7. Mai 1876. Die Kommilion
beftand in der Reihenfolge ihrer Ernennung aus einem Franzoſen, einem Oſter⸗
teiher, einem Italiener und einem Engländer. Der Engländer, Lord Cromer,
wurbe erft zu Anfang 1877 ernannt, weil Lord Derby, der ehemalige Minifter
des Auswärtigen, einen offiziellen Vorſchlag, wie er von den drei anderen
14 Das Eindringen Englands in Aegypten
Regierungen gefchehen, abgelehnt Hatte. Die Ernennung Eromerd geſchah nur
auf privaten Vorſchlag Hin. Solange, als andere Regierungen noch mitredeten,
hütete fi England vor jeder offiziellen Vertretung im Schoße der fhedivialen
Regierung. Das Kabinett von St. James wollte freie Sand behalten und ver-
handelte alfo mit Ägypten gleichfam nur von außen, nur durch Vermittlung des
englifhen Generalfonfuls in Kairo; es wollte nicht durch eigene Mitwirkung am
Zuftandefommen ägyptifher Beichlüfle diefen gegenüber gebunden fein. Dabei
war es gewohnt, daß feine Konnationalen Ihon von felbft im Sinne ihrer
beimifhen Regierung Banbelten, und England war zugleich willeng, jeden Beſchluß
der ihm unbequem war, in ber Ausführung zu hindern. Auf dieſe Weiſe durften
die Briten am ebeiten Hoffen, in allem ihren Willen durchzuſetzen. Jedenfalls
gelang ihnen da8 gleich bei der Schuldenkontrollmiffion. Diefe hatte die geſamte
Schuld Ägyptens auf 91 Millionen Pfund berechnet und biefelbe fogar ſchon
dur) Berordnung be Khediven zu diefer Summe konſolidieren laffen. Damit
war aber England unzufrieden. England wollte, daß gewiffe ältere Anleihen von
der unifizierten Berechnung außgefchloffen und einem befonderen Zinfendienft vor-
behalten würben. Nach langen Berbandlungen mußte die Kommiffion zufrieden
fein, daß noch neben ihr ein Engländer und ein Franzoſe als Vertreter nicht der
Regierungen, fondern ber Gläubiger, der Obligationeninhaber, ernannt wurden,
und dieſe ftellten dann eine neue Berechnung auf, und fo wurde bie unifizierte
Schuld auf 59 Millionen Pfund bHerabgefegt; der Staatshaushalt wurde aller-
dings durch die abgetrennten Einfommenverwaltungen und Sinfendienfte wieder
verwidelter und weniger überfihtlih. Dafür Hatte aber England ein Heilmittel,
dad fowiefo, wenn die ägyptifhen Finanzen in Orbnung gebradt und in
Ordnung gehalten werden follten, nicht zu umgehen war. Auf Vorſchlag des
Lord Goſchen wurde nämlich kurz darauf ein oberfter Rechnungshof eingerichtet
und natürlih ausſchließlich mit Engländern befegt. Das ägyptiſche Rechnungs-
weſen ift feitdem immer in britifchen Händen geblieben. In der unfdeinbaren
Maste einer bloßen Rechnungsbehörde erreichte England erftens, daß es allein
den ganzen und vollen Einblid in die ägyptiſchen Sinanzen Halte, ſodann dehnte
es damit indirekt ſchon 1876 feinen Einfluß auch auf die allgemeine Qandesver-
waltung aus. Der Einfluß auf die allgemeine Landesverwaltung war überhaupt
das Biel, da8 bie Engländer ſich fegten, nachdem die Schuldfontrolle eingerichtet
war. Demjelben Ziele diente auch ber Vorfchlag einer Unterfuchung des gefamten
ftaatlihen Einfünfte- und Ausgabewefend. Da Ismail PBafcha Hinter diefem
Vorſchlage ſchon die fünftige Beichränfung feiner abfoluten Machtvollkommenheiten
witterte, jo fträubte er fic) Tarıge dagegen. Die Engländer nahmen aber, um ihre Forde⸗
rung durchzuſetzen, die anderen Mächte zu Hilfe, und fo mußte der Sthedive nachgeben
und im April 1878 die betreffenden Vollmachten erteilen. Um ben guten Schein zu
wahren, wurben die vierSfommifiare bei ber Schuldenverwaltung zu Ditgliedern und
außerdem Ferdinand Leſſeps zum Borfigenden und ein weiterer Franzoſe zum Sefretär
der Unterſuchungskommiſfion ernannt. Leſſeps hat aber an den Verhandlungen gar
nicht teilgenommen, fondern ber eigentliche Leiter derfelben war der Bizepräfibent
Sir Rivers Wilſon, und als den tatfächlichen spiritus rector lernen wir Lord
Cromer fennen. Die Zuftände, die durch die Unterfuchung aufgededt wurden,
fann ih im einzelnen nicht fchildern. Das zufammenfaflende Ergebnis war,
Das Eindringen Englands in Aegypten 15
daß bie beftehende ägyptiſche Verwaltung fih um Geſetze und allgemeine Ber-
ordnnungen nicht fümmerte. Die Beamten Tannten die Gefege ebenjowenig wie
die Untertanen. Neue Steuern, alte Steuern wurden durdeinander erhoben und
in ihren Beträgen vermehrt ober verändert, wie es höheren Ort8 gerade paßte.
Der Dorficheif führte einfach die Befehle des Mudir aus, und der Mudir handelte,
je nachdem der Befehl von oben lautete. Der „höhere Befehl”, der gewöhnlich
gar nur mündlich erteilt wurde, bildete das einzige Geſetz, und fein Menſch wagte
dagegen zu proteftieren. Und wie die die Methoden der Einziehung der Steuern
ungeleglih waren, fo war auch die Verfchwendung in den Ausgaben an feine
Regel gebunden. Aud Hier galt nur der „höhere Befehl”, und bie jchlimmiten,
bie Eoftipieligften Befehle famen gewöhnlich vom Sthedive felbit, oder wenigftens
aus feiner Umgebung. Ich kann leider auch hier auf Einzelheiten nicht eingehen,
obihon oft recht ergögliche Bolten in der Staatsrechnung begegnen. Übrigens
ift nicht einmal bei.allen Ausgaben der Zweck angegeben, fondern e8 fteht dann
einfach Hinter dem betreffenden Poſten: „on n’a pas pu rendre compte.“
Die Lehren, die aus der Unterfuhung gezogen wurden, lafien fih in die
brei Forderungen zufammenfaflen: Beſchränkung der Autorität des Sthedive, Auß-
ſcheidung einer Zivillifte und Einführung der Minifterverantwortlichleit. Natürlich
bat fi) Ismail Paſcha lange dagegen gefträubt; aber endlich Hat er doch nadj-
gegeben. 9a, er war fogar zufrieden, daß feine Privatgüter in Die ftaatliche
Kontrolle famen und daß ein Armenier, Nubar Paſcha, mit der Bildung eines
verantwortlihen Miniſteriums betraut wurde. Der Engländer River Bilfon
wurde zum Finanzminifter und ber Franzoſe de Bligniere8 zum Minifter der
öffentlichen Arbeiten ernannt. Die Praxis des Fonftitutionellen Eyſtems gefiel
dem Khedive natürlich gar nit. Infolgedefien begann er fchon bald gegen fein
eigenes Deinifterium an intrigieren. Er bewirkte im Sabre 1879 eine Militär-
revolte, jo daß da8 Minifterium Nubar Paſcha zurüdtreten mußte. Da der
Khedive Ismail Paſcha nun zu dem alten abfolutiftiichen Regierungsſyſtem zurüd-
fehren wollte, und er außerdem Miene machte, feine Armee auf 150000 Mann
zu verftärfen, fo gelang e8 England verhältnismäßig leicht, die Großmächte von
der Notwendigleit der Abfegung des Khedive zu überzeugen. Frankreich und
Stalien gingen darin zwar nur miderwillig mit, da fie von ber Entfernung
Ismails die Minderung ihres Einfluſſes fürdteten. Um aber da8 Wiederaufleben
der türfifchen Obmadjtftellung in Agyten, die England ihnen androhte, gu ver-
meiden, gaben fie endlich nah, wie auf ber anderen Seite auch der Sultan e8
borzog, daß der Regierungswechſel in Kairo wenigſtens fcheinbar von ihm, anftatt
von England und Frankreich ausging. So wurde aljo Ismail am 26. Juni 1879
abgejegt, und fein englandfreundlider Sohn Tewfik beftieg den fhedivialen Thron.
Die Bevöllerung von Kairo und Umgebung erbielt erft Kenntniß von der Ber-
änderung, als die Kanonen der Zitadelle den neuen Herricher begrüßten. |
Tewfit Paſcha Hat von 1879 big 1892 regiert. Wie fehr er die Zufriedenheit
Englands gefunden, erfieht man aus dem Berichte Lord Eromerd, der von ihm
fagt, er Habe zwar feine rechtmäßigen Vorrechte behauptet, aber vermöge einer
„natürlihen Neigung zum Konſtitutionalismus“ nur „dur und mit feinem
Minifterrat regiert“. Im diefem Winifterrat Temwfil8 Batten die Europäer nur
tonfultative Befugniffe. England und Frankreich wurden wieder zwei ®eneral-
16 Das Eindringen Englands in Aegypten
tontrolleure zugeftanden mit beratender Stimme im Minifterrat. Ihre Stellung
war von der früheren unter Ismail Paſcha infofern verfchieden, als beide Beneral-
fontrolleure offiziell von ihrer heimischen Regierung ernannt waren und aud),
ohne Zuftimmung ihrer Regierungen, nit entlaffen werden fonnten. Ihre
Sendung war alfo von jet an eine politifche, wobei jedoch zu bemerken ift, daß
die ſpezifiſch politiſchen Geſchäfte, will fagen die Angelegenheiten, in die fidh Die
auswärtigen Mächte mifchten, nach wie vor dur die Hände der Generaltonfuln
gingen. Der britiihe Generalfonful wurde fogar jegt mehr noch als früher bie
wichtigfte regierende Stelle de8 Landes. Die Unterfuhungstommiffion über Die
Zanbesverwaltung wurde im Sabre 1880 zugleich als Liquidationstommilfion
eingelegt mit der Vollmacht, die Finanzlage in Ordnung zu bringen. An ber
Spike derfelben ftand Sir Rivers Wilſon; nebenbei bemerkt erhielt auch Deutich-
land jett einen Bertreter in der Perſon eine Herrn von Tresdow. Die beiden
®eneralfontrolleure waren ber Franzoſe de Blignieres ſeitens Englands erft
Lord Eromer, dann feit Juni 1880 Lord Eolpin.
So ſchien alfo die Regierung Tewfiks aufs befte eingerichtet zu fein. Dap
der neue Herrſcher aber nicht auf Rofen gebettet war, dafür forgte ſchon die gegen-
feitige Eiferfucht der beiden Weſtmächte. Über die Abfiht Englands, fi im
Killande feitzufegen, Hatte den Franzoſen wohl die Belegung der Inſel Cypern
bereit3 im Sabre 1878, unmittelbar nach dem Berliner Kongreß, zuerft die Augen
geöffnet. Dan hatte zwar damals verlauten lafien, durch dieſe Befegung jolle
nur ein Drud auf Petersburg ausgeübt werden; die Okkupation fei nur borüber-
gehend. Rußland follte gewiſſe Punkte im Kaukaſus, die e8 in dem foeben
beendeten Kriege mit der Türkei in Befig genommen, an ben Sultan zurüd-
fielen. Das war aber nur ein Borwand gemwefen, eine Ablenfung der Auf-
merlfamfeit vom eigentlichen Ziele. Die Belegung der Infel galt in erfler Linie
dem Suezlanal und den Nilmündungen, daneben vielleiht auch noch den Abfichten
Rußlands auf Armenien. Cypern befindet fi) befanntlich Heute noch in englifchen
Händen.
Keben Häleleien und Berftimmungen der Diplomaten machte fi) bald nad)
der Thronbeiteigung Tewfiks auch unter den ägyptiſchen Notabeln und beſonders
auch bei den Militärd wieder Unzufriedenheit geltend. Das lektere Bing, ab-
geſehen von nationaliftiihen Beftrebungen, zum Teil mit rüdftändigen Sold⸗
zahlungen zufammen; in der Sauptfache aber Hatte die Enilafjung einiger taufend
Offiziere viel böjes Blut gemacht. Auf den Rat Englands bin hatte der Khedive
ſeine Zruppenzahl auf 4000 Mann berabgejegt. Die ägyptifche Streitmacht follte
nad dem Willen der engliihen StaatSmänner bloß ben Zwed einer Polizeitruppe
baben. Es gab nun bereit am 1. Februar 1881 wieder. eine Meuterei, die zur
Entlaffung des Kriegsminiſters führte. Die Aufftandsbewegung wurde zwar ver-
bältnismäßig leicht unterdrüdt; fie hatte aber auf der einen Seite die böfe Yolge,
daß fie den Offizieren ihre Stärke zeigte; auf der andern legte fie den Gegenſatz
zwiſchen England und Frankreich offen. Der franzöſiſche Generalfonful Baron
de Ring batte nämlich die Unzufriedenheit geihürt, da ihm daran gelegen war,
da8 ganze englandfreundlide Minifterium zu ſtürzen. Diefer Wunſch ift ihm
freilich nit in Erfüllung gegangen. Im Gegenteill Das Winifterium blieb
und de Ring felbft murde von Parig aus auf die Beichwerbe des Khedive Bin
Das Eindringen Englands in Aegypten 17
von feinem Poften entboben. &8 ließ fi) aber erwarten, daß da8 Einvernehmen
ber beiden Weſtmächte überhaupt nicht mehr lange dauern werde.
i Die weitere Entwidiung ber Dinge in Agypien erhielt ihren mäcdhtigften
Antrieb durch den Infanterieoberſten Achmed Arabi, einen‘ Eingeborenen des
Landes von fellahifher Abftammung. Arabi Hatte fich ſchon bei der Militär-
revolte vom Februar 1881 bervorgetan. Er war damals ohne befondere Strafe
dapongelommen. Einen noch befleren Erfolg Hatte er bei einer zweiten Meuterei
im September besfelben Jahres. Zwar fcheint die unmittelbare Beranlaffung
dazu eine unpolitifche Angelegenheit gewejen zu fein, nämlich die Verlegung von
Arabis Regiment von Kairo nad) Alerandrien. Da er und feine Offigiere aber
dahinter Rachepläne des Khedive witterten, fo gelang es ihnen, der Sache eine
größere Bedeutung zu verleihen und die nationaliftiih gefinnten Militärs dafür
zu intereifieren. Die Meuterer verlangten nun vom Bizelönige unter anderem
"die Anderung bes Minifteriums und die Bermehrung der Armee auf 18000 Mann.
Die erfte Forderung wurde ihnen fofort bewilligt, die ameite nad einiger Zeit,
und fo ergab fi) aus der ganzen Sadjlage, daß der eigentliche Herricher des
Landes nicht ber Khedive war, fondern ber Oberft Arabi oder, wie ihn eine
Lokalzeitung, das Organ der Nrabiitenpartei, ſchon damals nannte, „ber erlaudhte
und edelmütige Emir, Seine Exzellenz Achmed Bey Arabi.“ Diejer benahm ſich
auch in feinem öffentliden Auftreten und fogar in Anfpraden an das Volk als
der Verfechter der Unabhängigkeit des Landes. _
Der Plan Arabis war, die Türkei zum Einfchreiten in Agypien zu veran-
lofjien und mit ihrer Hilfe die Europäer zu vertreiben. Zu dem Ende wandte er
ih zunächſt an die Pforte mit der Bitte, Kommiffare nad) Kairo zu ſchicken und
im Intereſſe der öffentlihen Ordnung ihre Oberboheit geltend zu maden. Die
beiden Weſtmächte gingen zwar gegerüber dem Gedanken einer türkiſchen Snter-
vention in Agypten in ihren Anfihten auseinander: Syranfreih war dem Plane
mit Rüdfiht auf Algier und Tunis ganz entgegen; England Hätte die Büttel-
bienfte der Pforte gern benugt ; e8 traute ſich wohl zu, die Türken auf diplomatiſchem
Wege in den von ihm gewünſchten Schranken zu halten. Ihm war die Haupt-
fache, Frankreichs Anſprüche an Agypten nit mehr wachfen zu lafien; deshalb
zeigte es fich einer gemeinfamen Zriegerifhen Aktion abgeneigt, Dagegen .follten
die Diplomatifhen Bemühungen ber Sranzofen, auch wenn fie den Einmilchung$-
gelüften ber Pforte entgegentraten, von England unterfügt werden. Als Zeichen
der auf Grundlage diefer Verftändigung bergeftellten äußeren Einigkeit darf man
die Entfendung von Kriegsſchiffen betrachten, die von beiden Mächten zum Yrüb-
jahr 1882 berichtet wird, und der das diplomatifhe Mäntelhen umgehangen
wurbe, man wolle den Khedive vor ungeredhtem Zwange ſchützen.
Unterbefien war der Einfluß Arabi-Bey8 in Kairo noch weiter gewachſen,
„Da man e8 für befier hielt, daß er zur Regierung gehöre, als daß er außerhalb
flänbe,“ wurde er Anfang Ianuar 1882 zum Unterftantsfefretär im Kriegsminifterium
und bald darauf, bei einem Wechſel des Gejamtminifteriums, zum Kriegäminifter
felöft ernannt. Er benugte diefe Stellung einmal dazu, die türkiſchen Sugeränitäts-
rechte weiter zu beleben. und zu ftärken; fodann nahm er aud) den Engländern
und Sranzofen wichtige StaatSpoften ab und ließ mande von ihnen fogar wegen
LZandesverrat3 oder Untreue vor Gericht ſtellen.
Grenzösten II 1915 | | 2
18 Das Eindringen Englands in Aegypten
——...
— — —
Lord Granville hatte in Konſtantinopel wiederholt erklären laſſen, England
beabſichtige in Agypten nichts weiter, als die Hohheitsrechte der Türkei und bie
Autorität des Khedive aufrecht zu erhalten. Als aber der Sultan auf den durch
Arabis Vorgehen verurſachten Lärm hin ſeinerſeits Kriegsſchiffe nach Alexandrien
ſchicken wollte, trat ihm auf Frankreichs Wunſch England entgegen und
richtete die Aufforderung an die Pforte, fi) jeder Einmiſchung zu enthalten. Die
ſchon unter Segel gegangene türkiihe Ylotte mußte unfreiwilligen Aufenthalt in
Creta nehmen. Um fo mehr waren nun die ägyptiſchen Nationalen zum Wider-
ftande entichloffen. Die Generalfonjule von England und Yranfreich Hatten am
25. Mai 1882 in Kairo das Verlangen geitellt, daß Arabi und zwei andere
Minifter von der Negierung entfernt und auf unbeftimmte Zeit in da8 Innere
des Landes verfhidt wurden. Der Khedive Hatte die Note angenommen. Da
jedoch daraufhin ſämtliche Minifter ihre Entlaffung nahmen und die Armee
ungzweibeutig zu erfennen gab, daß fie auf Arabi3 Seite ftand, fo mußte Tewfik
biefen fofort zurüdrufen und ihm eine Art Diktatur übertragen. Arabi wollte
den Spieß nun umfehren; er forderte offen die Abfekung des Khedive. Darob
großes Entjeßen und „Iegitime” Entrüftung bei den Briten und ihren franzöfifchen
Zrabanten. Um den „Einfluß der Zivilifation zu retten“, follte jegt fogar bie
foeben noch lahm gelegte Zürfei gegen die Anhänger der Militärpartei vorgeben.
Am 31. Mai trat auf Einladung der Weſtmächte eine Gefandtentonferenz in
Konftantinopel zufammen. Mit Rüdfiht auf dieſe, das beißt, um fie möglichft
bald wieder 108 zu werden, ließ fi der Sultan zur Entfendung eine neuen
Kommiflard nah Kairo beitimmen. Sa, er fandte fogar zwei, den einen offen,
den anderen heimlich, und beide Hatten entgegengejegte Inſtruktionen. Derwiſch
Baia, dem der Befehl geworden war, ben Arabi-Bey und die widtigiten
feiner Anhänger zu verbaften und nad Stonftantinopel zu fchiden, kam in Kairo
am 7. Juni an. Pier Tage fpäter brach die Revolution in Xlerandrien aus,
Ein halbes Hundert Europäer wurden ermordet, viele andere verwundet, unter
ben letteren auch der engliſche und der griehifhe Konful. Das franzöfiidh-
engliſche Geſchwader hätte das Maſſakre verhindern können und, man follte
meinen, auch verhindern müflen. Da England aber darauf fann, die franzöfifhe
Konkurrenz abzufchütteln, zauderte e8 vor einer gemeinfamen Handlung, Frank⸗
reih aber war gleichzeitig mit engliiher Erlaubnis, richtiger Ermunterung, auch
in Tunis engagiert und batte dadurch ſchon Italien vor den Kopf geftoßen,
Stalien, da8 foeben, am 20. Mai 1882, Mitglied des Dreibunds geworben war;
deshalb wagte Frankreich nicht, allein vorzugehen.
Der franzöſiſche Minifterpräfident Batte zur Beruhigung der Abgeordneten
noh am 1. Juni da8 Zufammengeden Frankreichs mit England gefeiert; dieſes
Zufammenarbeiten werde große Folgen zeitigen. Gerade vierzehn Tage fpäter
ertönte aber nun von 2ondon ber ein anderes Lied. England hielt e8 im Ber-
trauen auf die Lähmung Frankreichs nicht mehr für nötig, feine wahre Gefinnung
au verbergen. Bei Beiprechung der ägyptifhen Vorgänge im Unterhaufe wurbe
die Untätigfeit der englifchen ‘Flotte getadelt und von Lord Salisbury die Freiheit
zu bandeln gefordert. England müfje das Hecht haben, das Ziel feiner Politik
allein zu erreihen. Lord Granville verficherte, daß diefe Freiheit beftehe; ber
Admiral Seymour könne Bandeln, wann e8 ihm beliebe. — Demgemäß verfuhr
Das Eindringen Englands in Aegypten 19
— —
I.
denn auch ber Abmiral. Als er ſah, dab die Revolutionäre in Alerandrien mit
Eifer rülteten und ringe um die Stadt Befeftigungen anlegten, forderte er am
9. Juli die Übergabe der Forts. Am 10. drohte er da8 Bombarbement an, das
dann auch in den folgenden Tagen zur Ausführung fam. Die Ägypter antworteten,
aber ihre Kanonen trugen nicht weit genug; u Geſchofſe erreichten nicht die
feindlichen Schiffe.
Inmitten der Aufregung ließ ſich die neue engliihe Melodie von der Un-
abbängigkeit de Handelns ſchon deutlicher vernehmen. Die Konferenz in Kon⸗
ftantinopel hatte am 15. Juli eine Note an den Sultan beichlofien mit der Auf-
forderung, Agypten militärifch zu befegen und die Regierung des Khedive iwieder-
berauftellen. Der Sultan war dazu bereit, verlangte aber vorher die Zurüdziehung
der englifhen Streitkräfte. Die Antwort gab die öffiziöfe Times. Sie be-
mängelte den Gedanken einer türkiſchen Intervention und brachte jegt zum erften
Male die Idee des engliihen Proteftorat8 vor. — Mittlerweile Batten auch
die Seymourfhen Kanonen ſchon ihr Werk getan. Am 17. Zuli hißte Arabi
auf den Feſtungswerken von Alerandrien die weiße Fahne und zog fi) mit
700 Mann zurüd. Vorher hatte er die Gefängniffe öffnen laflen und den
Sträflingen die Freiheit gegeben. Die Stadt brannte, die Europäer wurden
maflafriert, die Häufer der Befigenden geplündert. Alerandrien drohte ein einziger
Trümmerhaufen zu werden. Mit Hilfe von gelandeten deutſchen (1) und
amerikaniſchen Matrojen gelang e8 den angreifenden Engländern, in die brennenden
Straßen einzudringen, den gefangenen Sthedive zu befreien und dem Brande und
der Blünderung Einhalt zu: tun.
Auch das franzöſiſche Hofpital war zerftört, das franzöfifhe Konſulat ein-
geäfchert worden. Wie verhielt ſich denn aber die franzöfiiche Flotte während
der Ereignifie? Als da8 Unmelter fi zuſammenzog, die Verwicklung mit den
Arabiften ernft zu werden drohte, Tagen die franzöfiſchen Schiffe gemäß Weifungen
aus Paris in Port Said vor Anker. Am 10. Juli aber, als der englifche Admiral
für den folgenden Zag das Bombardement von Alerandrien verkündigte, verließ
der Admiral Konrad den ägyptifhen Schauplag, und damit bat Frankreich das
Spiel definitiv verloren gegeben.
In bezug auf die trage, wie die Abftinenzpolitit Frankreichs entſtanden ift,
will Lord Cromer feine Leſer glauben machen, es fei hauptſächlich das Mißtrauen
gegen Deutſchland geweſen. Er zitiert alle möglichen liebenswürdigen Phraſen,
die franzöfiſche Miniſter engliſchen Staatsmännern geſagt oder geſchrieben haben,
um zu beweiſen, daß von Verſtimmung oder Mißtrauen gegen England keine
Rede geweſen ſei; und England hat natürlich auch kein ſolches Mißtrauen ver⸗
dient! Aus den franzöſiſchen Parlamenisberichten jener Tage gebt unzweifel⸗
baft Bervor, daß dag Mißtrauen gegen England mindefteng gerade fo groß
wie gegen Deutihland gewefen if. In der Debatte vom 19. Juli über
den von Freycinet verlangten Flottenkredit fchieden fi die Anfchauungen nad)
der allgemeinen Barteiftellung. Die Opportuniften mit Sambetta an ber Spige
fpraden lädjerlicherweile auch da noch für das Zufammengehen mit England;
&lemenceau, der Führer der Radikalen, ſprach für die Abſtinenzpolitik und be-
gründete das mit chaupiniftifhen Verdächtigungen Deutichlande. Dem Mißtrauen
gegen England Hat den bezeichnenditen Ausdrud ein Vertreter der orleaniftifchen
2*
20 Das Eindringen Englands in Aegypten
Rechten im Senate gegeben. Der Herzog von Broglie erinnerte nämlich an einen
Ausſpruch des Fürften Metternich, der jedes Bündnis mit England dem Bündnis
zwiſchen Reiter und Pferd verglih: „Ein ſolches Bündnis ift eine ſchöne Sache;
man muß nur forgen, daß man der Reiter und nicht dag Pferd ift.“ Ich denke,
die tatfächlihe Entwidlung bat dem Herzog von Broglie recht gegeben, und fie
gibt ihm noch jeden Zag recht; die Behauptung von den böfen NAbfichten
Deutſchlands ift, abgefehen von Tunis, durch den jabrzebntelangen Frieden
widerlegt, den Deutihland trotz täglih fich mebrender Provofationen ge-
halten bat. |
Doch wir kehren auf den Schaupla& der ägyptiſchen Handlung zurüd. Nach
der Einnahme von Wlerandrien verjuchte daß englifhe Meinifterium des Aus»
wärtigen für die Eroberung des übrigen Landes zuerſt frembe Hilfe zu gewinnen.
Die Briten batten den SItalienern oder Türken die Ehre zugedacht, für daß eng-
liſche Intereſſe zu bluten. Da beide Regierungen dankend ablehnten, entſchloß
man fi, einige 30000 Dann englifhe und indiſche Truppen nach Agypten zu
werfen und vor allem den Kanal zu fihern. Oberfommanbierender wurde Sir
Garnet Wolſeley. Bereits am 2. Auguft wurde Suez befekt. In der Nacht
vom 19. auf den 20. Auguft landeten die Engländer in Bort Said, nahmen die
Berwaltungsgebäude der franzöfiihen Kanalgeſellſchaft in Beichlag und Ichlofien
zeitweilig den Durchgang für die fremde Schiffahrt.
Arabi-Bey Hatte ſich von Alerandrien aus nad) Often gewandt. Die vers
folgenden Engländer gewannen Yühlung mit ihm am 25. Auguft bei dem
Zrümmerfelde des alten Ramſes. Am 5. September erklärte ihn der Khebive
nad den Willen Englands zum „Rebellen“. Am 13. wurde er bei Tell-el-Rebir
von Wolſeley entſcheidend geſchlagen und eine Abteilung engliſcher Dragoner zog
bereit8 am folgenden Tage, ohne den geringften Wiberftand zu finden, triumpbierend
in Kairo ein.
Arabi und feine Truppenführer ftellten fi) als Gefangene. Sie wurden
gemäß englifhen Weifungen von dem dafür eingefegten Kriegsgericht zum Tode
verurteilt und im unmittelbaren Anſchluß daran zu ewiger Verbannung be-
gnadigt. Als Aufenthaltsort wurde Arabi nachher Ceylon angewieſen;
20 Jahre fpäter erhielt er dann die Erlaubnis, nad) Ägypten zurückzukehren.
Etwa anderthalb Hundert andere Berbannte wurden fon am 1. Januar
1883 begnadigt.
So war alfo dag britifhe Kommando tatfächlich Herr von Agypten, England
im Befig des alten Pharaonenlandes. Ein übermwältigendes Ereignis! Ich denke
dabei nicht fo ſehr an die große geſchichtliche Vergangenheit bes Nillandes, als
vielmehr an feine Wichtigkeit für die Vollendung der britifchen Weltherrſchaft.
England verdantte feinen Erfolg: erſtens der richtigen Einfchägung der von ihm zur
Sründung feiner Herrfhaft angewandten Mittel in bezug auf Wirkſamkeit unb
Genügen; zweitend dem ftändigen Zujammenarbeiten feiner Regierung und
Diplomaten mit den englifch-ägyptifchen Beamten, auch wenn biefe in feinem
offiziellen Verhältnis zur Heimat ftanden; drittens der Einheitlichfeit und Stand⸗
haftigkeit feiner Politit troß eventueller heimifcher Regierungswechſel.
Diefe Säge gelten aud für die weitere Entwidlung der Dinge im
Nillande.
Das Eindringen Englands in Aegypten 21
II.
Es war ganz ſelbſtverſtändlich, daß England ſich auf längere Zeit in Agypten
einridtete. Um dieſe bittere Pille anderen zu verfüßen und zumal die Sranzofen
zu beſchwichtigen, wurbe nun von den englifchen StaatSmännern eine jahrzehnte-
lang durchgeführte politiihe Heuchelei in Szene gelegt, die ohne Beifpiel in ber
Weltgeſchichte ift und fo recht zeigt, was man von den Berfiherungen englifher Staat8-
männer zu Balten bat. England follte an ber Beſetzung Agypiens, wenigftens
an der Beſitznahme des Innern, ganz unintereffiert fein; e8 babe das Land, fo
hieß e8, nur aus Sorge für das allgemeine Befte, aus Beforgtheit um die
Europäer offupiert und e8 halte bie Befegung fernerhin nur aus Mitleid für die
armen Fellachen aufredit, fein Wunfch fei aber, das Land möglichft bald wieder
au verlafien. Sowiefo wollten die Briten in Agypten beileibe nicht die Herren,
fondern nur politiſche Ratgeber fpielen. Schon in dem Rundfchreiben, das Lord
Granville einige Monate nad) der Niederwerfung des Arabi - Aufftandes, am
3. Sanuar 1883, an die Mächte richtete, find alle dieſe Ausreden enthalten.
„Obwohl gegenwärtig“ — beißt e8 darin — „eine Macht in Agypten bleibt, um
die öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten, fo wünfcht Ihrer Majeftät Aegierung
doch, fie zurüdgugieben, fobald der Zuftand des Landes und die Organifation
geeigneter Mittel zur Aufrechterhaltung ber Autorität des Khedive es geftatten.
In der Zwijchenzeit legt die Stellung, in der fi Ihrer Majeftät Regierung Seiner
Hoheit (dem Khedive) gegenüber befindet, ihr die Verpflichtung auf, ihren Rat in
Sinfiht darauf zu erteilen, daß die einzurichtende Ordnung der Dinge auch ficher
einen azufriedenftellenden Charakter und bie Elemente der Beftändigkeit und bes
Fortſchritts erhält.” In diefer und ähnlicher Sprade find alle diplomatischen
Berlautbarungen Englands feit 1883 gehalten.
Ich will nod bemerken, daß aud) Lorb Eromer in feinem berüßmten,
diplomatifch ſehr vorfichtig geichriebenen Werke, das 1908 erſchienen ift (e8 gibt
auch eine beutfhe Überfegung davon von Kontreabmiral Plüddemann), ich fage,
daß auch Lord Eromer 1908 noch ſich bemüht, jenen gleißnerifhen Tugendmantel
feftzubalten.. Heute, nad) der Annerionderklärung, ift diefe Seuchelet nun über-
flüffig geworden und nicht mehr gut möglich.
Was England nad) dem Erfolge feiner Waffen in Wirklichkeit und an erfter
Stelle in Ägypten erftrebte, das war die volle Gewalt über daß Heer, über bie
ägyptifhe Armee, und ferner die Alleinherrfhaft im Gebiete der Politik und
Berwaltung. Die Berfügung über das Heer wurde ziemlich mühelos erreicht
erften® durch eine ftarle Beſetzung des ägyptiſchen Striegsminifteriums mit
engliidem Militär: von achtzehn Stellen wurden zwölf mit Engländern befekt;
fodann durch eine alsbald in Angriff genommene Neuformation des ägyptifchen
Zruppenfontingents, durch Nteuaufftellung der Rekrutierung ufw. Der Generalftab
der ägyptiſchen Armee befteht feitdem aus Engländern und Agyptern. Sranzofen
find bloß noch der Direltor der Militärſchule und der Direktor ber Arfenale.
Der Chef des Generalftab8 ift natürlich ein Engländer; er führt den Titel Sirbar
(Oberbefehlshaber. Engländer find ferner der Generaladjutant im Nange
eine Brigabegenerals, ferner der erfte Grenzlommandant, der Gouverneur von
Yualin, der Direltor des Mebdizinaldienftes und der Generalintendant, im
99 Das Eindringen Englands in Aegypten
ganzen fech8 oberfte Generale. Dazu kommen drei Oberften, ‚nämlich der
Kommandant von Stairo, ber zweite Grenzkommandant und der erfte Schagmeifter
ber Armee, ferner fünfzehn engliiche Oberftleutnants unter zweiundzwanzig. Unter
den Grad eines Bimbaſchi ober Major können englifhe Offiziere überhaupt nicht
Binabfleigen. Bon der Ägyptifchen Armee zu unterſcheiden war und ift daß britifche
Otkupationskorps, das anfangs 35000 Mann betrug und nad) und nad bis auf
3000 Mann herabgefegt worden iſt. Dieſe 3000 Mann ftanden zulegt unter dem
Befehl eines engliihen Generalmajord. Augenblidlih ift das Okkupations⸗
forp8 ja nun wohl nußerordentlid vermehrt worden. Man weiß aber nidt,
wieviel englifhe, indifhe und auftraliihe Truppen am Suezkanal und im Nil-
lande ftehen.
i Auf den Gebieten der Verwaltung, der Juſtiz ufw. fündigte England im
Sabre 1883 umfaflende Reformen beziehungsweife Neformpläne an. Es Hatte
aber anfangs nod einige Schwierigkeiten mit den Franzoſen. Den Hauptftein
des Anftoßes bildete die franzöſiſche Teilhaberfhaft an ber Finanzkontrolle, ber
aber bald genug ein Ende gemacht wurde. Sie hörte zunächſt nur tatſächlich da-
durch auf, daß der franzöfiihe Bevollmächtigte zu den Sigungen ber verfügenden
Behörden nicht mehr eingeladen wurde. Als er ſich darüber beſchwerte, forderte
der Vorfitende des ägyptifhen Kabinetts, Scherif-PBalcha, die Regierungen ber
beiden Weftmädte auf, die Kontrolle überhaupt aufzuheben, denn fie verftoße
gegen das patriotiihe Ehrgefühl der Nationaliften und beeinträchtige das Anjehen
des Khedive England tat, als ftehe es diefem Antrage fern, e8 war aber jelbit-
verftändlih damit einverftanden. Als Erjag für den Verzicht auf die Yinanz-
fontrole und auf den damit gegebenen politiiden Einfluß follte Frankreich
den Borfig in ber SKommilfion für bie Verwaltung ber GStaatsichulben
haben. Inzwiſchen war in Frankreich Freycinet wegen des biäberigen
Fiasſskos feiner Agyptifhen Bolitit fon geftürtt und an feiner Stelle
war der. vielleicht noch weniger bedeutende Duclerc Minifterpräfident: und
Minifter des Außern geworben. Duclerc lehnte das englifch-ägyptiiche An-
erbieten des Borfiteg in der Staatsichulden - Kommilfion entichieden ab.
Nun unternahm die engliſche Regierung, die franzöfifche zu zwingen, indem fie
drobte, England werde, wenn man ihm in Agypten nicht freie Sand laſſe, den
Unternehmungen Frankreichs in Tonking, Madagaskar und am Kongo Hindernifie
bereiten. Der Erfolg diefer Drohung war ber Abbruch der Berbandlungen.
Lord Granville madte den europäifhen Kabinetten in eben jenem Zirkulare vom
Anfang Ianuar 1883 davon Mitteilung. Die Verlegenheit der Briten dauerte
indeß nur eine kleine Weile. Am 11. Januar beantragte plöglic Lord Colvin,
der engliihe Bevollmächtigte zur ägyptifchen Finanzkontrolle, feine eigene Entlafiung.
Die gemeinfame Kontrolle war aljo fernerhin überhaupt nicht mehr möglid.
Und wieder eine Heine Weile, da veröffentlichte dag Negierungsorgan, der
„Moniteur Egyptien“, am 5. Februar ein Dekret des Khedive, das denfelben Lord
Colvin zum Rate bei der ägyptilchen Regierung ernannte mit dem Auftrage, ihr
mit feinen Finanzkenntniſſen zur Seite zu ftehen und fie zu unterftügen. Damit
hatte England was e8 wollte. Frankreich war auß der Finanzkontrolle entfernt;
e3 bebielt nur noch feine Kommiffare bei der Verwaltung der Staatsſchulden,
diefe aber in gleicher Linie mit den anderen Großmächten. Dennod bat bie
Das Eindringen Englands in Aegypten 93
Republit den Engländern in den folgenden Jahren gerade von bier auß nod
manchen Berdruß bereitet. Sie konnte dag, weil die meiften Inhaber der ägyptiichen
Schuldtitel eben Zranzofen waren; die republifanifche Regierung vertrat aljo einfach
die Intereffen ihrer Untertanen.
Ein völkerrechtlich anerkanntes Eigenrecht hatte England in Agypten nicht,
deshalb Eoftete ihm die Aufgabe, den gerechten Schein zu wahren, ſchon einige
Deübe. Noch fchwieriger aber war die bereit charakterifierte Heuchelei durchzu⸗
führen in bezug auf die Zukunft des Nillandes. Die fich darüber entipinnenden
Berbandlungen drehten ſich Hauptfählih um zwei Dinge, einmal um die trage,
wie lange die englifhe Befagung in Ägypten bleiben follte, fodann um bie
Neutralität des Suezkanals. In bezug auf die Beſatzung hatte die englilche
Regierung ſchon Anfang 1884 verfprochen, vorausgefett, daß Friede und Ordnung
im Lande gefichert feien, ihre Truppen big Tpäteftens 1888 zurüdgugiehen. Dieſes
Beriprechen wurde auch in den folgenden Sahren bei verfchiedenen Gelegenheiten
wiederholt, feine Erfüllung aber immer wieder unter allerhand Borwänden, zulegt
in einem Rundfchreiben an die Mächte vom Jahre 18%, fogar auf unbeftimmte
Zeit verfhoben. Zu dem Arger darüber, der bejonder8 in Frankreich lebendig
war, kam 1895 noch eine Differenz der beiden Negierungen wegen ber
Koften einer engliih-ägyptiihen Expedition in den Sudan. England hatte, ent-
gegen dem Einſpruch de8 franzöfifhen und des ruſſiſchen Kommiſſars bei der
Schuldenverwaltung, eine erhebliche Summe dazu — rund zehn Millionen Dart —
dem Nefervefonds der ägyptiſchen Staatsfafle entnommen. Die Spannung erreichte
ihren Höhepuntt 1898 zur Zeit der Faſchoda⸗Kriſis. Alle diefe Mißhelligkeiten
wurben aber fchließlih durch die vom engliihen Standpunkte aus geichidten
Operationen König Eduard8 des Siebenten in Pariß beigelegt. Frankreich ver-
zihtete 1904 auf die Seftfegung eines Endterming für die britiide Okkupation
es verſprach, den britiihen Maßnahmen in Ägypten fernerhin keine Hindernifie
mebr zu bereiten, und erhielt dafür feitend Englands freie Hand in Marokko.
Die Rechte der Türkei in Agypten wurben dabei mit Stillſchweigen über-
gangen.
Die Neutralität des Suezkanals, die fhon Napoleon der Dritte, und zwar
gerade auf Betreiben Englands, verbeißen Hatte, war von Lorb Wolſeley in
den Kämpfen gegen Arabi-Bey offenbar verlegt worden. Um bie öffentliche
Meinung Europas dieſerhalb gu beruhigen, verſprach Lord Granville bald nad .
der Offupation in einem Zirkular an die Großmächte, England werde für Die
„freie Schiffahrt” auf dem Kanal forgen. Der Terminus „freie Schiffahrt“ wurde
abfichtlid gewählt, der Ausdrud „Neutralität“ vermieden, weil leßtere einjchließen
würde, daß im Kriegsfalle auf dem Kanal keine feindlichen Akte ftattfinden dürften.
Dafür wollte aber England keine Garantie übernehmen. Die Trage ruhte dann
bi8 1885; da wurde fie auf Anregung Frankreichs Hin von einer Konferenz in
Paris verhandelt. Lord Eromer fagt, man Habe damals mehr dahin geftrebt,
den Kanal zu internationalifieren, als zu neutralifieren, und dem babe England
widerjproden. Eine Berjtändigung darüber wurde nicht erzielt. Auch 1887 ver-
Iprah die Britifche Regierung wieder die „freie Schiffahrt” in Verhandlungen
mit der Türkei, die indeß nicht ratifiziert wurden. Die volle Neutralität wurde
augeftanden in einer Konvention mit Frankreich vom 29. April 1888, dabei aber
94 Der Gefangene
borbebalten, biefelbe folle, folange bie britifhe Okkupation Ägyptens bauere,
noch nicht in Kraft treten. Endlich 1904, in den Verhandlungen mit Eduard bem
Siebenten, ift auch dieſe Klauſel gefallen und einfach die Neutralität des Kanals
gewährt worden. Wie England fie Hält, das fehen wir im gegenwärtigen
Kriege.
Die Herrihaft über den Suezlanal ift bie Vorbebingung auch für bie
Herrfchaft über Agypten. Gelingt e8 ben Türken, von Often, von ber Sinai-
balbinfel aus, fid) des Kanals zu bemädhtigen, fo werden fie um fo leichter aud)
am Nil Fuß fallen. Der von den Engländern neuerdings abgejegte Khedive
Abbas Hilmt, der Sohn Tewflls, ift beim türkifchen Heere. Er ift ber Abgott
der nationaliftifeh gefinnten Bevölkerung. So läßt ſich erwarten, baß bie Türken
von diefer allen Vorſchub erfahren und mit offenen Armen aufgenommen
werden. |
Der Gefangene
In hartem Zwang befchreitet dich mein Fuß!
So grüß id, Land dic), weil ih muß!
Idh fehe deinen Berg und deinen Wald:
Schön bift dul Doc mein Herz bleibt Falt.
Soweit mein ſuchend Auge fpäht,
Erblid ich deines Winters Majeftät,
Der um die Stirn Iryftallnen Reif bir flichtl
Wahrhaftig ſchön! Allein ich Lieb dich nicht!
Des einen Sinnes feften Schluß vernimm:
Feind bin ich dir mit ganzen Herzens Grimm!
Nicht mein Afyl, nein! meines Kerlers Nacht!
Der Freiheit Grab, trog deiner Fluren Pracht!
Und nicht der Heimat trauli Bild:
Vom Himmel ſank der Abend mild,
Die weite Eb’ne dämmert ein,
Der Nebel fteigt im Wiefenrain;
Der Gefangene 25
Ein Elflein fih im Zange wiegt,
Ins grüne Bett der Wind ſich ſchmiegt;
Das Rehlein ſpricht fein Nachtgebet,
Am Wald des Mondes Sichel ſteht,
Und einfam in der lauen Nacht
Halt ich auf treuem Tier die Wacht!
Da trank id} einmal nod) den Duft
Der lieben Heimat! Durch die Luft
Rauſcht al’ ihr Zauber! Ihrer Liebe Glut
Schoß mir noch einmal in das Blut!
Sept führt mich nur ein gnäd’ger Traum
Zurüd an jenen Waldesjaum,
Letztes Erinnern an die Heimat fpricht,
Wie fie fo ſchön, fo ftill, fo fehlicht!
Die Augen fchließ ich, fehnend nur,
Ich eilte über ihre Flur
Doch hart ftöht an den Stein mein Fuß —
So grüß ich, Land dich, weil ich muß!
Niſhni Udinſt
Januar 1918
BI, Sa 1 2° 4
„? es in
‚N X Pr /
SL
Deutiche Soldatenbriefe
Eine Charakteriſtik
Don Dr. Fritz Roepke
eber, der den Krieg als bewußtes Glied der deutſchen Gemeinſchaft
empfindet — und das ift bie Pflicht vor allem ber Gebildeten —
DA dem werden alle Äußerungen nationaler Stimmungen zu einem
BY A lebendigen Erleben beutfchen Wefens und Charakters werden.
Steven und Lieder, Gedichte und Bilder, Scherz und Gedenken,
Spiel und Bühne, fie alle klingen zu einer geiftigen Symphonie zufammen, die
der Abſtraktion „das deutſche Voll“ Charakter und Farbe, Sinn und Dafein
geben. Ste mag uns manchmal verworren, manchmal unrein klingen; erft eine
fpätere Zeit wird fie deuten und rein genießen können. Aber ſchon heute tönt
fo mandjes Inſtrument deutlih und Har an unfer Ohr und wedt in dem auf-
merffam Hinhorchenden eine Ahnung von der Seele feines Volles.
Ein ſolches Inſtrument ftellen die Soldatenbriefe dar. Sehen wir von
den Fachaufſätzen der militäriiden Sachverſtändigen, den künſtlichen oder
fünftlerifehen Erzeugnifien der literariſch Gebildeten, den beftellten Schilderungen
der Kriegsberichterftatter und den von vornherein zur Veröffentlichung beftimmten
Briefen ab, fo bleibt noch die große Zahl von Briefen aus dem Felde, die
Freunden und Belannten, Verwandten und Gebern Lebenszeichen geben wollen,
in denen der Menſch zum Menſchen ſpricht und Gebärde, Tonfall und Yalten-
wurf den deutſchen Charalter offenbaren.
Mer Material genug befigt, wird bald die Erfahrung maden, daß bie
durch den Krieg bedingte Ausgleihung der fozialen Unterfhiede ſich im Heere
am auffälligften vollzogen hat und daß die Bildung der Verfafler zu dem bereits
empfangenen Bilde feinen neuen Zug binzutut. Ihre Briefe find oft fachlicher,
aber in Stimmung und Stoff unterliegen fie einem alldeutfchen Geſetz.
Deutſche Soldatenbriefe 97
Am eheften entzieht ſich die einzelne Perſönlichkeit der gemeinfchaftlichen
Sphäre noch bei der Wahl des mitzuteilenden Gegenftandes. Aber auch bier
glaube ich drei immer wieberfehrende Typen zu erkennen, foweit das mir zur
Berfügung ftehende Material einen fiheren Schluß zuläßt. Es lagen mir
ungefähr fünfzig Briefe vor, daneben babe ich einige8 aus der Sammlung
„Deutſche Feldpoftbriefe” (9. Tümmlers Verlag, Chemnit) und dem in Zeitungen
Beröffentlichten benuben können ; bei der Auswahl der Belege habe ich Wert darauf
gelegt, daß die Verfaſſer den verfchiedenften fozialen Schiehten angehören. ALS
Urbild des erften Typus können die Drei Karten gelten, deren Verfaſſer nach den An⸗
gaben der Zeitungen ein ebenfo kurz angebundener wie volfstümlicher Feldherr fein
fol: „Wo bleibt denn meine Wäſche?“ „Soll ich noch lange auf meine Wäfche
warten?” „Ya, zum Donnerwetter, wird endlich meine Wäfche kommen oder
nit?” Der Inhalt diefer Mitteilungen geht kaum über die perfönlicden Be⸗
bürfnifje des Schreiber hinaus. Dft könnte man aus foldden Karten gar nicht
berauslefen, daß Krieg im Lande if. Ein Kriegsfreiwilliger fchreibt nach feinem
Eintreffen auf dem Sriegsichauplag: „Meine Lieben! Geftern Iangten wir in
3. an und murden mit Kanonendonner empfangen. Wenn Ihr mir einen
Gefallen tun wollt, dann könnt Ihr mir bitte Kalao, Zuder, Zeitungen ſchicken.
Herzlide Grüße — — —.“ Der zweite Typus fchildert mehr oder weniger
eingehend perfönliche Erlebniffe. Sie find meiftens durch den Drang fih aus-
zufprechen veranlaßt, das wohlige Gefühl des Sicherleichterns, wenn das
Geſchaute und Erlebte zu ſtark und ſchwer auf den einzelnen einwirkt. Selbſt
Sremden gegenüber ift der Soldat oft zutraulicder und offener als zum
Kameraden, ſobald der Brief nur in die Heimat gebt: „... und ebenfo freut
man fi, wenn man eine Nachricht fenden Tann.“ Dieſe Briefe bieten natürlich
nur einen Kleinen Ausfchnitt ans dem Kriege gemäß dem beichränkten Gefichts-
freis, mit dem fich der Soldat im modernen Kriege begnügen muß. Sie malen
uns den Schüigengraben, führen uns auf den Ausgud, in Scheunen und Schlöffer,
laſſen uns an Siegesfreude teilnehmen, an Sturmangriffen und Trauer über
den Berluft von Kameraden. Den dritten Typus endlid würden objeltive
Berichte vertreten. Wir können fie nur von Offizieren oder von ſolchen Ein-
fihtigen verlangen, die nad) Erfahren aller mwefentliden Einwirkungen imftande
find, den Gang der Operationen unter Hintanfegung ihrer eigenen Perjönlichkeit
wieder aufleben zu laffen. |
Um fo mehr können wir troß des fo verſchiedenen Bildungsgrades unferer
Soldaten von einem einheitlichen Stil ſprechen. Ich meine nicht die größere oder
geringere Gemwanbtheit, feine Gedanken zu klarer Geftaltung zu bringen, jondern
die abſichtliche Anwendung ſyntaltiſcher Verbindungen, die Vorliebe für
beftimmte Wortllafjen . ufm., kurz, die bewußte ſprachliche Darftelung. Der
Inappe militärtfede Stil iſt merkwürdigerweiſe verhältnismäßig felten, zum Beifpiel:
„Um 12 Uhr Mondichein, befferes Wetter, Granatendonner. Plögli Nachricht:
unfere Bagage überfallen, eine Kompagnie zurüd, das Dorf niedergebrannt,
98 Deutfche Soldatenbriefe
die Leute erſchoſſen, Franktireurſcheußlichleiten!“ Man findet ihn nie in den
Briefen der gemeinen Soldaten. Er Tann aljo nicht als allgemeines formales
Kennzeichen des deutichen Yeldpoftbriefes gelten. Dagegen zeigen viele Briefe
der verj&hiedenften Urheber in der Yorm das gleiche Streben: den Hang zur
Stilifierung, die Titerariffe Färbung der inftinktiven Äußerung. Ein Haupt»
mann ſchreibt von Neuigkeiten, die fein Antlig verflärt haben; ein Ingenieur
muß beim Kriegsbeginn wieder auf die Planken des Kriegsihiffs. Ein Milttärarzt
läßt Gegenfäpliches hart aneinander ftoßen, die friedliche Ruhe der Natur und
das Getöfe des Kampfes: „Die Natur in Saft und Brangen, die DObftbäume
fhwer bebangen, Blumen überall und Bogelzwitichern. Frieden! Aus dem
Dorf laden muntere Stimmen. Singen frober, glüdlicher Menſchen!“ Dazu
Stellen aus Briefen ganz einfacher Leute: „Ein vom Schidfal verfolgter Ober⸗
matrofe”; „Lerne leiden ohne zu klagen!“, „Kampf mit Sturm und Wogen⸗
tanz“; „Wenn mein Pfeifchen dampft und glüht und der Rauch von Blättern
durch die Lüfte zieht, taufch ich nicht mit Göttern!“ — — — „und wir unfere
ſchweren Torpedos felbigen in den gepanzerten Bauch jagen.” Der Franzofe .
wird faft prezids der Franzmann genannt. Beſonders gern wird das Adjeltiv
verwandt, das, bald malend, bald Flingend, gerade den einfadhen Leuten als
das Charalteriftiihe des „Ichönen“ ſchriftſtelleriſchen Stils zu gelten fcheint:
das vom Feinde viel ummorbene Kiel; gegen fchneidigen (jchneidenden) Wind
und Kälte; die See fchlug heftig gegen die dem wöütenden Wafler troßende
Bordwand (der Rhythmus eines Ungebildeten!); das eiftg jchneidende Waſſer;
wortlos wälzten fi die unendlihen Züge Artillerie und Infanterie durch die
kahlen, verlaffenen Gegenden. Das Torpedo heißt „heimtüdiih”, die Wander-
mine „feindlih“. Es tft, als ob der Soldat das Bewußtein hätte: bein Brief
wird zu Haufe vorgelefen, Freunden und Belannten gezeigt; da darfſt du did
nicht blamieren, du mußt Eindrud machen! So ſchreibt er in einer gehobenen
Sprade, die man aber weder ſchwülſtig noch papieren nennen fann; denn
fie bleibt immer im Einklang mit dem großen Gegenftand, den fie uns
mitteilt.
Am Mräftigften aber leuchtet der gemeinfame Bollscharalter aus der
Stimmung der Feldpoftbriefe hervor. In der neugeidhaffenen Einheit orbnet
fih der einzelne dem gemeinfamen Zwed unter, verſchwinden alle perjönlichen
Münfche, Neigungen und Gewohnheiten. Dur) die gemeinfame Gefahr und
das gemeinfame Erlebnis wird die Heeresmafje zu einem unteilbaren Weſen.
In einem folden Maſſenweſen haben erfahrungsgemäß die Gefühlselemente
durchaus das Übergewicht, die noch dazu durch die ungeheure Suggeftibilität
ber Maſſe eine fchnelle Verbreitung erfahren. Die feineren, abgetönten Gefühle
des einzelnen gehen natürlich verloren und nur Die großen, urfjprünglichen
Leidenfchaften bleiben. Bier einfache Gefühle find es befonders, deren Echo
der gegenwärtige Krieg wachgerufen hat und die den Grundton der Briefe aus
dem Felde abgeben: vaterländifche Begeifterung, Luft am Kampf, Wille zum
Deutfhe Soldatenbriefe 29
— — —
— —
Sieg; Ernſt und Mitleid beim Anblick der furchtbaren Wirkungen des Krieges;
Sehnſucht nach Heimat und Familie, Sentimentalität; martialiſcher, jungen⸗
hafter, unerſchütterlicher Humor.
Den Ton ber hellen, jauchzenden Begeiſterung werden wir natürlich zu
Beginn des Krieges am reinften und häufigften finden. „Ran an den Yeind“,
fo Hingt e8 aus vielen Briefen heraus: „Unfer aller Wunſch (der Marine) tft
es, jo bald als möglich auch zu zeigen, daß wir uns mit unferen Leiftungen
ebenbürtig an die Seite der Schwefterwaffe ftellen dürfen.“ „ch werde tun,
was in meinen Kräften ftebt, um Euch Lieben und das Vaterland zu ſchützen.
Fallen wir, nun fo fterben wir den Heldentod fürs geliebte Vaterland. Mit
Freuden ziehen wir gegen den Erbfeind.” In manden wacht die fröhliche
Luſt am Kampf auf und dehnt die entwöhnten Glieder: „Das hat Spaß
gemacht“. „Unfere Parole ift: vorwärts bis nad) Paris und noch viel weiter!
Wir wollen Abenteuer erleben und Kugeln pfeifen hören!” Faft betäubend ift
das Gefühl der eigenen überlegenen Kraft: „Es war herrlih! Ein obren-
betäubender Lärm. BDraufgegangen find die Kerls wie blödfinnig.” „I
babe kein anderes Gefühl, bloß eine unfagbar glüdfelige, wollüftige Aufregung,
daß es gelungen ift, den Feind aus feinen Stellungen zu vertreiben. Bas
Gefühl der Kraft, des GSelbftvertrauens erwacht in uns mit der ftärfiten
Bucht.“
Es ift in umferen Tagen vom deutſchen Haß gefungen worden. Das
Wort hat man fchon berichtigt; eg muß „Zorn“ heißen. Wir find unfähig zu
haſſen. Wenn ich die Soldatenbriefe leſe, ſehe ich immer die guten Augen
unferes Wilhelm Buſch, der fo deutich ift, daß er in dem Gewand einer fremden
Sprade wie eine boshafte Karilatur ausfiedt; und id muß an die Worte
Bullerftiebels im „Pater Filucius“ denfen: „Nu man to." Haß ift ein Gefühl
moralifder Schwäche, und das kennen wir nit. Und wie unfere Preſſe fich
rein hält von den wüften Worterzefien des feindlichen Auslands, fo offenbart
auch die große Seltenheit von Schimpfmwörtern in den Feldpoftbriefen das reine
Gewiſſen des deutichen Soldaten. „Das feige Voll”, „der feige Franzmann“,
„Die Halunfen“, „die Krüppels, die Hampelmänner von Franzofen”; das iſt
alles, was ich in fünfzig Briefen an verächtlichen Ausdrüden habe auftreiben
können. Hin und wieder trifft man auf gutmätig fpottende Überlegenheit; dann
heißen bie Franzofen Franzmänner und die Engländer Hafen: „Aber Angft
haben die Burſchen und laufen können fie. Wenn fie uns fehen, wir müfjen
immer laden; bie Hafen nennen wir jet immer Engländer.“ Meiſtens aber
fpricht der deutſche Soldat von feinem Feinde gar nit. Denn in feiner geiftigen
Überlegenheit — biefe Erfahrung kann man auch daheim bei den fchlichteften
Berwundeten maden — fieht er ihn nur feine Pflicht erfüllen und macht allein
die Regierung des fremden Landes verantwortlich). |
Diefelbe geiftige Reife und Größe der Auffafjung bekundet der deutſche
Soldat aber in noch höherem Maße in den Wintertagen des fat endlos
30 Deutfche Soldatenbriefe
icheinenden Ansharrens. „Wenn das Weihnachtsfeit auch diefes Jahr nicht fo
fröhlich gefetert wird, wie e8 in den 44 Jahren war,“ fchreibt ein Landwehrmann,
„darum wollen wir doch in Gottvertrauen hier in Feindesland und in der lieben
Heimat im Herzen berer gebenten, bie uns bis zum heiligen Weihnadhtsfeft
geführt haben und noch länger führen werden; und auf der anderen Geite
wollen wir fröhlich fein, weil unfere tapferen Deutſchen in Dit und Weſt ihren
Mann ftehen bis auf den letzten Tropfen Blut, und follte es ung nicht vergönnt
fein, ein Weihnachtsbäumchen zu ſchmücken im Schügengraben, dann werben
wir den Franzmännern zeigen, daß wir zu Weihnachten aud auf dem Poften
fein und nicht mit uns fpielen laſſen.“ „&ottvertrauen und froher Mut, denn
der Krieg geht doch einmal um.” „Mit Gott für König und Baterland.“
„Der Deutſchen Wahlſpruch heißt immer vorwärts und nicht rückwärts!“ wie
oft Tonnten wir jet ſolche Worte in dieſer ſchweren Zeit des nicht Durch große,
wiederhallende Siege gelennzeichneten Ringens leſen. Denn unfere zielbemußten
Soldaten willen, wofür fie fämpfen: „Das koſtet noch viel Opfer, aber das
ſchadet nicht; die Hauptſache tft, daß diefes Blut nicht umfonft alles gefloffen
ift, daß wir einen glorreihen und dauerhaften Frieden erringen.“ Dem Wohl
und Wehe des Vaterlandes müflen eben alle perfönlicden Sorgen untergeorbnet
werden: „Wir erhielten erft am . . . . Nachricht vom Tode unferes geliebten
Vaters. Aber wir wollen nicht traurig fein und uns nicht entmutigen; wir
wollen unjer alles einfegen für unſer heifgeliebtes Vaterland, da wir willen,
was wir fonft zu erwarten haben.” Auch der Schmerz um gefallene Kameraden
wird verdrängt durch den Gedanken an die fittlihe Größe dieſes Todes:
„Ste haben übermenfchliches geleiftet, ..... doch über ihnen allen ftrahlt bie
Krone des Ruhmes.“.
Aber no eins fteigert den Mut und die Freudigleit unferer Soldaten:
„Wir wiflen, daß uns treue Herzen entgegenfchlagen.“ Sie wollen nie ver-
jagen, weil wir fie nicht vergeflen. Und wenn ber deutſche Soldat an bie
Heimat denkt, überlommt ihn ein weiches, fehnfüchtiges Gefühl. Er liebkoſt
alles mit ungelenten Fingern: „Ferne Heimat, liebe Heimat.” „So mande
Träne ift bei uns über die Wange gerollt, wenn man zurüddenft an feine
liebe Frau und Kinder.“ Gefühlsfchwere Worte Iöfen fich, wenn fie ſich mitten
in der todſchwangeren Luft des Krieges den heimatlichen Frieden ausmalen:
fie ftehen im „fremden Lande“ auf „einfamer” Wacht. Und mwehmütig nehmen
fie in mandem Augenblid der überwältigenden Rührung Abfchied auf immer:
„Und follten wir uns nicht wiederfehen, dann denle öfters an deinen lieben
Freund, der für Deutſchlands Ehre mit Freuden in das ‚Maffen‘grab ge⸗
gangen iſt.“
Ale Hat das Leben da draußen mächtig gepadt; aus ben Sünglingen bat
e8 Männer, aus gleihmäßig Dahinlebenden Charaktere und aus den weichen
Seelen Ziefernfte gemacht, denen das blutige Bild den Atem benahm. Und
dieſe ernſten Augen bliden uns aus vielen Soldatenbriefen an: „Bei foldher
Deutſche Soldatenbriefe 31
Berftörung begreift man erft, was es beißt, den Krieg in Feindesland tragen.”
„83 ift nur gut, daß ſich diefe Kämpfe nicht in unferem geliebten Vaterlande
abfpielen; von 3. bis ©. finden Sie fein ganzes Haus mehr.“ „Die Leere
der Landſchaft, verbunden mit dem fürchterlihen Krachen, wirkt beflemmend
und macht zufammen mit dem granen Himmel einen troftlofen Eindruck.“
„zote in den Gräben vom Nachmittag ber, Franzofen und Deutſche, herren-
lofe Zornifter, Helme, Seitengemwehre und Mäntel lagern auf den Felder zer-
freut — blutige Hemden, blutgetränfte Verbandsfegen. . . . Die armen Serle,
die Arme oft zur Abmehr vorgeftredt oder auf bie Bruft gepreßt, um ben
Schmerz zu ftillen. — Pferbeladaver, überall Ausrüftungsgegenftände, die von
Leid ſprechen.“
Aber nicht oft herrſcht diefe trübe Stimmung. „Müde, aber vergnügt.“
„Bir find noch fröhlih und guter Dinge.“ Und mander, der zu Haufe
vielleicht ein verwöhnter Junge war oder eine viellöpfige Familie in der Heimat
weiß, rafft fidh zu ein paar lachenden Worten auf, um in denen daheim nicht
das Gefühl auflommen zu lafien, daß er in Gefahr ſchwebt: „ES ift das
reinfte Manöverleben,“ fchreibt ein junger Freimilliger an feine Eltern. Ein
anderer nedt jeine Braut: „ine zweite Braut babe ich auch ſchon! Bift Du
da nicht eiferfüchtig? Ja, Du mußt nämlich mwifjen, dem Krieger feine zweite
Braut ift fein Gewehr.“ Jeder von uns hat die lachenden Inſchriften bei ber
Mobilmahung genofien: Expreß Berlin— Paris oder: Nikolaus, Nilolaus, wir
fopfen dir die Hofen aus! Gie finden in den Briefen ihr ausgelafjenes Echo:
„sh werde Dir fo ein Bieft (Engländer) mitbringen.” „In vierzehn Tagen
mußt Du unbedingt nad) Paris fommen, zum Siegesball nad) Berfailles. Ein
Hurra unferer fiegreihen Armee. 1000 SKanonenbuffel.” Mit mutwilligen
Kofenamen wird die Munition belegt: „Liebesgaben für die Ruſſen“,
„Zuderhüte”, „Eiferne Morgengrüße“. Übermütig, jungenhaft wirft der Soldat
feinem Yeind Spottreden wie Schneebälle an den Kopf: „Wenn preußifche
Truppen vorgeben, heißt das auf ruſſiſch: Kehrt! Mari, Marſch! ... . Ober
fie bewaffnen fi mit ihrer Hauptwaffe: einem langen Baumaft mit geftohlenen
Fenftergardinen.” „Die Franzoſen wollen durchaus durch; das tft verboten.
Wir balten die Yranzofen im Schwung, damit fie nicht üppig werden und
nicht durchbrechen, was die Franzmänner alle Tage verjuchen, wobei fie aber immer
fefte auf den Schädel befommen. . .. Wir Deutihen hätten die Franzoſen
fon lange aufgefreffen, gerade wie Dlfardinen!“ Ganz felten nur gibt ein
häßlicher Ausdrud Kunde von einer durch monatelangen Erlebnifjen bedingten
Abftumpfung: „Unfer Sport mit den Ruffen.” „Nachdem wir die Häufer
durchſucht hatten, wobei noch mancher Franzoſe ins Jenſeits befördert wurde. . .”
In den meiften Yällen bat der Scherz gutmütigen Charakter. Er nimmt leine
Strapaze tragiſch und wird in fchweren Lagen zu einem drolligen Galgenhumor:
„Hter in M. genoß man gratis ein Sonnenbad, indem man etwa vier Stunden
lang zwiſchen Bahbngeleifen auf freier Strede lag." „Nachdem wir uns an
82 Deutfhe Soldatenbriefe
dem Duft von gelochtem Schweinefleih fatt gerochen hatten, mußten wir
weiter.“
Das ift der deutſche Soldat. Er bleibt auch in der Uniform ber alte
Michel. Gutmütig und gebuldig im Harren, unfähig zum verzehrenden, brutalen
Haß, voll Begeifterung für edlen Kampf, von umerfchütterlicder Zuverſicht auf
ben guten Ausgang der gerechten Sache, weich und fentimental, tiefernft im
Empfinden und fröhlich in der Selbftverleugung.
Allen Mauuftripten it Porto hinzuzufügen, ba andernfalls bei Ubichunng eine Rädienbung
nicht verbrgt werden Tann.
Nachbruck fümtliger Uuffäge nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berlagd geſtattet.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg Eleinow in Berlin. Lichterfelde Weſt. — nn und
Briete werden erbeten unter der Abrefie:
Un den Herausgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde We, S
Fernſprecher bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Berlags und ber Schriftleitung: Amt — 6810.
Verlag: Berlag ber Srenzboten G. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer Ba.
Drud: „Der Reihsbote” ©. m. 5. H. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/37.
Zwischen Wasser u. Wald Russerst gesund gelegen. —
Bereitset für alle Schulklassen, das Einjährigen-,
Primaner-, Abiturienten- Examen vor. Auch Damen-
Vorbereitung. — Kleine Klassen. Qründlicher, indi-
vidueller, eklektischer Unterricht. Darum schnelles
Erreichen des Zieles. — Strenge Aufsicht. — Gute
Pension. — Körperpflege unter ärztlicher Leitung.
Waren i in Mecklb.
am | Müritzsee.
Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan
Don Dr. jur. Kurt Ed. Jmberg
a ns Eingreifen Japans in den Weltkrieg, die Eroberung Kiautſchaus
\
& und die Beſetzung deutſcher Kolonien in der Südſee durch japaniſche
Truppen haben die amerikaniſch⸗japaniſche Frage in ein neues
EKGIFA Stadium gebradit.
Seit etwa ſechzehn Jahren taucht dieſes Problem: wie werden
die Vereinigten Staaten und das Land der aufgehenden Sonne die zwijchen
ihnen bejtehenden, bald mehr, bald weniger akut werdenden Streitfragen Iöfen,
immer wieder auf, ohne jedoch bisher eine auch nur einigermaßen befriedigende
Löjung gefunden zu haben.
Die Jahre 1898/99 Tann man wohl ald Wendepunkt in den bis dahin
ſteis guten und freundfchaftlichen Beziehungen zwiſchen den Vereinigten Staaten
und Japan anfehen. Die Angliederung von Hawai, auf das die Japaner
zweifellos ihr Augenmer? gerichtet hatten, die mit der Befegung der Philippinen
beginnende Gründung eines amerilanifhen Kolonialbefiges und Feltfebung in
den afiatiihden Gewäſſern fonnten nicht ohne Einfluß auf die Haltung Japans
den Bereinigten Staaten gegenüber bleiben.
Zur gleiden Zeit etwa vollzieht fi aber auch der Umſchwung im Reiche
des Mifado; es ift die Zeit des EintrittS Japans in die Zahl der Weltmächte,
die Anerkennung des japanifchen Staates als gleichberechtigtes Mitglied durch
die europäiſchen Großmächte und die Vereinigten Staaten von Amerila, die
Geburtsftunde des japanischen Imperialismus. Es ift die Zeit nach dem
glücklich beendeten Kriege gegen das chinefifche Millionenreih, der den Japanern
den Befig von Formofa gab, wodurch auch Japan den eriten Schritt zur
Gründung eines Kolonialgebietes tat. Japan und die PVereinigten Staaten
wurden Nachbarn im jüdchinefiichen Meere. Bald nad) dem Kriege von 1894/95
beginnt denn auch der wirtfchaftliche Aufſchwung des japanifchen Inſelreiches,
die Ausdehnung feines Handels und das Erwachen feiner Induſtrie. Die
Grenzboten II 1915 8
34 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan
unausbleibliche Folge diefes Aufihwunges ift die Entftehung von zahlreichen
Reibungsflaͤchen japaniſcher und amerilanifcher Intereſſen auf dem chinefifchen
Meltmarkte.
Wir wollen im folgenden nur die wefentlichiten Punkte der amerikaniſch⸗
japaniſchen Yrage kurz berühren, wohl wiffend, daß eine auch nur annähernd voll»
ftändige Darftellung dieſes Problems weit über den Rahmen binausgeben
würde, der uns bier geftedt if. Wir wollen uns darauf befchränten,
die amerilanifhen Smterefien in China und die | Einwanderungsfrage
etwas näher zu beleuchten, die die wichtigſten Faltoren jenes oft beftrittenen,
aber zweifellos beitehenden Problems find: des Kampfes um die Herrſchaft im
Stillen Ozean zwiſchen der weißen und der gelben Raſſe.
I.
„Ein geeinigtes China, fi ſtark entwidelnd, Herr in feinem eigenen
Lande, weldes es dem Handel aller Nationen der Welt in gleihem Maße
offen hält.” Mit diefen Worten Tennzeichnet der jebige Geſandte der Ver⸗
einigten Staaten von Amerika in Peling, Profeffor Reinſch“), einer der beften
Kenner der amerilaniſchen Politik und diplomatiſchen Geſchichte der Union, die
Politik, die die Vereinigten Staaten ftet3 dem Reiche der Mitte gegenüber
beobadtet haben, die fie auch heute der jungen Republik China gegenüber
vertreten.
Bereit kurze Zeit nad der Abtretung Kaliforniens an die Union im
Frieden von Guadeloupe Htdalgo (1848) finden wir die erften Anzeichen für
das Streben der Vereinigten Staaten, einen Einfluß in Auftralien zu erlangen
und an der Erſchließung des dhinefiichen Reiches teilzunehmen. Schon damals
erfannten die amerikaniſchen StaatSmänner, daß der Stille Dzean dereinft eine
große Rolle auf dem Welttheater fpielen werde, und aus diefer Erkenntnis
entfprang der Wunſch, daß aud die Vereinigten Staaten oftafiatiihe Politik
treiben, daß auch fie fi auf den neuerſchloſſenen Gebieten des Weltmarktes
im Fernen Dften betätigen follten.
So fiherten ſich die Vereinigten Staaten in ihrem Vertrage mit China
1844 durch die Einfügung der fogenannten Meiftbegünftigungsflaufel die Vor⸗
teile, die England und Frankreich kurz vorher durch den Opiumkrieg (1840 bis
1842) errungen hatten. Die Folge diejes Vertrages war ein rafches Aufblühen
des amerilanifden Handels mit China und die Begründung zahlreicher
amerifanifher Handelshäufer in den VBertragshäfen im Reiche der Mitte. Wenn
auch der Handel zwiſchen der Union und China einigen nicht unbebeutenden
Schwankungen ausgeſetzt war, die auf die politifhen Zuftände in ben beiden
Ländern zurüdzuführen find, fo zeigt doch die Stala des amerilaniſch⸗chineſiſchen
*) Reinſch: „Die Vereinigten Staaten und ber Ferne Dften (in ber Zeitichrift für
Politit, 1918) Seite 200.
Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 35
Warenaustauſches eine ftetS fteigende Tendenz. So betrug der amerilanifche
Handel mit China: Ä
im Jahre 1888 etwa 21000000 Dollar
F— „ 1898 „ 3000000,
— „ 1908 „ 48000000, |
Nach den chineſiſchen Berichten, die bis jebt allein vorliegen, betrug ber
Sefamthandel zwiſchen den Vereinigten Staaten und China im Jahre 1913
ewa 73 Millionen Zaels, das beißt etwa 37 Millionen Dollar, und zwar
zeigt die Handelsbilanz in diefem Jahre zum erften Male feit 1902 wieder ein
Übermwiegen ber chineſiſchen Einfuhr in die Union um etwa 1 Million Taels*).
Es ift dies allerdings ein nicht unbeträchtliher Nüdgang gegen 1908; aber
gegenüber den vorhergehenden “Jahren, die ein tiefes Sinten der Hanbelsbilang
gebracht hatten, wieder eine, wenn auch nur Feine Steigerung bes Warenaustaufches.
Diefe immer wachſende Bedeutung der Chinefen als Kunden und Lieferanten
der Vereinigten Staaten, die in Zufunft bei einer rationellen Ausbeutung ber
reihen Bodenſchätze Chinas zweifellos noch zunehmen wird, zwang die Amerikaner,
ein wachſames Auge auf die Entwidlung der Dinge im Fernen Dften zu haben
und fi) befonders darüber Flar zu werden, welchen Einfluß eine etwaige Zer-
ftüdelung des chinefiſchen Reiches auf die amerilanifch-chinefiihen Beziehungen
ausüben mußte. Denn offenbar mußte eine allmähliche Aufteilung Chinas an
die hieran intereffierten europäifhen Mächte und Japan eine ftarle Zurüd-
drängung, wenn nicht gar die Vernichtung des amerilanifhen Handels mit
China zur Folge haben. Aus biefem Gefihtspunfte erflärt fi) die ſtrikte
Durchführung der Grundfäße der „Uffenen Tür” im Reich der Mitte und ber
Integrität des dhinefifchen Gebietes, die fi wie ein roter Faden durch die
oftaftatifhe Politik der Vereinigten Staaten zieht. Bon diefen beiden Grund⸗
fägen ift die Aufrechterhaltung der Integrität der chinefiihen Republik das
zweifellos wichtigere Problem**’); denn es tft Mar, daß der Grundſatz der
„Offenen Tür” nur in diefem Falle wirklich beftehen Tann, wie das Schickſal
zahlreicher anderer Länder in der Weltgeſchichte lehrt, während er bei einer
Aufteilung in Intereſſenſphären zur leeren Phraſe wird.
Die Gefchichte der oftafiatifchen Politik der Vereinigten Staaten in ben
legten Jahrzehnten zeigt immer wieder deutlid das Eintreten der Union zu⸗
aunften Chinas, das Beſtreben, alles zu vermeiden, was zu einer Verlegung
der territorialen Integrität diefes Landes führen könnte, in der Maren Erlenntnis,
daß mit dem Einrüden der Union in die Stellung einer Macht am Stillen
Diean bie Integrität Chinas für fie von größter Wichtigleit geworden ift”**).
) Trade Reports for 1913, Part I herauſsgegeben, von der chineſiſchen Negierung.
) Vergleiche Millard (bei Blafeslee a. a. ©.): The need of a distinctive American
policy in China, Seite 84.
***) Bergleiche Foord: America’s Trade Relations with China (in Blakeslee: China
and the Far Bast, 1910) ©. 111.
9”
86 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan
Als Beweiſe für diefe Politik mögen bier nur das fogenannte Hay-Agreement
vom Jahre 1899 erwähnt werden, eine internationale Vereinbarung, in ber
die Grundſatze der Integrität Chinas und der „Offenen Tür“ in diefem Lande
feftgelegt wurden, und ferner die Note des Stantsfelretär Hay vom 3. Juli
1900*) während des Boreraufftandes, in welcher die amerilanifche Regierung
darauf binwies, daß für die Wirren in China eine Löfung gefunden werben
müfle, „Die die territoriale und abminiftrative Einheit Chinas beachtet”, und bie
„den Grundſatz eines gleichen und unparteiifhen Handels mit allen Teilen des
chinefiſchen Neiches fhüst**)." Weiter fei auf das Eintreten ber Bereinigten
Staaten für die Auferlegung einer nicht allzu hoben Striegsentihädigung im
Sabre 1901 hingewiefen, da man mit Recht in Amerila eine aus einer hohen
Kriegsentihädigung notwendigerweife folgende finanzielle Abhängigkeit des
militäriſch ſchwachen Chinas als eine Gefahr für feine territoriale Integrität
erfannte***), und jchließlid auf den an Rußland und China gerichteten
amerikaniſchen Proteft gegen den heabfidtigten Kauf der Mandſchurei durch
Rußland, bei welcher Gelegenheit die amerilanifhe Regierung erklärte, daß
„jegliche Vereinbarung, dur die China einer Korporation oder Gefellichaft
das ausſchließliche Recht oder ein Privileg zur Ausbeutung von Minen, zum
Bau von Eifenbahnen oder zu irgendeiner fonftigen indujftriellen Unternehmung
in der Mandfchurei verleiht, von der Regierung der Vereinigten Staaten höchſt
ungern gefehen werden würde).“ Denn ein folddes Vorgehen Rußlands
würde den anderen Mächten zu gleihen Schritten Veranlafiung geben, und die
unausbleiblide Folge davon würde „der vollftändige Zuſammenbruch der
Politik einer abjolut gleihen Behandlung aller Nationen bezüglich des Handels
und der Schiffahrt” feinTT).
Bei der Durchführung des Grundjabes der territorialen Integrität Chinas
fommen die Vereinigten Staaten von Amerila mit gewiffen anderen Mächten
in Gegenjaß, die in einem allzu ftarfen China eine Bebrohung ihrer „Intereſſen“
*) Bergleiche hierzu Näheres bei Reini: a. a. O., Seite 186 ff.
**) Bergleihe Foord: a. a. D., Seite 118.
»**) Im Sabre 1909 zahlten die U. S. A. 13000000 Dollar, das heißt über die
Hälfte ihre vertraggmäßigen Anſpruchs auf Schabenerfag an Ehina zurüd, „weil alle
Koften und alle geredhtfertigten Anſprüche einzelner gededt worden waren und man es ein
fa für recht und billig Hielt, China den Uberſchuß zurückzuerſtatten, fo wie es bon einem
Bankier erwartet wird.” Vergleihe Reinſch: a. a. O., Seite 188. — Ob dies wirkli der
einzige Grund für die Nüdgahlung geweſen iſt? Es würde jedenfalls bon einer in der
Bolitit feltenen Ehrlichkeit und Selbftlofigleit zeugen!
r) Vergleiche da8 Memorandum Hays vom 1. März 1801 und die Note an Rußland
und China vom 1. Februar 1902.
) Man könnte als weitere Beifpiele für diefe Bolitit der Vereinigten Staaten auch
noch erwähnen: die erfolgreichen Bemühungen der Regierung von Waſhington für die
Begrenzung des Kriegdfchauplages im Jahre 1904 und dad Eintreten des Präfidenten
Moofevelt im Frieden von Portmouth zugımften Chinas. Vergleihe Millard: a. a. O.,
Geite 88.
A
Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 97
fehen. inter biejen fteht neben Rußland in erfter Linie das erft kürzlich zur
Weltmacht entwidelte Japan. Eine Zeitlang hatten die Vereinigten Staaten
und Japan die "gleichen nterefien in China; beide Staaten waren an ber
Integrität des Reiches interefflert. Dies änderte fi mit dem fiegreihen Kriege
der Sjapaner,gegen Rußland, und Japans Berhalten China gegenüber erregt
mit Net immer mehr Beforgnis in der Union vor dem weiteren Vorbringen
der gelben Weltmadht”).
Die Erfolge des Heinen Inſelreiches im Kriege gegen den ruffiihen Koloß
gaben dem japanifhen Imperialismus neuen Boden und die feit langem
erfehnte Möglichkeit, die regfte Tätigkeit in China zu entfalten, bejeelt von
dem Wunfche, ganz China dem japaniſchen Einfluffe zu unterwerfen. Die
Urſache, um derentwillen man den Krieg gegen Rußland begonnen batte, ber
Schuß der von Rußland bedrohten Integrität Koread und Chinas, hatte man
nad der fiegreihen Beendigung des Krieges vergefien. Korea kam unter
japanifden Schu, bald darauf unter japaniihe Verwaltung (1907) und
wurde ſchließlich (1910) zur japanifhen Provinz erflärt. Somit fah Japan
feinen im Laufe ber Jahrhunderte des öfteren vergeblich wiederholten Verſuch,
fih auf dem aſiatiſchen Feftlande feitzufehen, endli gelungen. Es tft ber
erite Schritt zur Gründung einer japantichen Tontinentalen Macht.
Sn den folgenden Jahren haben die Japaner ſyſtematiſch an der weiteren
Ausarbeitung ihrer Feitlandsftellung gearbeitet, indem fie mit allen ihnen zur
Verfügung ftehenden Mitteln eine Erftarfung des aus feinem jahrhunderte⸗
Iangen Schlafe erwachenden Chinas zu verhindern und die begonnene Reform-
arbeit dur Anzettelung und Unterftühung von Revolutionen und Unruhen zu
ftören ſuchten. Denn nur bei einem ſchwachen China können die japantichen
Pläne Erfolg baben*”).
Diefen Plänen dient auch die Teilnahme Japans am Weltfriege gegen
Deutihland und fein Raubzug gegen das deutſche Pachtgebiet Kiautichan.
Allerdings hat Japan zu Beginn des Krieges erflärt, e8 wolle „eventuell“
Kiautſchau an China zurüdgeben, aber heute glaubt wohl niemand mehr an
diefe „Eventualität”, im Gegenteil ift fogar anzunehmen, daß Japan ſich auch
in der chineſiſchen Provinz Schantung, einer der reichiten und fchönften Provinzen
der Republik, dauernd feſtſetzen wird. Wenigſtens läßt die angeblich „vorüber-
gehende“ DBejegung der ZTfinanfu—Weifien - Bahn einen foldden Schluß als
außerordentlich) nabeliegend ericheinen”**).
Damit wäre aber der Anfang einer Aufteilung des chineſiſchen Reiches
gemadt und weitere Abbrödelungen wären unvermeidlih. Die Folge der
”) Bergleihe Eoolidge: „Die Vereinigten Staaten als Weltmacht,“ Seite 861 ff. —
Millard: a. a. O., Seite 89,
) Bergleiche Riegelsberger: „Japan und Deutihland, ihre kulturellen und politifchen
Beziehungen und die japanifche Gefahr für China, Amerika und Europa, 1914, Seite 82 ff.
"ee, Bergleiche hierzu von Brandt: Ehina und Japan, 1914, Seite 44.
38 Die Vereinigten Staaten von Amerifa und Japan
Aufteilung würde aber die allmählide Monopolifierung des Handels durch bie
aufteilenden Mächte fein: auch der amerikaniſche Handel wird dann im Laufe
ber Zeit vom chineſiſchen Marlte verdrängt werden. Die Vereinigten Staaten
find deshalb ebenfo wie Deutihland an einer Erhaltung der territorialen
Sintegrität Chinas und an feiner militärifden und nationalen Erftarkung lebhaft
tntereffiert, und beide Staaten müfjen ein weiteres Vorbringen der Japaner
auf dem afatifchen Feitlande auf Koften Chinas unbedingt verhindern, wollen
fie nicht auf ihren oftaflatiiden Handel und auf ihre Mitwirkung bei der
Regelung der oftafiatifchen Frage verzichten”).
Die neueften Greigniffe im Fernen Dften haben dies beftätigt. Die von
Japan an Ehina in der Note vom 28. Januar 1915 geftellten Forderungen
laſſen Mar und deutlich die Endziele der japanifchen imperialiſtiſchen Politik
erfennen. Noch find die Verhandlungen nicht abgeichlofien, und es läßt fidh
noch nicht überbliden, inwieweit Japan fi — durch ben Einfluß anderer
in Ehina interejfierter Mächte — beitimmen läßt, feine für China unannehmbaren
Forderungen zu mäßigen.
Berfuht Japan — und wir zweifeln nicht, daß e8 biefen Berfuch malen wird —
weitere chineſiſche Länder feinem Gebiete einzuverleiben, fo wird e8 bald mit den
Intereſſen der Vereinigten Staaten in Gegenſatz geraten, ber zunächſt mit ben
Waffen des Handels auf dem aftatifchen Weltmarkte ausgefochten werben wird,
der aber leicht zu einem politiichen Konflilte auswachſen kann und — mie bie
MWeltgeichichte bisher immer bewiefen — auswachſen wird.
II.
Von weit größerer Bedeutung iſt das Problem der japaniſchen Einwanderung
nach den Vereinigten Staaten von Amerika““). Durch beiderſeitiges Nachgeben
und dur Verträge jcheint diefe Frage zwar für den Augenblid geregelt zu
fein. Aber eben nur für den Augenblid. Bald wird fie von neuem auftauchen,
und dann wahrfcheinlic mit größerer Heftigfeit und Schärfe.
Bon einer japaniihen Einwanderung nad) den Vereinigten Staaten in
größerem Umfange Tann man eigentlid) erft ſeit dem Anfang des zwanzigften
Sahrhunderts ſprechen. Waren auch Thon früher japanifche Arbeiter, befonders
für die Obftplantagen, nad dem amerikaniſchen Kontinent gelommen, fo ging
doch in den achtziger und neunziger Jahren der Hauptſtrom der japantichen
Auswanderer nad) Hawai”**), wo fie anfangs als Gegengewicht gegen die wenig
*) Vergleiche Niegelöberger: a. a. D., Seite 35.
*e) Vergleiche zu diefer Frage den Auffag von Dr. Friedrih A. Wynelen: „Die
gelbe Gefahr in Kalifornien“ in den „Grenzboten“, 1913, Seite 809 ff.
”., Die eriten japanifhen Einwanderer famen 1868 nad) Hawai. Der größte Teil wanderte
jedod wieder zurüd, fo daß 1882 nur no 15 Japaner auf Hawai waren. Bon da ab nimmt
die japaniihe Einwanderung einen immer größeren, ſchließlich bis in die Yebntaufende
fteigenden Umfang an, der erit infolge der amerilanifhen Einwanderungsgefeggebung im
Jahre 1907 zum Steben gebracht wurde.
Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 3
—
geſchätzten chineſiſchen Kulis fehr willlommen waren. Die raſch anwachſende
Zahl der japaniſchen Bevöllerung auf Hamwai erregte bald bie Aufmerkſamleit
der amerilanifchen StaatSmänner und zweifellos ift die Beſorgnis vor einer
Sapanifierung dieſer Sinfelgruppe ein Grund gewefen, der bei der Annerion
von Hawai dur die Vereinigten Staaten im Juli 1898 in bebeutendem
Maße mitgeiprochen hat”).
Erft nad) der Annerion von Hamai beginnt die Zeit der Maffeneinwanderung
von Japanern nad) dem amerifanifchen Feftlande, die ſich zunädit faft aus-
ſchließlich nach Kalifornien wendete, wo die Japaner — das kann wohl kaum
geleugnet werden — hervorragenden Anteil an der Entwidlung bes in der
ganzen Welt befannten Talifornifchen Dbft- und Gemüfebaus gehabt haben.
Alsbald nahm diefe Cinwanderung einen ungeabnten, in den Weſtſtaaten
der Union wenig erwünichten Umfang an. Die Einwanderungsftatiitil für die
Jahre 1901 bis 1906 ergab eine Einwanderung von 79000 Japanern, bie
teils direlt von den japanifchen Inſeln, größtenteild aber auf dem Umwege
über Hawai nad) den Pereinigten Staaten kamen. Im Jahre 1906/07 ftieg
die Zahl der japaniſchen Einwanderer fogar auf 30 824**).
Diefe immer ftärlere Einwanderung des japanifchen Elements und die fich
ans ihr ergebenden fozialen und wirtichaftliden Folgen erregten immer mehr
die Beforgnis der Weißen in Kalifornien vor einer Überffwemmung der
Bazifil-Küfte durch die gelbe Raſſe. Am Jahre 1906 kam die Aftatenfrage
ſchließlich ins Rollen. Mag auch dem bekannten Schulitreite in San Francisko
von mander amerikaniſchen Seite jegliche Bedeutung abgeiprochen werben ***),
er ift doch der erfte Ausbruch des immer ftärler werdenden Rafjegefühls im
Weſten der Vereinigten Staaten und bamit des Gegenfabes gegen die gelben
Eindringlinge. Zwar wurde der Schulftreit bald beigelegt; die Bereinigten
Staaten gaben den Proteiten der japanifchen Regierung gegenüber Tlein bei,
und Präfident Roofevelt erflärte in feiner Botſchaft vom 4. Dezember 1906 bie
Haltung der kaliforniſchen Behörden in diefer Frage für den Verträgen zwiſchen
der Union und Japan widerſprechend. Aber an eine endgültige Beilegung ber
japanifhen Frage war nicht im entfernteiten zu denken.
Die geſetzgebenden Körperfchaften gaben dem Drängen ber Weftftaaten in
Waſhington fhlieklih nad, und das Gefeh vom März 1907 brachte eine be-
deutende Einſchränkung der Einwanderung gelber Arbeiter. Durch gleichzeitige
*) Bergleihe Eoolidge: a. a. O., Seite 838.
”*) Vergleihe Rathgen: „Die Japaner in der Weltwirtſchaft,“ Seite 126.
+0) Bergleiche zum Beifpiel Starr Sordan: „Relations of Japan and the United States“
(bei Blateslee, a. a. D.) Seite 6. — Wenn Reini a. a. DO. Seite 191 meint, daß weder
für die 1. S. U. noch für Japan eine Frage vorlag, deren Wichtigkeit einen Krieg möglich
gemadt haben könnte, fo können wir ihm darin allerdings beiftimmen. Darum ift aber dieſe
Frage nicht weniger bedeutfam und wichtig für die Beurteilung der ganzen amerikaniſch⸗
japaniſchen Frage.
40 Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan
diplomatiſche Unterhandlungen zwiſchen Wafhington und Tokio wurde erreicht,
daß die japanifhe Regierung — wenn auch nur widermillig — ſich bereit
erflärte, das Ihrige zur Regelung der Aftatenfrage beizutragen und die Ab-
wanderung japaniſcher Arbeiter nach den Vereinigten Staaten nad) Möglichkeit
zu unterbinden. Die Folge dieſer Maßnahmen war ein ftarfes Sinken ber
japanifhen Einwanderungsziffer in den folgenden Jahren. Im Sabre 1909
fant die Zahl der eingewanderten Japaner von 16418 im Vorjahre auf 3275.
Seit 1911 ift aber wieder ein Iangfames Steigen der Einwanderungsziffer
bemerfbar, und nad) den neueften vorliegenden offiziellen Berichten betrug bie
Zahl der japanifhen Einwanderer im Jahre 1918 ſchon wieder 8302*).
Gleichzeitig wuchs aber auch die anti-japanifche Bewegung in Kalifornien,
bie troß der friedlihen Bellegung des Konflilts im Jahre 1906 nicht ver-
fhwunden war. Dies trat veutlih in dem mit feltener Einftimmigfeit von
den gejeggebenden Körperſchaften Kaliforniens angenommenen Geſetz von 1913
zutage, weldhes allen Ausländern, bie nicht die amerikaniſche Staatsangehörigfeit
erlangen lönnen, den Erwerb und die Übertragung von Grund und Boden im
Staate Kalifornien verbietet”*”).
Zroß der perjönliden Bemühungen des Präfidenten Wilfon, biefen neuen
Konfliktftoff zu befeitigen, ift eine Löfung diefer Landfrage noch nicht geglüdt.
Daß dieſes Gejeb fih in erfter Linie gegen Japan richtet, geht aus feiner
Faſſung deutlich hervor und ift auch von den Yapanern in diefem Sinne auf-
gefaßt worden”). Wenn fi au nur ein Prozent von allem bebauten Boden
von Kalifornien in japanifchen Händen befindet, fo läßt doch das Anwachſen
des japaniſchen Befites in Kalifornien von etwa 14000 Acres im Jahre 1907
*) Vergleiche Hierzu die Tabelle der japanifhen Cinwanderung im „Immigration
Bulletin for March 1914“ (U. S. Departement of Labor):
OT: mu ie Da ee a a a 80824
LOB" 3,00. 26: a a a ee ec 16418
LUD a u a a 8275
OD: 25, 10: car 2798
Ol 0a 08 28.0 ra 4575
JOD 5: 0 Sa 6172
BON: 5; ur 00. 8802
Hierbei find aber nur die mit Negierungspäfien verjehenen Einwanderer gezählt,
während zweifellos zahlreiche Arbeiter ohne ben erforderlihen Pak über Kanada und Mexiko
in die Union gelangen.
Ein gleihe® Anwachſen macht fi bei der chineſiſchen Einwanderung bemerkbar, die
im Sabre 1907 bis auf 770 gefallen war. Im Jahre 1918 betrug die Einwanderung bereits
wieder 2022 Chineſen.
**), Bekanntlich Tönnen nad ber Berfaflung der U. S. A. nur Weiße, Schwarze und
Mote daB amerilanifhe Bürgerrecht eriverben.
»**) Vergleiche Iyenaga: „The relations of the United States with China and Japan“
(in „The Annals of the American Academy of Political and Social Science“, Juli 1914)
Seite 267.
Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 41
auf 26571 Acres im Jahre 1912*) auf ein rafches Steigen dieſes Prozent-
fages fchließen, wenn dem weiteren Erwerb von Grund und Boden durch bie
fparfamen und fleißigen Japaner nicht entgegengetreten wird.
Welches find nun die Gründe für diefe Abneigung der Amerilaner gegen
bie japanifde Einwanderung? |
Zweifellos ſpricht auch bei diefer Abneigung gegen die Einwanderung ein
wirtſchaftlicher Faktor mit**); er tft aber feineswegs der maßgebende wie in ber
oben bebandelten Frage bezüglich der Integrität Chinas und ber „Offenen
Tür” im Fernen Dften. Der Fleiß der japaniihen Cinwanderer, ihre Spar-
famfeit und die Genügfamleit in ihren Lebensbedingungen, die hieraus fich
ergebende Möglichkeit, für weit geringeren Lohn zu arbeiten, als dies der weiße
Arbeiter zu tun imftande tft, alle diefe Yaltoren mögen zur Berftärlung und
Bertiefung des Hafjes gegen die gelben Einwanderer beigetragen haben, ber
Hauptgrund, der auch wirkſam bliebe, wenn alle fonitigen wirtſchaftlichen und
ſozialen Gegenfäge fortfielen, ift die in den Norbamerilanern tief eingewurzelte
Abneigung gegen die farbigen Naffen. Es wird wohl heute von niemandem
mehr beftritten werben können, „daß es nicht ſowohl Vernunftsgrände find,
die den Japanerhaß in Nordamerila erzeugt haben, als ein in den Tiefen des
Sefühls veranterter, unbelehrbarer, ſchwer zähmbarer Raffenhaß“ **”).
Diefer Haß bat feinen Hauptgrund in der Affimilationsunfähigleit der
gelben Raſſe. Während fi die Einwanderer aus Europa mehr oder weniger '
ſchnell affimilieren und im amerikaniſchen Volle aufgeben, fcheint eine Affimilation
der Aftaten mit den Weißen in Nordamerila unmöglid. Der gelbe Einwanderer,
und insbefondere der Japaner, wird ftet3 feinen Nationalcharakter und die ihm
von Kindheit an eingeimpften Traditionen beibehalten, und er wird aus dieſem
Stunde immer einen fremden Beftanbteil in ber Bevöllerung bilden.
GSelbftverftändlich ift diefer Haß dort am ftärkiten, mo man am meiften
mit der gelben Raſſe zu tun bat, das beißt im Weften der Union, und von
hier aus werden alle Hebel in Bewegung gejest, um die Bundesregierung zu
einer endgültigen Regelung der Aftatenfrage zu veranlaffen, das heißt zu einem
wirffamen und vollftändigen Ausfchluß der gelben Raſſe. Denn nur hiermit
glaubt der Weftftantler fich zufrieden geben zu Tönnen, da in feinen Augen bie
japaniiden Einwanderer „eine immer drohende Gefahr“ für die weiße Be
völferung in den Weftftanten find, mögen fie nun in großen Maſſen binüber-
kommen oder nur einzeln und in geringer Anzabl}). Für weniger drohend wirb
*) Bergleihe Schulge- Grokborftel: „Die Yapanerfrage in den Vereinigten Staaten
bon Rordamerita.”.
"*) Rathgen, a. a. O. ſcheint dem wirtichaftlihen Faltor eine allzugroße Bedeutung bei⸗
zumeſſen, wenn er (Seite 125) die wiritſchaftlichen Gegenſätze als den „tatſächlichen Unter⸗
grund“ für die antijapanifhen Stimmungen in der pazifiihen Welthälfte bezeichnet.
0) Bergleihe Schulge-Broßborftell, a.a.D., Eoolidge, a. a. O., Seite 841.
: +) Vergleiche den Brief des Mitglieds für Kalifornien im Nepräfentantenhaufe E. A. Hayes
im „Dutloof" vom 14. Yebruar 1914 (Seite 340).
493 Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan
dieſe Frage in den Dftftaaten gehalten, wo man auſcheinend ber Anficht ift,
fie auf diplomatifdem Wege durch gegenfeitige Zugeltändnifie aus der Welt
ſchaffen zu können, und hofft, daß fie mit der Zeit an Schärfe verlieren wird.
Hiergegen fpricht jedoch, wie Profeffor Coolidge in einem im Yrühjahr 1914
gehaltenen Vortrage über „das Raffenproblem der Vereinigten Staaten“ hervor⸗
gehoben bat, die Erfahrung, daß fi, während auf religiöfen und ähnlichen
Gebieten eine immer größere Duldfamleit eintritt, in allen Völlern die Ab-
neigung gegen fremde Nafjen immer mehr feſtigt. An ein Abnehmen des
Hafles gegen die Japaner ift demnad gar nicht zu denfen, vielmehr ſpricht
alle Wahricheinlichkeit dafür, daß die Abneigung gegen die gelbe Raſſe immer
tiefere Wurzeln jchlagen und immer allgemeiner werden wird, fo dab Raffen-
fümpfe keineswegs fo außerhalb jeglicher Möglichkeit Itegen, wie manche
Amerilaner zu wähnen fcheinen.
Denn darüber muß man fi doch Mar fein, daß fih die Japanerfrage
nicht fo einfach enticheiden läßt, wie die Negerfrage, die, da aud fie auf der
Abneigung gegen eine andersfarbige Raſſe beruht, im Grunde mit dem Problem
der gelben Einwanderung viel Ähnlichkeit bat. Jeder, der die amerilanijchen
Berbältniffe auch nur einigermaßen kennt, weiß, daß die Negerfrage noch
feineswegs aus der Welt gefchafft ift, mögen die Neger auch nad dem Bud)»
ftaben des Geſetzes den Weißen gleichgeftellt fein. Dies beweiſt am beften bie
im Süden der Unton herrſchende Feindfeligleit der weißen Einwohner gegen
ihre ſchwarzen „Mitbürger“, die ihren ſchärfſten Ausdrud findet in der
zwar gefeßwidrigen, dennodd aber — nolens, volens — gebuldeten Lynch⸗
juſtiz.
Aber in einem ſehr weſentlichen Punkte liegt ein Unterſchied zwiſchen der
ſchwarzen und gelben Stage. Während um die Behandlung der Neger in den
Bereinigten Staaten niemand fi große Sorge macht, vielleicht nur dann und
wann ein allzuzart befaiteter Menſchenfreund feine Stimme erhebt und gegen
die Unmwürdigleit des Negerhafles für eine fo freiheitliebende Nation wie die
Amerilaner predigt, fteht Hinter den japanifchen Einwanderern die nicht zu
unterfhähende Kriegsmacht Japans. Nie und nimmer wird Japan dulden,
daß feine Söhne in der Union ebenfo behandelt werden wie die Schwarzen,
und es wird feine ganze Macht einjegen, um Sühne zu verlangen für jegliche
Verlegung des hohen, vielleicht überipannten japanifhen Ehr⸗ und National-
gefühls. Schon jet verlangt Japan die Gleichitellung feiner Landesfinder mit
denen anderer Nationen und fordert, daß den Japanern unter den gleichen
Bedingungen die Einwanderung gejtattet werde, wie den Angehörigen der weißen
Raſſe. Ob die Regierung der Vereinigten Staaten biefen an fid) vielleicht
berechtigten Forderungen nacdhlommen wird, iſt doch noch fehr zu bezweifeln.
Ohne völlige Gleichſtellung mit der weißen Raſſe wird fich der Japaner aber
niemals zufrieden geben. Aus politifhen NRüdfichten wird man vielleicht noch
mandmal in Zolio nachgeben, aber dieſe Forderung wird immer wieder von
Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 43
neuem geftellt und, wenn bie politifche und militärifche Konftellation einmal
günftig ift, mit aller Energie durchgefeht werden. —
Ebenfo wie in den Vereinigten Staaten wächſt allmählich auch die anti-
japantide Stimmung in den englifchen Dominien von Auftralien und Kanada.
Hierhin hatte fi der Strom der japaniihen Einwanderer gewandt, als ihnen
die Bereinigten Staaten verichloffen wurden. Aber nad) anfänglicher Vegeifterung
über die billigen Arbeitskräfte erfolgte auch bier der Umjhwung. Japan war
alfo wiederum gezwungen, fih nad einem neuen Abjahgebiet für feine über-
ſchũſſige Bevölterung umzuſehen; denn auf den japanifchen Inſeln ift die Volls⸗
jiffer an der Grenze ber Ernährungsmöglichkeit angelangt. Allerdings befinden
ſich im Hollaido und auf Formoſa menfchenleere Gegenden, die an und für
fich wohl geeignet wären, für einige Jahre die zur Abwanderung gezwungene
Bevölkerung ber japanifchen Inſel aufzunehmen, aber die Tatfadhe, daß biefe
Gebiete trotz jahrzehntelanger Kolonifationsarbeiten noch immer dünn bevöllert
find, beweiſt am beiten, daß fie für die japaniſche Kolonifation im großen
Umfange nicht geeignet find, da, wie Rathgen”) ausführt, einerjeits Klima und
Broduftionsbedingungen ben Japanern nicht zufagen, und da anderſeits der
landwirtſchaftliche und induftrielle Großbetrieb dort fehlt.
China ift dicht genug bevölkert und zeigt auch feinerfeitg einen immer
ftärler werdenden Geburtenüberjchuß, fo daß hier eine Unterbringung der über-
fhüffigen Bevölferung Japans ausgefchlofien iſt. Korea mag allerdings noch
für einige Hunderttaufende japanifche Koloniften Plab haben; aber auch bier
nimmt jebt die eingeborene Bevöllerung an Fruchtbarkeit wieder zu, jo daB es
unwahrſcheinlich ift, daß diefes Land auf Jahre für eine Kolonifation in
größerem Maßſtabe in Betracht kommt.
Neuerdings bat fi daher bie japaniſche Auswanderung nad) dem
romaniſchen Amerifa gewandt, insbefondere nad) Peru, Chile und Brafilien**),
wo bie japanifchen Arbeiter auf den großen Kaffeeplantagen bereit in großer
Anzahl neben den Stalienern arbeiten. Die japanifche Regierung unterſtützt
diefe Bewegung, indem den nad Südamerifa gehenden Dampferlinien und
ben betreffenden Ausmwanderergefellichaften Prämien gezahlt werden. Daß dies
alles nicht nur aus dem Grunde geichieht, den Wünfchen der Regierung in
Waſhington entgegenzulommen und den Auswandererfttom von der Küſte der
Bereinigten Staaten abzulenten, liegt Har auf der Hand.
Zweifellos wird Japan, wenn erjt die Einwanderung lange Zeit genug
gedauert hat und die japantfchen „Intereſſen“ in Südamerifa groß und wichtig
genug geworden find, mit feinen imperialiſtiſchen Plänen nicht länger hinter
dem Berge halten und die Frage der Gründung eines „Shin Nihon“, eines
„Reuen Japans“ auf amerllanifchem Boden aufmwerfen***). Denn die ſchwachen
*) Vergleiche Rathgen, a. a. D., Seite 128.
”®) Bergleihe Grünfeld, „Die japanifhe Auswanderung”, 1913, Seite 114 ff.
”*) Vergleiche Aubert: „Americains et Japonais“, 1908, Seite 279.
44 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan
füdamerifanifhen Regierungen werben den japaniſchen Forderungen nicht die
Macht entgegenfegen können wie die Vereinigten Staaten.
In der Maffeneinwanderung der Japaner nad) Sübamerila liegt nun auch
eine nicht zu unterfchägende Gefahr für die Vereinigten Staaten. Wie die
Union den Gebietserwerb durch eine europäiſche Macht in Südamerika ftets
verhindert bat und jegliden Gelüften europäiſcher Staaten, fi eine der all-
täglichen Revolutionen oder die chroniſche Geldverlegenheit gewiſſer Staaten zu-
nuße zu machen und ſich auf fübamerilaniihem Boden feftzufeben, auf das
entſchiedenſte entgegengetreten ift, ebenjo wird die Unton ihre feit beinahe einem
Jahrhundert ftreng durchgeführte Politik, wie fie in der Monroe-Doltrin zum
Ausdrud gelangt ift, auch Japan gegenüber verfolgen. Die Vereinigten Staaten
werden und möüfjen verhindern, daß die Träume der japanifchen Imperialiften
von einem „Shin Nihon“ fi in Südamerika verwirllichen, daß Japan
fihd in Südamerika das für ihn notwendige Kolonifationsgebiet zur Unter⸗
bringung und Ernährung feines reichen Menſchenmaterials ſchafft, das ſchon
heute einen jährlichen Zuwachs von 700000 Seelen zu verzeichnen hat und im
Zukunft aller Wahrfcheinlichleit nach einen noch größeren jährlichen Zuwachs
aufweifen wird. Auch hierin liegt aljo die nahe Möglichkeit eine Zufammen-
ftoße8 zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan; denn derartige Fragen
laſſen ſich nicht durch Verträge und ſchöne Worte regeln.
Wir wollen an dieſer Stelle nicht unterſuchen, ob die Gerüchte auf
Wahrheit beruhen, die des öfteren die Luft durchſchwirrten, daß Japan den
Anlauf einer Kohlenſtation an der merilanifhen Küſte beabſichtige, und daß
Japan die indirelte Triebfeder zu den zahlreichen Bürgerkriegen Merilos in
ben lebten Jahren gewefen ift, um beſſer und leichter im Trüben fiichen zu
tönnen. Es ſcheint aber fo, als ob man in Wafhington felbft doch nicht fo
recht an das völlige „Desinteressement“ Japans glaubt, und- aus diejem
Grunde jet eine endgültige Regelung ber merifanifchen Frage herbeiführen
will, nit nur etwa, um die großen amertlanifchen Handelsinterefien im ſüdlichen
Nachbarſtaate zu ſchützen und zu fördern, fondern zweifellos auch, um dort eine
Regierung einzufegen, die den wohlwmollenden Fingerzeigen des „großen Bruders”
in Waſhington Folge leitet, und die imftande und gemillt ift, jeglichen Gelüften
anderer Staaten auf mexikaniſches Gebiet mit aller Macht entgegenzutreten.
Erſt kürzlich erllärte der Senator von Illinois, Lewis, in Waſhington,
daß wegen der merilanifchen Frage ein Krieg zwilchen ben Vereinigten Staaten
und Japan vor der Zür ftehe und bei ber weiteren Verfolgung ber amerilaniſchen
Politik Merilo gegenüber zum Ausbruch kommen müfle Wir glauben jedoch
nicht, daß die merilanifhe Frage — jest wenigſtens noch nicht — der Funle
fein wird, der das amerilanifdh-japanifche Pulverfaß zur Erplofion bringen
wird. Die Äußerung des Senator8 beweift jedoch, daß man auch in den mehr
öftliden Staaten der Union an einen „ewigen Frieden“ mit Japan nicht mehr
fo recht glaubt.
Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 45
III.
Wir glauben gezeigt zu haben, daß die beiden oben behandelten Fragen
von größter Bedeutung ſein werden für die künftige Geſtaltung der Beziehungen
zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan. Aber dieſe beiden Fragen
bilden nur gleichſam die Eckpfeiler des weit größeren Problems, das wir hier
in aller Kürze ſtreifen wollen, nämlich der Frage: ſoll die weiße oder die gelbe
Rafſe im Stillen Dzean die Vorherrſchaft haben?
Bedeutende amerilantihe Gelehrte, mie ‘Münfterberg*) und Coolidge**)
baben dieſen Kampf um die Vorherrſchaft im Stillen Ozean als leere Nedensart
bezeichnet, die eigentli gar nicht bedeute. Hierbei fcheint ung aber ber
Wunſch ber Vater des Gedankens zu fein, denn man wird in Amerila kaum
die Augen verfchliegen können vor den Tatſachen, die — befonder in den
legten Jahren — eine allzudeutliche Sprache fpreden. Gibt doch Eoolidge***)
jelbft zu, daß der Stille Ozean für die Vereinigten Staaten von außerordent-
licher Wichtigfeit ift, und daß „iährlih . . . die dortigen Begebenheiten für
das amerikaniſche Volt wichtiger” werben. Kurz darauf ftellt er dann feit:
„Für Yapan bedeutet aber das Stille Meer Anfang und Ende feiner Politik.”
Gewiß: „Raum für alle hat die Erde;“ aber glaubt denn Coolidge wirklich,
daß ein friedliches Nebeneinanderarbeiten der beiden imperialiftifhe Tendenzen
verfolgenden Weltmädhte im Stillen Ozean auf die Dauer möglich fein wird?
Wohl faum; denn die neueſten Ereigniffe der Weltgeichichte Iehren — wenn
es die Vergangenheit nit ſchon zur Genüge bemiefen haben follte —, daß
auch der friedliche Wettbewerb zweier Völker auf dem Yelde des MWeltmarltes
feine fchlieglihe Löfung im Kampfe mit den Waffen findet. Denn, wie das
Sprichwort jagt: „Wo der Bäder wohnt, Tann der Schneider nicht wohnen,” und
wie im Leben des einzelnen, fo tft e8 auch im Leben der Völker. Einer von
beiden muß fchließlih weichen. Seine emporjtrebende, Träftige Nation aber —
und als folde kann man doch beide, die Vereinigten Staaten fomohl wie
Sapan, bezeichnen — wird freiwillig den Kampfplatz verlaffen, mag fie auch
noch fo friedliebend fein, wenn fie weiß, daß die Behauptung des Feldes für
fie ein Lebensintereffe tft.
Der Kauf von Alasta (1868), die Annerion von Hawai (1898), der
Erwerb der Philippinen und der Inſel Guam in den Mariannen (im Frieden
von Paris 1898), die Erwerbung der Inſel Tutuila in der Samoa- Gruppe
duch Vertrag mit Deutſchland und Großbritannien (1899), ſowie nicht zum
wenigften das Rieſenwerk des PBanamalanals beweiſen zur Genüge das Intereſſe
der Bereinigten Staaten im Stillen Dzean.
Schon der Staatsfelretär William H. Seward, dem auch das Hauptverdienft
an ber Erwerbung Alasfas gebührt, hat in den fechziger Jahren darauf Bin-
*) Münfterberg: „Die Amerifaner,” 1912, Band I, Seite 345.
»9) Coolidge: a. a. D., Seite 854.
95) Goolidge: a. a. D., Seite 328.
46 Die Dereinigten Staaten von Umerifa und Japan
gewieſen, daß der Stille Dzean mit feinen Küften und Inſeln der Schauplag
fein wird, auf dem ſich die großen Ereigniffe des zwanzigften Jahrhunderts
abfpielen werben; und wenn nicht alle Erfahrungen trügen, ſcheinen die Nord⸗
amerilaner auf diefem Schauplage der Weltgefhichte die Hauptrolle ſpielen zu
wollen”).
Aber au Japan hat fein „maritimes und pazifiſches Programm”, das
fein „Shin Nihon“ durch „den Zug nad) Süden”, das beißt nad) den Inſeln
und Inſelchen des Stillen Dzeans zu finden fucht**). Der frühere japanifche
Minister Baron Kanelo***) hat unummunden erflärt: „Wir befigen .... alle
möglichen Eigenfhaften, um unfer Land zu einer großen Nation zu erheben
und uns das kommerzielle Übergewicht auf dem Stillen Dgean und dem
afiatiſchen Feftlande zu fihern.” In diefer Erflärung Tommen die Ziele bes
japanifchen Imperialismus Har zum Ausdruck: es tft die wirtfchaftlicde Durch⸗
dringung — die zur Genüge befannte „Penetration pacifique* — Chinas
und-des Stillen Dzean als Vorbereitung für die fpätere politifhe. Denn diefe
ift, wie Chamberlain in den achtziger Jahren einmal hinfichtlich Kanadas
Stellung zu den Vereinigten Staaten gejagt hat, die regelmäßige, früher oder
ipäter eintretende Yolge der wirtſchaftlichen Durchdringung.
Hier im Stillen Ozean freuzen fi die — fagen wir zunächit, wirtichaft-
lichen Intereſſen der Vereinigten Staaten und Japans, bier Liegt der Punkt,
wo bie imperialiftifhen QTendenzen der beiden Staaten zufammenftoßen müſſen,
wenn feine von ihnen ihre transpazifiiden Träume aufgibt}).
Die Gefahr eines Kampfes um den Stillen Dzean läßt ſich alſo nicht
binwegleugnen, mag man auch noch fo oft erklären, daß der Große Ozean
genügend Raum biete für die wirtfchaftlihde Entwidlung aller Nationen und
nicht einer einzigen Nation gehören fönnefr). —
Wie wird fih nun dieſes Verhältnis zwifchen den Vereinigten Staaten
und Japan nad) dem Weltfriege geftalten? Welche Wirkungen wird die Zeil.
nahme der gelben Weltmadt an diefem Kriege auf die oben behandelten
Tragen ausüben?
Auf eine Befferung der Beziehungen ift mohl kaum zu rechnen; viel eher
werben die verjchievenen Gegenfähe zwiſchen den beiden Staaten noch ſtärker
werden.
Wir haben bereits auf die Eroberung von Kiautſchau bingemwiefen, ſowie
auf die vorausfihtli dauernde Feſtſetzung Japans in der Provinz Schantung.
Wie fi) die Verhältnifie beim Friedensſchluß geftalten werden, weiß heute Tein
*) Bergleihe Daenell: Geſchichte der Vereinigten Staaten von Amerila, Seite 168.
**) Vergleiche Kiellen: „Die Großmächte der Gegenwart”, 1914, Seite 196.
»*) Sanelo: „DOrganifation eines Tonftitutionellen Staates” (in Stead: „Unfer Baterland
Japan“, 1904), Seite 28.
+) Vergleiche Aubert: a. a. O., Seite 288 — vergleiche auch Kjellen: a. a. O., Seite 196.
tr) Vergleihe Eoolidge: a. a. O., Seite 814.
Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 47
Menſch; nur foviel fann man wohl mit Beftimmtheit vorausfagen, daß auch
Japan auf dem Friedenskongreſſe feine Rechnung präfentieren und feine Anſprüche
zum Zeil wenigſtens auch durchſetzen wird. Zu diefen wird aber in erfter
Linie die Abtretung von Kiautichau oder, falls dieſes — wie wir hoffen —
an Deutſchland zurüdgegeben wird, bie Überlaffung irgendeineg anderen
Stüdes von China gehören. Der hierdurch entitehenden Gefahren für China
und ber notwenbigerweife aus der Belebung folgenden Gefährbung der
amerilanifhen Intereſſen ift bereitS oben gedacht worden.
Daß die Einwanderungsfrage nah dem Kriege leichter zu löſen fein wird,
läßt ih mit Fug und Recht bezweifeln. Dur den fchändlichen Berrat
Englands an der weißen Raſſe und durch die dringenden Hilferufe um Japans
Unterſtützung auf den europätichen Schlachtfeldern von feiten der Verbündeten
wird das ſchon ohnehin ftarfe Selbftbewußtfein und Nationalgefühl der Japaner
in bedeutendem Maße noch erhöht werden. Die Folgen der ErfenntniS von
den Schwächen der weißen Raffe werden aber auch in der Haltung Japans
in ber Einwandererfrage den Bereinigten Staaten gegenüber bald zutage
treten.” Mit größerer Schärfe wird die japaniiche Regierung nad) dem Striege
die Bleichftellung der japaniſchen Einwanderer mit denen anderer Länder fordern
und nicht ruhen, bis dem durch die Zurückſetzung aufs tieffte verlegten japanijchen
Stolze volle Genugtuung verſchafft tft.
Wie wollen die Amerikaner die Naflenfrage dann Iöfen? Weber ein
internationale8 Schiedsgericht noch ein nationaler Gerichtshof trgendeines
Landes ift imftande, eine derartige Frage zu löfen, wenn zwei große und
mächtige Staaten als Vertreter der beiden Raſſen auftreten.
Bon ganz befonderer Bedeutung aber ift die Beſetzung ber deutſchen
Sübdfeeinfeln Dur) die Japaner. Durch die Beſetzung der Mariannen, Karolinen-
md Marſchall⸗Inſeln ift Japan Amerika bedeutend näher gerüdt, näber, als
es den Amerilanern lieb fein Tann. Zugleich aber tft es die erfte Feſtſetzung
ber gelben Weltmacht in der Südfee, die erfte Etappe auf dem Wege nad)
dem amerikaniſchen Erbteil.
Die fich bieraus für die Vereinigten Staaten ergebenden Gefahren ſcheint
man aud in Waſhington allmählich) einzufehen und richtiger einzufchägen, als
bies bisher der Yall war.
Bis in die neuefte Zeit glaubte man fi vor Japan ziemlich fiher. Man
wies auf die alte Yreundichaft ber beiden Länder hin, auf die engen Handel3-
beziehungen und vor allem auf die Dankbarkeit, die die Japaner ihren Xebrern,
den Amerilanern fchuldeten. Alljährlich kämen hunderte japaniſcher Studenten
na den Bereinigten Staaten, um an den dortigen Univerfitäten und Schulen
amerikaniſche Wiſſenſchaft und amerilanifchen Geiſt in fi) aufzunehmen. Auch
erwähnt man mit Vorliebe die Feitreden großer japanifcher Perfönlichleiten auf
Kongrefien und Banletten, die man in der Union ihnen zu Ehren veranitaltete.
Dana ſcheint e8 allerdings, als ob es Heine befferen Freunde geben
48 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan
— ⸗
könne als die Vereinigten Staaten und Japan. Aber die Medaille hat auch
eine Kehrſeite. | nn =
Mit der traditionellen Freundfchaft ift es nicht mehr fo weit her, al$ man
fih gerne glauben machen möchte. Sie hat einen tiefen Riß erhalten, einen
Nik, der nicht befeitigt werden fonnte, obwohl bereitS ein Jahrzehnt feitdem
verfloffen if. Dies geihah durch die Haltung Amerilas bei den Friedens⸗
verhandlungen in Portsmouth im Jahre 1905. Mögen die japaniihen An-
ſchuldigungen, daß die Vereinigten Staaten das japanifhe Voll um die mit
Sicherheit erwartete ruſſiſche Kriegsentfhädigung gebracht haben, wahr jein ober
nicht, jedenfalls ift e8 Tatfache, daß feit jenen Tagen in den amerilanifch-japanijchen
Beziehungen eine ftarle Trübung berrfcht, Über die man ſich trob Banketten und
Berbrüderungsfeften nicht hinwegtäuſchen Tann.
In diefem Punkte befteht eine gewiffe Ähnlichkeit mit dem Verhältnis
Japans zu Rußland und Deutſchland. Auch in den freundfchaftlichen Beziehungen
zu diefen Ländern hat ihr Eingreifen auf dem Friedensſchluſſe von Shimonofelfi
1895 eine Wendung zum fchlechten zur Folge gehabt: mit Rußland hat Japan
1904/05 abgerechnet, an Deutſchland hat es fi 1914/15 durch die Teilnahme,
am Weltfriege gerät. Auch der Tag der Abrechnung mit den Bereintgten
Staaten für ihre Intervention im Jahre 1905 wird kommen, vielleicht, um bie
Feſtſtellung NiegelSbergers*) zu vervollitändigen, daß Japan - in der lebten
Zeit alle zehn Jahre einen Krieg führt, im Jahre 1924/25.
Wie lange es noch gelingt, die endgültige Löſung binauszufchieben, ift
natürlip nicht Tvorauszufagen; es können zehn, dreißig, fünfzig und mehr
Fahre darüber ins Land geben, e8 kann aber ebenfogut bereit8 in der nächiten
Zeit zur Entiheidung kommen. Vorausſichtlich aber wird ein wirtfchaftlicher
Kampf zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan vorausgeben, der jchlieklich
— ähnlich dem deutſch⸗engliſchen Konkurrenzkampfe — zum politiihen Konflikt
ausreifen wird. Wenn die Zeit dann reif ift, werden fi genügend Gründe
finden, die den Bruch herbeiführen; an Kriegsvormänden hat es in der Welt.
geſchichte ja noch niemals gefehlt.
jedenfalls wird dieſer Krieg früher oder fpäter ausbredhen, denn die
amerilanifh-japaniiche Frage bildet — wie wir in kurzen Umrifjen gezeigt zu
haben glauben — gleichſam einen gordiſchen Sinoten, der nur durch das
Schwert gelöft werden kann. Ob der „Alexander“, der diefen Knoten löſen
wird, ein Amerilaner oder ein Japaner fein wird, ift natärli heute
noch völlig ungewiß. Zweifellos find die Amerifaner ein ſehr friedliebendes
Boll, und ihre DVerdienfte um da8 Werl der Haager Konferenzen find
zur Genüge befannt. Aber „es Tann Fein Menſch im Frieden leben, wenn
e8 dem böfen Nachbar nicht gefällt“. Die Wahrheit dieſes Sprich⸗
wortes werben aud bie Amerilaner bald erkennen, und fie werben Teinen
”) Riegelsberger: a. a. D., Seite 85.
Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 49
Augenblid zögern, wenn ein anderer Ausweg nicht mehr vorhanden ft, ihre
Intereſſen mit dem Schwerte in der Hand aufs Außerfte zu verteidigen; denn
noch iſt die Friedensliebe der Amerikaner nicht zur „Friedenskrankheit“ aus⸗
geartet, und fie wiflen wohl, daß es für ein Boll nichts Schlimmeres und
Gefährlicheres gibt, als „peace-at-any-price-men“ zu fein, wie dies Roofevelt
einmal ausgedrüdt hat, das heißt den Frieden zu erhalten, jelbft wenn das
Land darüber zugrunde zu gehen droßt.
Die eifrigen Rüftungen zu Lande und zu Waſſer, die jebt ins Werl geſetzt
werden, lafien erfennen, daß bie Vereinigten Staaten bereit find, ihre Intereſſen
gegebenenfalls mit den Waffen zu verteidigen. Daß dieſe Vorberetiungen in
eriter Linie gegen ben Nachbarn jenſeits des Stillen Dzeans gerichtet find,
geht aus den Kommiffionsreden in den gejeßgebenden Körperichaften, ſowie
aus den zahlreichen Zeitungs. und Zeitfchriftenartifeln hervorragender Männer
über die Rüftungsfrage hervor. Sie alle ftimmen darin überein, daß der von
Deutihland ſtets durchgeführte Grundſatz allein richtig fe:
„Si vis pacem, para bellum.“
Grenzbsten 11 1915 4
IS
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—
Unſere nächſte Handelspolitik
‘Don Dr. Hugo Boͤttger, M. d. R.
wei Strömungen werben nach dem Kriege in den großen Handels⸗
ftaaten, die durchweg unmittelbar oder mittelbar ſtark an den
Kriegsmwirren beteiligt find, gegeneinander kämpfen: die aus
maßlofer Verbitterung geborene Boylottbewegung, der Verſuch fich
von Erzeugniffen aus den bisher feindlichen Staaten unabhängig
zu machen und das mindeftens ebenfo ftarke Bedürfnis der Großmaͤchte, ſich
nach der finanziellen Blutabzapfung wieder zu erholen und Handel und Wandel
mindeftens in denfelben Zuftand wie vor dem Kriege zurüdzubringen, wenn
mögli noch das Gefchäft zu heben. Dazu gehört aber außer dem Wieder-
aufbau des Binnenmarktes auch die Belebung des Abſatzes nad) fremden
Ländern. Mag auch einige Zeit darüber hinweggehen, beide Strömungen
werden fi) doch ausgleichen müffen, und die Nationen werden einfehen, daß
auf die Dauer der Zorn ein ſehr mangelhafter Berater if. Was unfere
Handels- und Wirtſchaftsverhältniſſe angeht, fo find bei ihrer Eigenart einer
jeden gegen uns gerichteten Boylottbemegung enge Grenzen gezogen. Es iſt
der Vorteil und der Nachteil unferer Ausfuhr, daß fie nad einer großen Zahl
von Ländern geht und in viele Hunderte von Handelsartikel zerfällt. Da wird
dem Boykott von vielen Seiten ſchon die Arbeit ſehr ſchwer gemadt. Wir
dürfen alfo in diefer Hinſicht ziemlich unbeforgt in die Zukunft fehen.
Der große Weltkrieg fiel mitten in die Vorbereitungen zu den neuen
Handelsverträgen binein. Mit Schluß dieſer Legislaturperiode mußte auch
eigentlid die parlamentarifde Arbeit für diefen Gegenftand beginnen, da bie
HandelSverträge im Sabre 1918 ablaufen follten. Inzwiſchen haben fie ja
größtenteils ihre Wirkſamkeit verloren. Man wird fih der Verhandlungen im
Neichstage im Januar vorigen Jahres entiinnen. Der Staatsfetretär- des
Innern hatte erflärt, die verbündeten Regierungen wollten feinen Vertrag
fündigen und fie hätten auch nicht die Abficht, eine Novelle zum Zolltarif von
1903 bherauszubringen. Das wurde von der maßgebenden Induſtrie nicht
ohne Bewegung aufgenommen. Die mit uns lonlurrierenden Staaten hätten
eine erheblich ſtärlere Stampffreudigleit an den Tag gelegt und es könnte
Unfere näcfte Handelspolitif 51
zweifelhaft erfcheinen, ob bei dem von der Regierung angebeuteten beſcheidenem
Maß von Borbereitungen unfere Intereſſen wirklich ausreichend wahrgenommen
werden Tönnten. Es müßte bejonderd beachtet werden, daß die Langfriftigkeit
unferer Hanbelspolitif, die ein befonderes wertvolles Stück darftellte, in Gefahr
gebracht werden würde, falls die Gegenparteien, wozu fie berechtigt fein würden,
jeden Handelövertrag immer nur auf ein weiteres Jahr in Gültigkeit beftehen laſſen
molten. Das würde zu bedenklihen Konjunkturſchwankungen und Unficher-
beiten fonftiger Art führen. Um unferen handelspolififchen Htmmel nicht wolfenlos
eriheinen zu laſſen, kam auch noch die ruffiihe Drohung hinzn, die unfer
Einfuhrſcheinſyſtem mit der Sperrung der ruffiihen Wanderarbeiter beantworten
wollte. Man bat aber diefer Drohung eine übermäßige Bedeutung nicht bei-
gelegt, weil das geringe Duantum von Roggen, das mit Hilfe der Einfuhr-
heine nad Rußland ausgeführt wird, in feinem Verhältnis zu der gewaltigen
Maſſe von landwirtſchaftlichen Erzeugnifien fteht (über 900 Millionen Marf),
melde wir aus Rußland jährlich bezogen haben. Auch das bandelspolitifche
Berhältnis zu den Vereinigten Staaten war in hohem Maße verbefferungsbe-
dürftig und fchliegli bot auch die Neuregelung der Handelsbeziehungen zu
Ofterreih-Ungarn einige Schwierigfeiten, was diejenigen Leute bei uns nicht
überfehen follten, welche ziemlich leichthin von der mitteleuropätichen Zollunton
ſprechen. Durch alle diefe Vorarbeiten ift, wie gejagt, vorläufig ein Strich gemacht
worden. Die Weltgefhichte hat id mit anderen großen Aufgaben befaßt.
immerhin ftehen wir auch gerade infolge des Kriege vorausfihtlih vor
großen bandelspolitiiden Umgeftaltungen, ganz glei, ob Deutichland auf der
ganzen Linie den Frieden diltieren fann oder zu weitgehenden Kompromiſſen
feine Hilfe nehmen muß. Da werden zunächit bei Friedensſchluß unfere Handels⸗
beziehungen zu unferen Feinden gründlich erneuert werben. Es tft Doch gerade
die Eigenart diefes Krieges, dat an ihm außer den Vereinigten Staaten und
den Niederlanden alle großen Handelsmächte beteiligt find. Der Außenhandel
der am Striege beteiligten Mächte umfaßt einen Gefamtwert von rund
80 Milliarden Marl, während auf alle übrigen Staaten rund 30 Milliarden
fommen, wovon der Xömenanteil mit annähernd 18 Milliarden auf die Unton
fält. Man fagt alfo nicht zu viel, wenn man diefen Weltfrieg als das große
Ringen der Handelsmächte miteinander bezeichnet. Die treibende Kraft der
Kriegswirren, Großbritannien, geht ja auch auf nichts anderes hinaus, als auf
Bernihtung und Ausfchaltung des deutſchen Wettbewerbs. Demgemäß wird,
wie die riedensverhandlungen überhaupt, die Neugeftaltung der Handels-
polttit ein fehr fehwierige8 und langwierige Kapitel bilden. Und wenn wir
daher nicht mit ſehr Haren und möglichſt einfachen Yorderungen auf den
Plan treten, fo wird der Wunſch unjerer Feinde, die Friedensverhandlungen
moͤglichſt in die Länge zu ziehen, leicht in Erfüllung geben können.
Die Zeit ift noch nicht gefommen, alle Einzelforderungen in ber Dffent-
lichkeit zu beſprechen. Es muß dabei unferen großen Wirtihaftsorganifationen
4*
52 Unſere nachſte Handelspolitik
der Vortritt gelaſſen werden. Aber man darf es ausſprechen, daß im zukünf⸗
tigen Friedensvertrage ein engerer Zuſammenſchluß mit dem einen oder anderen
uns befreundeten Staate nicht außer Betracht bleiben kann. Man wird im
übrigen an den bewährten Grundſätzen der Meiſtbegünſtigung feſthalten, aber
derart, daß wir befugt bleiben, unferen Bundesgenoſſen ſowie den im Kriege
neutral gebliebenen europäiſchen Staaten Borzugsbedingungen einzuräumen.
Es wird auch bereits in Betracht gezogen, einen Unterſchied der Zollſätze für
die Waren, die auf der Land» oder Seefeite eingehen, einzuführen, und
zwar die Landfeiten zu begünftigen, was zugleich einen Ausgleich der Unter-
ſchiede der Zransportloften ermöglidden würde. Mit Frankreich, mit dem uns
bisher die glatte Meiftbegünftigung verband, wird ein Zarifvertrag anzuftreben
fein. Schließlich ift dafür Sorge zu tragen, daß im Eiſenbahnverkehr in unferen
Nachbarſtaaten im Dften und Weiten keine Beftimmungen mehr Gültigkeit haben
dürfen, welche geeignet find, die Zollabmachungen aufzuheben oder zu durch⸗
freugen. Die Unterfheidungen der Transportloften für die vertragsichließenden
Nahbarftaaten müßten aljo wegfallen. Sehr erftrebenswert ift, daß die Politik
ber offenen Tür für alle Solonialgebiete, namentlih auch für die engliſchen
Kolonten, weiteftgehende Anwendung findet.
Wenn man fi und anderen in der deutſchen Lffentlichleit große Be—
I&hränktungen bei der Erörterung der Kriegsziele auferlegte, fo geſchah es viel-
fa unter der ſtillſchweigenden Vorausfehung, daß dur allzumeitgehende
Forderungen nad) neuem Landbefi die Zukunft unferer Handelspolitik und
damit da8 Gedeihen unferer Induſtrie und die Beichäftigung unferer Arbeiter
in Frage geftellt werben könnte. Man kann aus anderen Gründen für Zu-
rüdhaltung eintreten. Unfere zufünftige Handelspolitik ift gewiß nicht völlig
unabhängig von der Neugeftaltung der Landgrenzen, aber fie ift auch Teines-
wegs davon beberrfht. Was wäre wohl aus der Eroberungspolitif fo großer
Handelsmädte wie Großbritannien und der Vereinigten Staaten geworben,
wenn fie ihre Erpanfionsbeitrebungen von den NRüdfichten auf die weitere Ent-
widlung ihres Handelsverlehrs abhängig gemacht hätten. Beide find rüdfichts-
108 vorangeſchritten und wir ſehen, daß auch eine Fleinere Handelsmadt, wie
etwa Japan, ſich feine Schranken auferlegen läßt und frobgemut einer größeren
Zukunft entgegengeht. Mag auch der deutſche Erport feine Eigenarten haben,
was nie aus dem Auge gelaffen worden ift, im großen und ganzen ijt doch
richtig, daß wir e8 ebenfo halten können wie die anderen Großmädite.
Gobineau über Deutfche und Sranzofen
Don Prof. Dr. £udwig Shemann
iederholt während des jetigen Krieges gefragt, wie wohl Gobineau
a 8 zu dieſem und zu uns ſich geſtellt haben würde, und von be-
on freundeter Seite eindringlich aufgefordert, ihn, wie es mit andern
EAN Geiftesmäcdtigen wohl gefchehen, als Zeugen für uns heranzu-
—— ziehen, habe ich ſolchen Anfragen und Aufforderungen gegenüber
bisher, wenigſtens vor der Offentlichkeit, Zurückhaltung bewahren zu ſollen ge⸗
glaubt, hauptſächlich aus dem Grunde, weil ich der Meinung war, Gobineaus
Verhältnis zu den Deutſchen und zum Deutſchtum in einer Reihe früherer, noch
dazu in Buchform vorliegender Schriften ſo gründlich, allſeitig und unanfechtbar
feſtgefſtellt und aus den Quellen belegt zu haben, daß alles weitere über ben
Gegenftand fortan nur als Wiederholung erfcheinen lönnte*). Wenn ich dennoch
zu diefem bier nochmals das Wort ergreife, jo gejchieht es, weil gerade neuefter-
dings von Gobineau allernächſt ftehender Seite verfucht worden ift, die von
mir begründete und in Deutſchland jetzt allgemein verbreitete Auffaffung anzu-
fehten, ja in ihrem Kern zu erfchüttern. ch werde unter diefen Umftänden
nit umhin Tönnen, das Weſentliche meiner früheren Darlegungen nochmals
furz zufammenzufafien, habe mich aber nunmehr, der Zeit Rechnung tragend,
entſchloſſen, jene durch ein bedeutfames Neues zu erweitern, das eigentlich feine
Stelle erft im Schlußbande der Biographie hätte finden follen, im gegenwärtigen
Augenblid aber duch die vielen intereflanten und fchlagenden Parallelen, die
e8 an die Hand gibt, noch weit unmittelbarer wirken dürfte: nämlich durch
Mitteilungen über Gobineaus Erlebniffe während des Krieges 1870/71 und
vor allem durch die Analyje feiner bisher völlig unbelannten Schrift über
biejen Srieg.
Ehe ich aber zu diefen Dingen übergebe, liegt e8 mir ob, den erwähnten
Verſuch, der Stellung Gobineaus zu unjerem Vaterlande ein von Grund aus
) Ich vermweife bier in erfter Linie auf die ganz unferem Thema gewibmete Schrift
„Sobineau und die deutihe Kultur”. Leipzig, Sr. Edardt, 1910. Demnächſt auf den eriten
Band der Biographie „Sobineau”, Straßburg, Trübner, 1913, nebit dem Beiband „Quellen
und Unterfuhungen zum Leben Gobineaus”, ebenda 1914. Auch in dem früher erfchienenen
„Gobineaus NRafienwert, Attenftüde und Betrachtungen“, Stuttgart, Frommann, 1910, findet
fi manches Beachtenswerte bierfür.
54 Gobineau über Deutſche und Sranzofen
anderes, ja umgelebrtes Anfehen zu geben, zurückzuweiſen. Schwer tft bies
nicht, wenn auch zunächſt der Umftand, daß bie eigene Toter Gobineaus es
ift, weldde ihren Vater von uns loszureißen unternimmt, deren Worten in den
Augen Unbelehrter einen gewifien Nimbus verleihen dürfte.
Jahrelang habe ich mich bei meinen biographifchen und fonftigen Arbeiten
über Gobineau der mwohlwollendften und nugbringendften Förderung durch bie
Genannte, Frau Baronin von Guldencrone, zu erfreuen gehabt. Da kam der
Krieg, der ihr, wie ben meiften nichtdeutſchen Zeitgenofien, nur in der uns
allen ja befannten Beleuchtung bargeftellt wurbe, und unfere angeblich durch
die „Zerftörung Löwens“ begangenen Bandalismen boten ihr den Anlaß, ſich
von dem Geiſteswerke, das vor einundzwanzig Jahren ſich in der Gobinean-
Bereinigung verlörpert und ſeitdem den Ruhm bes Schöpfers bes Verſuches
über die Ungleichheit ber Menfchenraflen und ber Renaiffance weithin ausge»
breitet bat, entrüftet zurüdzuziehen. Jetzt will fie in einem offenen Brief an
den QTemps*) dartun, daß die enge Verkettung Gobineaus mit Deutſchland
überhaupt zu Unrecht ftattgefunden habe, nur auf einem Mifverftehen berube;
daß Gobineau eine fehr geringe Meinung von ben Deutſchen gehabt, und daß
eine Bewunderung vielmehr England gegolten habe, „woraus ihm das heutige
Frankreich Leinen Vorwurf werde machen können.“
Um letzteren Punkt beiläufig abzutun, fo iſt durchaus zuzugeben, daß
Gobineau, im Banne feiner anthropologiiden — germanifden — Geſchichts⸗
auffaſſung, die Engländer ſehr hoch geſchätzt hat. Das viele Große, das die
engliſche Geſchichte in jedem Falle einſchließt, hat ihm — und wie vielen mit
ihm! — vielleicht etwas zu einſeitig, Eindruck gemacht. Wenn es aber in dem
erwähnten Briefe heißt, er habe in den Angelſachſen „das Ideal der germaniſchen
Raſſe, deren edeliten und beiterbaltenen Beftandteil“ gefehen, jo ift das ent-
ſchieden unricätig. Den befterhaltenen, ja! den ebelften, nein! Band IV, Seite 201
des „Essai sur l'inegalit& des races humaines“ (Deutſche Ausgabe Band 4,
Seite 199) fagt er gerade umgelehrtt: „Das britiihe Neich ſei weder das
glänzendfte noch das menſchlichſte noch das edelfte der europäifchen Reiche ge-
wefen“, und unmittelbar darauf jchränkt er fogar das Prädikat verhältnismäßig
reinen Germanentums durch Aufzählung vieler entgermanifierender Momente,
welche ſchon damals, vor ſechzig Jahren, wirlfam waren und feitvem ftetig zu⸗
genommen haben, zum mindejten ftark ein.
Wie wenig blind Gobineau im übrigen für die dunklen Seiten des Briten-
tums war, Hang ſchon in den foeben zitierten Worten von ferne an. Deut⸗
licher erhellt e8 zum Beifpiel aus feiner ſcharfen Beurteilung der Irenpolitik
Englands (im Wortlaut mitgeteilt „Duellen und Unterſuchungen“ ufw., Band I,
*) Dieſes franzöfiiche Blatt, das fräher wiederholt Gutes über Gobineau gebracht Hat,
ift mir zurzeit auß begreifliden Gründen nicht zugänglid. So ift mir aud) der in Frage
fiehende Brief nur in italienifher Mberfegung (im Marzocco vom 17. Januar), die aber
einen durchaus zuverläffigen Eindrud macht, bekannt geworden.
Gobineau über Deutfche und Sranzofen 55
Seite 177 ff.). Und wie Har er ſich vollends über das Abnorme und für ganz
Europa Berhängnisvolle eines englifhen Übergemwichtes gewefen ift, lehrt fein ſchon
im September 1848 geprägtes Wort: „England Tann fi nur dann an der
Spite der europäifchen Welt befinden, wenn dieſe aus ihren normalen Dafeins-
bedingungen heraustritt” — ein Wort, das er den europäiſchen Völlern von
beute noch mehr als denen von damals ind Stammbuch geſchrieben zu haben
ſcheint, und neben das feine Landsleute das andere, im gleichen Auffate fich findende,
halten mögen, „man könne e8 al8 Grundfaß, als unmwiberleglidde Marime faflen,
daß die Intereſſen Frankreichs und Englands nichts gemein hätten.”
Und follte er gleichwohl In fpäterer Zeit neben ſolchen Erkenntniſſen noch
Illufionen über den inneren Wert des England feiner Tage gehegt haben, jo
dürfte fie ihm ein Brief eines feiner näcdjiten Freunde, Lord Lyttons. (Sohnes
des großen Romandichters Bulwer Lytton und fpäteren Vizekönigs von Indien),
benommen baben, der ihm angefidhtS des furchtbaren moralifhen Zufammen-
bruchs Franfreihs im November 1870 fchrieb, „daß England, wenn die Vor⸗
fehung ihm eine ähnliche Prüfung auferlegen follte, wie jebt Frankreich, fie
ebenfo wenig beftehen würde, da auch bei ihm nur die Anarchie im Grunde,
und Lüge und Feigheit auf der Dberfläche zu finden ſeien“ — eine Weisfagung,
die ſich heute vor unferen Augen in erfchredender Weife zu erfüllen beginnt.
Aber genug biervon, und nun zur Hauptfache, zu uns felbit!
Frau von Buldencrone will des öfteren von ihrem Bater gehört haben,
daß er „die bdeutfhe Nation als ein heterogene® Gemiſch minderwertiger
Elemente betraditet babe.“ Für uns fteht e8 natürlich feit, daß dergleichen
mündlich bingeworfene Äußerungen, bei denen alles auf den Wortlaut anfommt,
folange nicht die Spur einer Beweistraft haben, als fie nicht in den öffentlichen
Kundgebungen des betreffenden Autors eine Stüße finden. Man braucht aber
nur die Haupiftelle des Efjai über Deutichland (T. IV., 172 bis 175, deutſche
Ausgabe, Band 4, Seite 176 bis 178) anzufehen, um zu erfennen, wie fehr
bie obige Wendung, gelinde gejagt, an Übertreibung leidet. Als Gobineau
diefe Stelle niederſchrieb — es war in dem Frankfurt des Bundestages von
1854, alfo einem Milten, das ohnehin auf alles Deutſche unwillkürlich drüden
mußte —, ftand er mehr als je wieder in feinem Leben unter dem Einfluß
einer allbeherrſchenden Doctrin, welche für ihn in der Verherrlichung des Rein⸗
germanifchen gipfelte, jo daß er den Mifchgeftaltungen des germanifchen Blutes
weniger gerecht zu werden vermochte. An dem genannten Drte nun führt er
aus, daß wir nad) den Auswanderungen der germaniſchen und Einwanderungen
der flawifchen Stämme eine jehr ftarle Schwächung des germanifchen @lementes
erfahren bätten, welches geichloffen nur in Friesland, Weftfalen, Hannover und
den Rheingegenden verblieben ſei, während die übrigen Landichaften Deutfchlands
durch und durch gemiſcht, ſtark ſlawiſch und keltiſch durchſetzt in die eigentliche
deutſche Geſchichte eingetreten ſeien. Da Gobineau die letztgenannten Stämme
zweifellos binter die Germanen zurückſtellt, jo liegt in dieſer auf erakt-anthro-
56 Gobineau über Deutfhe und Sranzofen
pologiihem Wege inzwiſchen längſt beftätigten Diagnofe in gewiſſem Sinne
allerdings für die oftdentfchen und ſüddeutſchen Gebtete eine Mindereinſchätzung
gegenüber Völkern, die fich reiner germaniſch erhalten hätten, wie Standinapier
und Briten, bei denen ihn vorwiegend das normänniſche Element anzog und
blendete. Aber feiner Theorie zum Trotz hat er vorher wie nachher unferem
wahren Blutswerte mehr als eine Huldigung dargebracht (wofür die vorer-
mwähnten Quellenwerle reiche Belege bringen), vor allem aber durch die Praxis,
dur andauernde verftändntsvolle Vertiefung in deutfches Weſen kundgetan, wie
hoch er dieſes ftelle.
Man darf in Wahrheit jagen, daß Gobineau wie für die Deutichen
präbdeftiniert war. Kraft eines angeborenen Inſtinkts wählte und fand er in
jungen wie in alten Jahren feine nächſten und bebeutendften Freunde vor-
wiegend in der deutſchen Welt: fein „Pylades“ Germann Bohn, Ary Scheffer,
Übelbert Keller, Prokeih-Dften, Richard Wagner waren deutſchen Geblüts.
Diefe enge perfönliche Verbindung ward ihm ſchon fehr früh ein Anlaß, unfere
Entwidlung auf den verſchiedenſten Gebieten mit warmem Intereſſe zu verfolgen,
die Perfpektiven unferer Zukunft aufzurollen. Um nur ein befonders fprechendes
Beifpiel aus den zahlreichen Studien, die er uns unter dem Julikönigtume ge
widmet bat, anzuführen: wie eigen mutet es heute an, zu fehen, wie ernitlich
diefer junge Denker fi ſchon vor fiebzig Jahren unfere Lebensfragen von beute,
die Auswanderungs- und Kolonialfragen, bat angelegen fein laffen, wie er
unter anderem — zur Beihämung wie vieler Deutſcher! — der erften einer
war, die Friedrich Lift die gebührende Beachtung ſchenkten!
Daß Gobineau in der poetifhen Literatur, in der Muſik der Deutichen
nicht minder wie in der heimifchen zu Haufe war, bezeugen zahlreihe Stellen
feiner Werke wie feiner Briefe. Wiſſenſchaftlich befannte er fih (in einem
Briefe an einen franzöfifchen Landsmann) mit Stolz zu den ftrengen Grund»
fähen der deutſchen Schule, und fein Hauptwerk, da8 Buch über die Menſchen⸗
raſſen, baut fi) zum weitaus überwiegenden Zeile auf den Forſchungsergebniſſen
der bdeutihen Wiſſenſchaft auf. Als einen Dankesalt für das viele, das er
biefer ſchulde, bezeichnet er felbft die Veröffentlichung einer philofophifchen Arbeit
in einer deutſchen Zeitfchrift (1868), und gegen Ende feines Lebens hat er in
dem Maße mehr und mehr an die Deutihen als das eigentliche Publikum
feiner legten Arbeiten gedacht, als er ſich den eigenen Landsleuten mit feinen
intimften Gedanken und Abfichten entfremdet ſah.
Gobineau betradytete alfo, wie ein berühmter englifcher Staatsmann unferer
Tage, Deutfchland als feine geijtige Heimat. Aber er fchraf nicht, wie diefer,
vor den Konfequenzen und Verpflichtungen, welche diefe feine Überzeugung mit
fih bradjte, zurüd: er hatte den Mut, auch als nad) 1870 der deutfche Name in
jeinem Baterlande den ſchlimmſten Klang angenommen hatte, der engften geiftigen
Verbindung beider Länder das Wort zu reden und vorzuarbeiten und feine
Landsleute zu ermahnen, daß fie bei dem Volfe, das noch vor kurzem ihr Feind
Gobineau über Deutfche und Franzoſen 57
gewejen, nad) möglichft vielen Seiten in die Schule gehen möchten. Er Bat
fh dadurch viel Verlennung zugezogen, und bis heute vermag kein franzöfifcher
Rationalift anders als mit tiefem Groll und in der abiprechenditen Weife über
ihn zu reden: er gilt als ein Abtrünniger und bleibt als ſolcher verfemt,
während er in Wahrheit nur die uns Deutſchen fo ganz anders geläufige
Eigenſchaft des Univerfalismus, des Verſenkens in fremde Art bewährt, und
die daraus wie von felbit entiprießende Tugend der Gerechtigkeit gelibt hat,
fo daß dem wahren Gobineau derjenige, der ihm feine enge Zufammengehörigfeit
mit Deutſchland abfprechen will, wie e8 feine Tochter getan, fchlimmer zu nahe
tritt, al mer fie ihm vorwirft, wie e8 — von im übrigen durchaus zu
würdigenden Geſichtspunkten aus — die franzöfifhen Patrioten tun.
Nein, es bleibt dabei: das Verſtändnis und die Xiebe, welche die Deutfchen
ihm in jo reichem Maße entgegengebradht haben, hat Gobineau als eriter ihnen
gewidmet. Diefer Endeseindrud Tann auch nicht gefchmälert, vielmehr eher
noch verftärft werden, wenn wir uns nunmehr dem zweiten, für die Öffentlichkeit
neuen Gegenftand unferer Betrachtung: „Gobineau während des Krieges 1870/71,
und vor allem über diefen Krieg“, zuwenden.
Gobineau war einer von den wenigen in feinem Vaterlande, welche die
damals eingetretenen Creigniffe vorausgefehen haben. In den Iangjährigen
Berührungen mit den Regierenden war ihm das Bertrauen in diefe gründlich
erjhüttert worden; auch im Volle hatte er Fäulnis⸗ und Entartungserfheinungen
wahrgenommen, welche ihn für diefes "beim Zufammenftoße mit einem Gegner,
defien vollen Wert gerade er kannte und würdigte, das ſchlimmſte ahnen ließen.
So konnte er, als dies ſchlimmſte wirklich eingetroffen war, gegen einen
franzöfifhen Freund fi äußern: „Sch glaube, daß ich der wenigſt erftaunte
unter allen Franzoſen bin, da ich niemals an dem, was fich jetzt ereignet, ge-
zweifelt habe, und mich auf noch befleres gefaßt halte,” und der ſchon erwähnte
engliihe ihm während des Krieges jchreiben: „Wie tauſendfach Sie recht hatten,
und wie Har Sie blidten! ... Sie find der einzige, der die Wahrheit nicht
fürdtet, und ber fie jagt. Es ift herzzerreißend zu fehen, wie ein ganzes Bolt
fi von Lügen nährt und mit Phrafen bezahlt macht — usque ad nauseam.”
Während in der Tat die meiſten feiner Landsleute ihr Heil in der Lüge
fuhten, ward fih Gobineau mit dem Fortichreiten des Unheil nur immer
unerbittlider über die ganze Wahrheit Mar. „Willen Ste wohl,” fchreibt er
an Profefh im Dezember 1870, „daß das Schlimmite für diefes unglüdliche
Land nicht die Preußen, die Sacdfen, die Bayern und Württemberger find:
da3 Mene Tekel Phares fteht an der Wand!” Und wieder und wieder weis-
fagt er feinem Volke ein rettungslofes Verderben, wenn e3 nicht, anftatt alles
auf die Führenden abzumälzen, in den eigenen Buſen greifen und feine
moraliſche Berfaffung von Grund aus ummandeln wolle.
Was er im DVerlaufe des Strieges zu ſehen befam, Tieß fich freilich wenig
genug hiernadh an. Auf Schritt und Tritt ftieß er da auf Kopflofigleiten und
58 Gobineau über Deutfhe und Sranzofen
Berwahrlofungen von feiten der Heeresleitung und -verwaltung, auf unmilitärifches
und unpatriotifches Gebahren der Mobil- und Nationalgarden, auf das theatralifche
Auftreten, die banditenhaften Ausfchreitungen und Zuchtlofigleiten der Franlk⸗
tireurs, auf die völlige Haltlofigfeit im Volke, die Auswüchſe der Spionagefurdht,
die Anfäbe zum Anardismus.
Über nichts aber Tonnte er fi) fo empören, wie über die Lügengewebe,
in die man während der ganzen Dauer des Krieges von oben herab ſich und
das Boll verftridte, und bie namentlid unter Sambetta fi wahrhaft ins
Ungeheuerlide verloren. Das gilt von den gegen die Deutſchen ausgeitreuten
haarfträubenden Berleumdungen und Verdächtigungen reichlich jo ſehr, wie von
ben Rodomontaden und Fälfhungen in betreff des eigenen Tuns. Gobineau
bat eine Gelegenheit verfäumt, jenen Berleumbungen entgegenzutreten und
feinen Freunden das mehr als korrekte, rückfichtsvolle Auftreten der beutichen
Dffiziere und die gute Haltung ihrer Truppen zu rühmen. Einen derartigen
Brief teilte Lord Lytton dem beutfchen Kronprinzen mit, der fi (mie Lyiton
am 10. Mat 1871 an Gobtneau fchreibt) „angefichtS der in ganz Europa über
die Deutfchen verbreiteten Lügenberichte über dieſes vereinzelte Zeugnis gerade
eines fo hochſtehenden Mannes höchft dankbar geäußert und es beſonders
tröftlich gefunden babe.“
Dem entfpredhend geftalteten ſich auch ausnahmslos bie perfönlidhen
Beziehungen, in welche Gobineau während des Krieges zu den deutſchen Truppen
zu treten batte. Er bat einem ber jungen Gardeulanenoffiziere, die fpäter
wodenlang bei ihm im Schloffe gelegen haben, das Leben gerettet, indem er
ihn bei einem Patrouillenritt vor einer ihm nädhtlicher Weile auflauernden
Sranftireurbande warnte, wie er umgelehrt bei einer anderen Gelegenheit den
Herzog von Chartres, der als einfadher Kapitän unter dem Namen Robert le
Hort an dem Feldzuge in der Normandie teilnahm, von einem unbejonnenen
Zuge nad) Trye abhielt, der ihm unbedingt hätte verhängnispoll werben müfjen.
Ein jchönes Beilptel, wie er, ein Nachlomme Melacs, mit einem ber bei ihm
einquartierten Dffiziere, der feinerfeit8 ein Nachkomme Tilys war, jehr im
Gegenſatz zu diefen beiden Kriegswüterichen zur Aufrechterhaltung von Frieden
und Ordnung harmoniſch zufammengemwirkt habe, erzählt er felbft Ipäter an
Keller (Yunt 1872). In den jungen Edelleuten von der preußiichen Garde⸗
favallerie, die ihm, troß des Feindesrodes, den fie trugen, als echte Germanen-
fproffen, die fie waren, im Innerſten ſympathiſch fein mußten, vermochte er es
über ſich nicht ſowohl die Zmangsinfaffen als die — wenn auch unwilllommenen —
Gäſte feines Haufes zu jehen und ihnen voll Würde und Unbefangenheit, immer
friſch und anregend, mit der ganzen Feinheit feiner welt- wie ebelmännifchen
Formen als Wirt gegenüberzutreten. Und jene wiederum haben damals dem Zauber
bes großen Mannes jo wenig wie irgend jemand zu widerftehen vermodjt. Sie haben
ihm dankbare Anbänglichkeit und Verehrung bis in fpäte Tage bewahrt, und ein-
zelne von ihnen find in dauernder freundſchaftlicher Verbindung mit ihm geblieben.
Bobinean über Deutfche und Franzoſen 59
Es ift Mar, daß alle die hier aufgezählten Dinge, in benen wir rubig die
Beweife einer nur bei einem Manne fo feltener Art denkbaren Großherzigkeit
und Wabrbeitsliebe erbliden dürfen, feinem Volle in einem ganz anderen Lichte
erſcheinen mußten, und in ber Tat wurde ſchon bald ber Vorwurf von verftänbnis-
lofen Berfleinerern gegen ihn erhoben, er habe während des Krieges „zu gut
deutſch geſprochen“, von wo bis zu dem eines Einverftändniffes mit den Preußen
nur ein Meiner Schritt war. Schon bald nad) dem Kriege ſah fih fo Gobineau
zu Öffentlichen Rechtfertigungen und Slarftellungen gezwungen, die fi} freilich
nur auf fein äußeres, öffentliches Verhalten beziehen und die allzu offentundige
Zatfache, daß er als Patriot feinen Dann geftanden, auch für den’ Blödeften
außer Zweifel feßen konnten, bie inneren Seelenvorgänge dagegen, die immer
entjchiebenere Hinwendung zum Deuiſchtum, deſſen wertvolle und vorbildliche
Seiten ihm eben damals aus den friegerifchen, politiſchen und geiftigen LZeiftungen
des deutſchen Volles und Heeres anſchaulich aufgingen und in deſſen Fahr⸗
wafjer er daher das eigene Boll am liebften gebracht hätte, ſowie die beginnende
Ablehr von diefem lehteren, naturgemäß aus dem Spiele ließen.
Diefe Abkehr, der ganze Gegenſatz, in welchen Gobineau in feiner lebten
Lebenszeit zu feinem Volke, richtiger: zu den Bahnen, die dieſes eingeſchlagen,
geraten ift, fpiegelt fih dagegen nad allen Seiten und nad feinen tiefften
Gründen in den Aufzeichnungen, welde er unmittelbar während des Srieges
niedergefchrieben und uns handſchriftlich Hinterlaflen hat. Da fie einen reichlich
fo widtigen Beitrag zur Pſychologie des Franzoſentums wie zu der Gobineaus
darftellen, jo dürfte fidh eine eingehendere Analyfe derjelben hier unbedingt lohnen.
Da er nicht hoffen konnte, mit dieſer Schilderung des Franzofentums in
feinem Riedergange in feinem Vaterlande durchzudringen und auch in Deutichland,
an das er dachte, fi kaum Ausfiht auf Veröffentlichung zeigte, fo iſt dieſe
Schrift, die er mit Recht felbit als eriten Ranges betrachtete, leider Fragment
geblieben”).
Gie zerfällt in zwei Abteilungen (beide unvollendet), deren erfte die Vor⸗
geſchichte und die Urfachen, deren zweite die Ereignifie des Krieges in Gobineaus
Beleuchtung und mit befonderer Berüdfiätigung des in feiner Nähe Borgefallenen
behandelt.
(Schluß folgt)
*) Einen Titel hat fie im Manuftript nicht, diefer mußte daher unter Verwertung einer
Wendung des Eingangsfages („Ce qui est arrivé à la France en 1870“) hergeftellt werden.
Das Manuffript befindet fih in der Gobineauſammlung der SKaiferlihen Univerfitäte- und
Zandesbibliothel zu Straßburg. Eine Veröffentlihung war, mit den übrigen nadgelafjenen
hiftoriſchen und politifch » anthropologiſchen Schriften Gobineaus, für dieſes Jahr in Ausſicht
genommen, mußte aber wegen des Krieges vertagt werden.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Memoiren
Briefe und Erinnerungen aus Alt-Wien.
Wem fteigt bei foldem Namen nicht die „gute
alte Zeit” in ihrer glüd- und leidüberwundenen
Vergangenheit herauf, die uns alles zu be»
figen fcheint, wa8 unferem überhegten Leben
fehlt? Wir denken an gemütliches Geplauder
am behaglidhen Kamin, an fleißige Hände, die
mit feiner Stid- oder Hälelarbeit anmutig
beihäftigt find, an Altwiener Salons, in
denen fi Künſtler und Gelehrte zu geiltreichen
Geſprächen im gaftfreien Haufe veritehender
rauen zufammenfanden. Wie heimelt uns
dad alle an; und fehnfühtig zurüdichauend
fühlen wir, wie arm wir gegen unfere Ur⸗
großmütter geivorden find. In dem raftlojen
Sagen nah „Kultur“ und „Ziviliſation“, und
wie die Schlagworte alle heißen, waren wir
nahe daran, das Befte, unfer Gemüt, zu ver⸗
lieren. Wir wollten un® „binaufpflanzen“
und merften es nidt, wie entivurgelt wir
waren. Erft der Ausbruch dieſes ſchrecklichſten
aller Kriege Hat unferen atemlofen Lauf ge»
hemmt, und in der plögliden, unheimlichen
Stille mußten wir uns geitehen, daß Wir
Phantomen nachgejagt waren, die in unferer
furdtbaren Not un? ſchnöde im Stich Ließen.
Da wendet man fi troſtſuchend an die Ver-
gangenheit, die fo reich war, daß aud) für
uns noch etwas übrig blieb. Und gern greifen
wir zu den unter der Zeitung von Guftav
Gugitz erfheinenden Bänden, die unter dem
Gefamttitel: „Denkwürdigkeiten aus Alt⸗
Dfterreih” vom Verlag Georg Müller in
Münden vereinigt find. Die Ausſtattung
der einzelnen Werke ift, wie ftet3 bei dieſem
Verlage, glänzend; reicher Bilderihmud, zum
Teil nad bisher unbelannten oder ſchwer zu⸗
gänglihen Originalen oder feltenen Striden,
vervollftändigt die Bände.
Da find zunächſt die „Dentwürdigleiten
aus meinem Leben 1769 bi 1848” der
Schriftſtellerin Caroline Bichler (heraußgegeben
mit überreihliden Anmertungen von Emil
Karl Blümml), die einft eine Berühmtheit
war, und bie jeder, der Wien befucdte, ge⸗
fehen haben mußte, geradefo wieden Stephand«
dom; der aber ſchaut auch heute noch in ftolger
Hoheit auf da® neue Wien, während Die
Pichler und ihr Ruhm längft dahin find.
Maria Xherefiad ernite Augen haben nod
auf der Kindheit der Dichterin gerubt, und
viele perfönliche Züge weiß fie und aus dem
Leben der großen Kaiferin gu berichten, bei
der ihre Mutter, Charlotte von Greiner,
Kammerfrau und Borleferin war. Wie viele
der Großen, die uns unfterblih wurden, bat
fie noch klein und unſcheinbar gefehen; nur
jung, fo unwahrſcheinlich jung und lebensfroh
waren fie, wie wir und einen Grillparzer,
einen Bauernfeld, den ſchwermütigen Lenau
und viele andere gar nicht recht voritellen
fönnen. Friedrich Schlegel, Tied, Clemens
Brentano leben wieder auf. Mit Dorothea
Schlegel verband Caroline herzliche Freund⸗
ſchaft, und ſie ſpricht von der fo viel Geſchmähten
in aufrichtiger Verehrung, die dieſe ſeltene
Frau gewiß verdient hat. Auch Goethes fried⸗
loſe Schwiegertochter Ottilie fand einmal Raft
in Pichlers glücklichem Hauſe. Viel hören
wir in dieſen Denkwürdigkeiten von der Not
der Zeit. Dreimal kamen die Franzoſen in
das ſchöne Land, mit allen blutigen Schrecken,
mit Cholera und Hungersnot, die ein Krieg
im Gefolge Hat, bis ed 1818 den verbündeten
Maßgeblihes und Unmaßgebliches 61
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Bölfern endlich gelang, fi) von dem uner-
trãglichen Yoch zu befreien. Aber was auch
dad Leben diefer Frau an Schidfalen ge-
bracht Bat, fie bat fie mutig ertragen und
immer das Dafein geliebt. Selbft als ihr
Kuhm ſchon zu ihren Lebzeiten verblich, ift
fie nicht bitter geworden, fondern bat fih im
Familienkreiſe der Tochter, bei den heran⸗
wachſenden Enkeln foviel Sonne geholt, wie
fie für ihren Lebensabend bedurfte. Als die
Dichterin 1848 die müden Augen für immer
ſchloß, da folgten nur wenig @etreue ihrem
Sarg. Die man aud) über den literarifchen
Bert ihrer Bücher urteilen mag — fie hinterließ
dreiundfünfzig umfangreihe Bände —, ihre
Dentwürdigfeiten werden immer das Intereſſe
der Rachwelt Haben, denn fie hat es verftanden,
mit ftarler Sand eine verfunfene Epoche
wieder aufleben zu laſſen.
Faft auß derfelben Zeit ftammen die Auf-
zeichnungen der Gräfin Lulu Thürheim „Mein
Zeben. Erinnerungen aus Oſterreichs großer
Belt” (beraußgegeben von Rene van Rhyn),
und doch find fie etwas völlig anderes. Diefe
rau, die durch ihre Geburt, ihre Beziehungen
und die Anmut ihres Auftretens, Zutritt zu
den höchſten Streifen Hatte, dazu einen unge»
wöhnlichen Geift befaß, war wie leine andere
in der Lage, uns in ihrem Tagebuch die
Ereigniſſe bed zu Ende gehenden adtzehnten
und der erften Hälfte des neungehnten Jahr⸗
hunderts gu fchildern. Und fie tut e8 in fo
fefielnder, ja oft wigiger Weife, daß man die
vier ftattlihen Bände von Anfang bis zu
Ende mit nie erlahmendem Intereſſe lieſt.
Die Berfafferin, die kurz dor der großen
franzöfifhen Revolution geboren wurde, bat
während ihres ganzen Lebens mit einem
widrigen Schidfal zu ringen gehabt. Bunt
und wecdjelnd läßt fie die Bilder ihrer Er⸗
lebniffje in ihrem QTagebud an und vorüber:
ziehen; die ſchweren Jahre 1805, 1809, 1818,
der fröhliche Kongreß, alles ift in leichtem
Blauderton und doc mit hiftorifher Wahrheit
erzählt. Da fie außerdem vorzüglich zeichnete,
ergänzte fie ihr Tagebuch durch zahlreiche
Efiggen. Gräfin Qulu war eine große Dame
im beften Sinne des Wortes, und nie hat das
hohle Gefellichaftetreiben fie ſelbſt verflachen
laſſen. Seit dem Jahre 1819 im Hauſe ihres
Schwagers Raſumoffſty, des ruſſiſchen Ge”
ſandten, lebend, „der in Wien am meiſten
& la mode war“, deflen Auftreten und fabel-
bafter Reichtum bewundert und befpöttelt
wurde, bat fie mit diefem und der Schwefter
große Reifen durch alle europäiihen Länder
gemacht und fo ihren Geſichtskreis erweitert.
Zulu von Thürbeim hat eigentlich alles befeflen,
was ein Sterblicher fi wũnſchen kann: Glanz,
Neihtum, Schönheit und Geilt, und war
doch nicht glüdlih, weil ihr das Beſte, die
Liebe, fehlte. Erſt an der Schwelle bes
Alters vermählte fie ih in heimlicher Che
mit dem Sekretär ihres Schwagers, einem
jungen Abenteurer, der ihr ſchon nad) ſechs
Monaten dur einen tragiihen Tod entriffen
wurde. Aber die perfönliden Verhältniſſe
find nit das Wichtigfte in dem feflelnden
Bude. Alles, waß einen Namen Hatte, ift
erwähnt und oft nur mit wenigen Worten
treffend cdharalterifiert. Es ift ein Ausſchnitt
aus Altwiend trüben und beiteren Tagen,
fo warm und lebendig, wie ibn trodene
Geſchichte niemals geben Tann.
Der Wiener Kongregl Er wird ſowohl
bon Baroline Pichler als auch von Lulu
Xhürbeim ausführlich erwähnt, aber der Fran⸗
zoſe de la Garde fchrieb über diefe Flut don
Selten und Vergnügungen zwei dide Bände
(„Semälde des Wiener Kongreſſes“), und
wenn auch fein Bericht dem ſtrengen Hiſtoriker
feine reine Quelle bietet, aus der er unbeſorgt
fhöpfen kann, fo ift derfelbe doch das er
ihöpfendfte Werk, was es über diefe einzige
Beranftaltung gibt, die die „Könige in Ferien“
fi) bereiteten. Welch eine federnde geiftige
und körperliche Beweglichkeit müflen die
Menfhen jener Tage bejeflen haben, daß fie
ſich nach dem furchtbaren Ringen der Freiheits⸗
friege, denen Jahre der entjeglichften Knecht⸗
ſchaft vorangegangen waren, in einen ſolchen
Strudel des Vergnügen® und der Lebens⸗
freude ftürzen konnten! Der Franzoſe de
la Garde verfteßt es, gerade diefe Seite
bejonders in die Erjheinung treten zu laflen,
und bunt und wechſelnd ziehen die Geſchehniſſe,
wie die Bilder eines Kaleidoflops, an dem
truntenen Auge vorüber.
Und nun zum Schluß noch ein vergeſſenes
Bud von einem nocdhvergefienerenAltöfterreicher.
62 Maßgeblihes und Unmaßgebliches
(Friedrih Anton von Schönholz: Traditionen
zur Eharakteriftit Öfterreiche.) Ein Abenteurer,
wie de la Garde, erzählt hier bald ſcherzend, bald
philoſophiſch von Wiens Bergangenbeit-
Familien und Yrauen und der Politik Alt-
Oſterreichs. Daß Ganze ift ein treffliches Spie-
gelbild der franzisceifchen Zeit, dad gewiß für
mandıen eine neue Quelle werden wird. Der
Verfaſſer bat fein eigenes Leben in dichterifcher
Freiheit mit in feine Aufzeichnungen verflodhten,
und wenn au nit immer alles wahr ift,
wa3 er fagt, fo iſt es doch intereffant und
für feine Zeit charakteriſtiſch.
Man folte unfere deutihe Memoiren
literatur wirklich mehr pflegen und nicht immer
denfen, daß nur Frankreich das Land ber
klaſſiſchen Memoirenliteratur if. Wir find
auch in diefer Beziehung wieder einmal viel
zu befheiden. Die wenigen Proben, die bis
jegt vorliegen, zeigen, daß aud wir unfere
Erlebdnifiein vollendeter Form niedergufchreiben
vermögen. „Ein Land ohne Memoiren ift
wie ein Haus ohne Spiegell”
Beinz Amelung
Dölkerpiychologie
Händler und Helden. Batrioiifhe Be⸗
finnungen von Werner Sombart. Berlag
von Dunder u. Humblot in Münden und
Zeipzig, 1915.
ft der Händlergeift Urſache oder Wirkung
der wirtſchaftlichen Entwidlung Englands?
Eine geiftvolle Franzöfin hat das zweite
geglaubt. Als gegen Ende ded Jahres 1842
die Parifer Zeitungen fi) über die inhumane
Habgier der Engländer entrüfteten, die im⸗
ftande feien, um Opium und Sattun einen
Beltbrand zu entflammen, halt Delphine
Say, die Gattin Emile de Girardin, die
Kollegen ungeredt; Ia France könne leicht
nobel handeln (wenn fie da3 nur wirklich
auch tätel), denn fie fei une noble chätelaine,
die dom reichen Ertrage ihres frudtbaren
Landes ohne Sorgen lebe; das englifche
Bolf dagegen lebe nit vom Ertrage feines
Bodens, fondern auf Kredit; der englifche
Staat fei ein Bankgeſchäft, kein Naturgewächs,
fondern ein Kunftbau, den ein Nechenfebler
ftürzen könne; die Engländer würden wahr.
fheinlih recht gern hochherzig und edel
banbdeln, wenn fie koͤnnten und dürften, aber
ein Banfier dürfe nun einmal nicht fentimental
fen. Sombart dagegen fieht das englifche
Händlertum aus dem englifhen Geifte her»
vorgehen. Ich neige der Anſicht der Franzöſin
zu — aus zwei Gründen. Einmal, weil die
Engländer (diefer Tatſache gedenkt aud
Sombart flüchtig), trogdem ihr Land fie zur
Seefahrt einlud, bis ins fünfzehnte Jahre
Bundert ein Bolt kriegeriſcher Bauern geblieben
find, da8 feine Finanzen von Stalienern ver»
walten, feinen Handel von deulfhen Sanfeaten
beforgen ließ, und als es fi endlid der
Anduftrie zumandte, der niederländiſchen Lehr⸗
meifter bedurfte. (Den Handelsgeiſt der
Ktaliener verbirgt den Augen der Nachwelt
die aud Schönheit und Geift gewobene Aureole,
die das mittelalterlide Stadtbürgertum
Italiens umftrablt.) Der andere Grund ift
die englifche Literatur. Abgefehen von Shake⸗
fpeare, Milton und Byron, atmen aud die
Rovelliften deutfhen Geilt; nit bloß Die
weltberühmten, fondern aud die Männer und
Srauen zweiten und dritten Manged. Die
älteren wenigſtens; die neueren kenne id
nit. YZufällig Iefe ich gerade wieder einmal
in den Rovellenbänden, die Samuel Warren
unter dem Titel Diary of a late Physician
herausgegeben bat (weld ein lächerlicher
Geſchmack! würde ein Nüngfter naferümpfend
außrufen, wenn er fich berabließe, in den
alten Schmölern zu blättern), und finde darin
wohl engliihe Zuſtände, aber Teine Spur
von Krämerhaftigleit, vielmehr tiefes deutſches
Gemüt und reine edle Gefinnund. Daß
durchgreifende Induſtrialiſierung und Kommer-
sialifierung den Vollscharakter verfchledhtert,
ift einer der Beweggründe, die mid) beftimmen,
den fehr maßgebenden Autoritäten gu oppo⸗
nieren, welche uns die englifhe Wirtfchafts-
verfaffung als zu erftrebendes Ideal empfehlen
— oder wenigſtens bis zum Kriege empfohlen
haben. Sombart ftügt feine Auffaffung
bauptfählih auf Thomas Morus, und es tft
ja wirklich überrafhend, wie getreu die
Kriegdmoral und Kriegspraxis der litopier
die fpätere englifhe Kriegführung und
beſonders die heutige fpiegelt; doch ſchwächt
Sombart feldft die Beweiskraft der Utopia
— —
mit der Bemerkung ab, man wiſſe bei Morus
nie, wo der Ernft aufhoͤre und der Spott
anfange; das utopifche deal der Kriegführung
Inne als Berhöhnung der Krämer gemeint
fein, die der große Kanzler ſchon emporkommen
und Einfluß erlangen ſah.
Sombart ift ein Meifter der Darftellung.
Aber während fonft die Fünftleriihe Plaftif
feiner Geftalten entzüdt, raufcht diegmal feine
Rede ald ein Feuerftrom dahin, in weldem
die Flammen des Zornes und der Begeifterung
lodern, einer Xegeilterung, welche die der
jungen Helden, denen die Schrift gewidmet
if, aufd neue entzünden wird. Sombart
fildert die Undifferenziertheit, Roheit, Platt»
beit des geſamten englifchen Volles einfchließ-
lih feiner Vornehmſten; feine oberflächliche,
nur auf das Praktiſche gerichtete Wiſſenſchaft
und Philoſophie; jene „hundsgemeine“
utilitariſch⸗ eudämoniftifhe Ethik; die unan⸗
fländigen Künfte, mit denen England fein
Reich zufammengeraubt und gegaunert habe,
die Riedertradt feiner heutigen Kriegsführung.
Zur modernen @ejamtlultur babe es nur
zwei Originalbeiträge geliefert, den Komfort
und den Eport, und biefe beiden Erzeugnifle
englifher Händlerkultur jeien wahrer Kultur
im allerbödften Grade feind und ab»
traͤglich.
Dieſem haßlichen Bilde gegenüber läßt
er die reine und hehre Geſtalt des deutſchen
Helden erſtrahlen: feine idealiſtiſche Philo-
fophie und Dichtlunft (al Führer des Chors
deutſcher Großgeifter fchreitei Friedrich Nietzſche
voran, nur ſein „guter Europäer“ wird ab⸗
gelehnt); ſeine Vaterlandsliebe: die opfer⸗
bereite Hingabe and „Ganze, das über ung .
lebt, da8 da ift auch ohne und gegen unfern
Willen” und bie nit zu tun babe „mit
der gemütpollen Anhänglichleit an die Heimat
und die Scholle”; feine objektiv - organische
Staatsidee, das Gegenteil der rouffeauifchhen
Bertragdidee und des engliihen Nachtwächter⸗
ſtaats; feinen Militarismus, das fichtbar
gewordene Heldentum, in welchem er ſeine
heldiſchen Grundſaͤtze verwirklicht; die Pflege
der Xugenden de3 freien Mannes (im Gegen»
fage zum engliiden Kult der bürgerlichen
Zugenden); feine Liebe zum Kriege, ala dem
Heiligften auf Erden.
Maßgebliches und Unmaßgebliches 63
Bor dem Kriege fei diefe Heldengefinnung
berdunfelt geweſen; Berengländerung, Materi-
alifierung, Kommerzialifierung, Berpöbelung,
Berihwendung der Energie auf Nichtigleiten
babe um fich gegriffen; dieſes Leben ohne
Ideale fei nicht mehr Leben gewejen fondern
ein Sterben, eine ekle, ftinlende Verweſung,
Bergebend habe man ſich mit allerlei Rettungs«
verfuhen abgemüht: mit Eibilierung der
einzelnen, mit dem Suden nad) einer neuen
Religion, mit fozialen Idealen — daß der
Sozialdemokratie jei immer mehr händleriſch
geworden —, bis endlih der Krieg die
Nettung gebracht Habe. „Eine Quelle uner-
ſchöpflichen idealiſtiſchen Heldentums war
wieder aufgebrochen; im Vaterlande war ein
Ideal lebendig geworden, das in der Reich⸗
weite jedes Menſchen, auch des Armften im
Geifte gelegen war.” Der Krieg nun lehre
auch, was wir zu tun haben; er lege die Richt»
Iinien unjerer Bolitit und Vollserziehung
feft. Viele Nahlommen zeugen und fie zu
Helden erziehen, fei die nächſte Aufgabe, ein
ftahlgepanzerter mächtiger Staat und in
jenem Schug ein freied tüchtiges Volk das
au verwirflidende deal. Nachdem wir über
das Biel und klar geworden find, dürften
wir die Technik ihren Eroberungszug fort»
fegen lafien, da ja unjere Mörſer, Flug⸗
apparate und Unterfeeboote den Sinn ber
Technik offenbar gemacht hätten. Jeder Inter»
nationalismus, fei es der ölonomifche, der
inftitutionelle, der Rechts⸗ oder der Kultur»
internationaligmus, fei abzuweiſen; wir
genügen uns felbft und brauden uns um
die andern, bie ja auch bon uns nichts willen
wollen, nit zu fümmern.
In der Ablehnung des engliſchen Wirt⸗
ſchaftsſyſtems, des Mandeftertums, des Nacht⸗
wächterftaates, ded Darwinismus und in der
Hochſchätzung de Griechentums weiß ich mich
mit Sombart eind. Aber feine Weltan⸗
ſchauung ift nicht die meinige, und daraus
ergeben fih im einzelnen viele Differenzen,
die ohne ausführlihe Begründung aufzugählen
feinen Zweck hätte. Seiner Forderung, daß
wir auf Erpanfion und Solonifation ver»
gichten follen, muß ich aus fozialen, Wirte
Ihaftlihen und politifhen Gründen wider⸗
ſprechen. (Doch verbietet er Gebietder-
64 Maßgeblihes und Unmaßgebliches
weiterung nicht unbedingt.) Zu den Gebanten
Sombarts, die meiner Auffafjung nahe kommen,
die ich mir aber trogdem nicht unverändert
angzueignen vermag, gehört der folgende.
„Richt von Boll zu Volk gibt es einen Fort-
Ihritt zu Höherem; wir find nicht weiter
fortgefhritten al® die Griehen es waren,
wenn wir nicht Fortihritt im Sinne des
Ingenieurs meinen. Vielmehr wirkt fi) Gott
in den verſchiedenen Bollsindipidualitäten
aus, deren jede für ſich fortichreitet, fi) ver»
bolllommnet, ihrer dee fi) annähert. Die
einzelnen Völler blühen und welfen wie
Blumen im Garten Gottes.“ — Daß kleine
Bud atmet den Geift Treitfchles, und Männer
dieſes Geiftes werden fi) daran erbauen.
Dr. Earl Jentfd
Allen Manuflripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls? bei Ablehnung eine ————
nicht verbürgt werden kann.
Nahdrud fämtliher Auffäge nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags geftattet.
Berantwortlih: der Herausgeber Georg Eleinomw in Berlin» Lichterfelde Weit. — Manujtriptiendungen und
Briere werben erbeten unter der Adreſſe:
An den Herausgeber der Grenzboten in Berlin» Lichterfelde Weſt, Sternſtraß
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Fernſprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, bes Verlags und ber Schriftleitung: Amt Lügomw 6510.
Berlag: Berlag ber Grenzboten ®. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelbofer Ufer 35a.
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Italiens Politif auf dem Balfan und in der Levante
Don Dr. Eduard Wilhelm Mayer
on den Fragen, die heute zur Löſung ftehen, dürfte die zulünftige
Geftaltung des öftlihen Mittelmeers für Italien die wichtigite
fein, vom Standpunft der großen Politik zweifellos wichtiger
N noch) als die irredentiftifhe. Hier gilt es, den Ertrag einer
Ballan- und Levantepolitit fich zu fichern, die Stalien in den
legten neunzehn Jahren mit fteigendem Erfolg geführt hat. Das Jahr 1896
ift ein Wendepunkt in der Gefchichte feiner ausmärtigen Politik. Der Verſuch,
am Roten Meer gegen Abeffinien ein großzügiges FToloniales Unternehmen
durchzuführen, war nad) der Niederlage bei Adua als gefcheitert anzufehen.
Über diefe Schlappe fiel Grispi, der Vertreter einer mweitausgreifenden Macht:
politif mit antifranzöfifhen Tendenzen. Es begann die Wiederannäherung an
Frankreich. Seitdem ließ Stalien feine Anfprüde im Weiten des Mittelmeers
auf fih beruhen, und es gedenft, die Intereſſen, die hier noch weiter beitehen
— noch iſt die italienifche Einwanderung in Tunis unvermindert ſtark —, einit-
weilen nicht zu verfolgen. Um fo größere Aufmerfjamfeit wurde nun dem
Balfan und dem nahen Orient zugewandt. Hier ſuchte man ein Ventil für die
politiſchen und wirtfchaftlichen Kräfte des jungen Staates, der mit Deutfchland
das Schickſal teilt, zu ſpät'in die Reihe der Kolonialmächte eingetreten zu jein.
Nach den trüben Erfahrungen war man um fo ängftlicher darauf bedacht, nicht
aufs Neue ins Hintertteffen zu geraten. „‚stalien bat im Weſten bie
geographifche Linie Marſeille Eorfica— Tunis und die politifcehe Linie, die mit
dem englifch-franzöfiichen Vertrag gegeben ift; ftieße e8 auch im Dften auf eine
neue Begrenzung, dann würde es eingefähloffen fein auf einen engen Streifen
des Zerritorialmeers.” (Amadori BVirgilj 1908.)
Grenzbsten 11 1915 6
66 Ytaliens Politif auf dem Balkan und in der £evante
Als das dringendite Interefje Italiens erichien es zunächſt, daß in Albanten
feine fremde Macht fich feitfegte. Das Mißaeihid in Tunis mar nody in frifcher
Erinnerung, und wenn der Sriegehafen von Bıferta die milıtärifhe Poſition
Siziliens fehr verfchlehtert hat, fo wäre von einem feindlichen Valona, das
vierzig Meilen von der Küfte Apulien entfernt ift, noch Schlimmeres zu
fürchten. Der Beliger von Valona, fo murde geiagt, werde unumfchränfter
Herrſcher in der Adria fein. Wenn das eine Übertreibung ift, fo ift doch Kar,
daß der Befiter von Brindifi und Vulona den Kampf um die Vorherrichaft in
der Adria zu feinen Gunften entichieden hat. Neben den geographifchen ver-
binden auch alte gefchichtlihe Beziehungen Albanien mit Süditalien. Es gibt
dort große Kolonien eingewanderter Albanier; einer ſolchen entitammt zum
Beifpiel Erispi. Gerade von den Kreifen der Staliener albanischen Urfprungs
tft die Propaganda für die albaniihe Politif ausgegangen.
Wären Italiens Intereſſen zur Zeit des Berliner Kongreſſes geſchickter
vertreten worden, dann hätte es Albanien als Kompenjation für den öfter-
reihifhen Erwerb in Bosnien gewinnen können. Als es dann feit 1896 feine
Blicke auf Albanien richtete, mußte es ſich mit Vfterreich in den Einfluß teilen.
Sn den Abmachungen von 1897 und 1900 verſprachen beide Mächte, das Land
nicht als politifhes Erpanfionsgebiet zu betrachten. Im Sinne diefer Verein.
barungen wurde verfahren, als nad) dem Zufammenbrud der Türkei Dfterreich
und Stalien durchfeßten, daß ein unabhängiges Albanien geichaffen wurde.
Unter der Ted. folder Schiedsorrtiäge ift aber die Nivalität der beiden ver-
bündeten Staaten immer lebendig geblieben. Dabei ift Äſterreich aus ber
günftigen Stebung, die es anfänalid, vor allem als katholifhe Vormacht, hatte,
allmählich verdrängt worden; felbit in dem ihm zunächſt gelegenen Nordalbanien
wurde der italienifhe Einfluß vorherrihend. Stellten fih doch fogar die von
Oſterreich unterhaltenen Schulen in ven Dienft der Stalianifierung. Wenn
Stalien jebt die Verlegenbeiten des Rivalen benugt, um ſich in Valona einzu.
niften, zieht e8 nur das Fazit einer ihm günftigen Entwidlung, die es ber
geſchickten Vertretung feiner Intereſſen zu verdanken bat.
Für die Durhdringung Nordalbaniens war es von größter Bedeutung,
daß Montenegro dem Italienertum einen feiten Stüßpunlt bot. Seitdem 1896
die montenegrinifhe Prinzeſſin Eiena dem italienischen Thronfolger, dem heutigen
König, angetraut wurde, verfnüpften feite Bunde beide Staaten. Wirtſchaftlich
tft Montenegro eine italienifhe Kolonie: Staliener haben das Tabatmonopol
tn der Hand und führen unter montenegriniicher Flagge die Schiffahrt auf dem
Seutarifee, Italiener haben den Ausbau des Hafens von Antivari und den
Bau einer Eifenbahn Antivari— Pirbazar unternommen. Der ttalienifhe Einfluß.
ift fo ftarl, daß er zuweilen unter den Montenegrinern Unzufriedenheit er-
regt bat.
Montenegro war auch das Bindeglied zwiſchen Italienern und Serben.
Beide Nationalitäten liegen in itrien und in Dalmatien miteinander im Kampf.
Italiens Politit auf dem Balfan und in der Levante 67
Zrogdem bat Italien die ferbifchen Afpirationen begünftigt und den gemein-
famen Gegenfat gegen das fpezififch deutfche Dfterreichertum betont. Ein ſerbiſch⸗
italieniſches Komitee entfaltete eine rege Tätigkeit.
Italien bat die Unabhängigkeitsbeftrebungen der Ballanvöller ſtets ge-
fördert, und diefe Politi! war um fo populärer, als man dabei gern des
eigenen Einheitsfampfes gedachte. Mafgebend war aber nur die fühle Er-
wägung, daß Stalien eine Machtverſtärkung Rußlands oder Ogſterreichs abzu-
wehren hätte. Für diefe beiden Mächte war es eine große Enttäufchung, daß
die Ballanvölker ihre Schidfale in voller Unabhängigkeit geitalteten, weil das
Syitem nationaler Staaten der eigenen Ausdehnung feinen Raum mehr läßt;
gerade aus diefem Grunde mußte jener Vorgang für Italien ſehr erwünſcht
fein. Der Gedanke eines Balfanbundes bat bei Feiner Großmadt jo früh
Anklang gefunden wie bei Italien. Schon Mazzini hatte ihn verfündigt, und
Erispi nahm ihn auf: „Die italieniſche Nationalpartei würde den Apfchluß eines
Balfanbundes mit Konftantinopel als Hauptftadt gerne ſehen. Aber der Zar
muß in feinen heutigen Befitungen bleiben, und der Sultan muß nad Aſien
binübergehen.“ Im Jahre 1889, nad) der bulgarifchen Kriſis, machte Erispt
einen Verſuch, jenen Bundesplan zu verwirklichen; er fchlug eine Militär-
fonvention zwifchen Rumänien, Bulgarien und Serbien vor, mit dem Zweck,
dem Einbrud Rußlands auf den Balkan einen Damm entgegenzumwerfen. Während
des ferbifch-öjterreichifehen Konflikts 1908 bi 1909 Hat Tittoni ähnliche Pläne
verfolgt, und zur Zeit des italieniſch⸗türkliſchen Krieges find fie Wirklichkeit
geworden, offenbar mit Italiens Hilfe.
Ein Balfanbund ift, wie wir feben, für Italien ebenfomohl eine Waffe
gegen Dfterreih wie gegen Rußland. ſterreichs Vormarſch gegen Saloniki,
mochte er aud) nur auf wirtſchaftlichem Gebiete erftrebt werben, ftieß auf die
Gegnerſchaft Italiens. Den Ährentalfhen Eifenbahnplänen gegenüber wurde
das Projekt einer Dorau—Adriabahn unterftügt, das auch von Serbien be-
vorzugt wurde. Daß Öfterreich bei der Annerion Bosniens auf den Sandihal
Novibazar und auf die Einſchränkungen der Souveränität Montenegros, wie fie
Artitel 29 des Berliner Vertrages bedingte, verzichtete, ift auf die Einwirkungen
des Dreibundsgenoflen zurüdzuführen. An Macedonien fühlte fi Italien aus-
geichaltet, folange Rußland und Dfterreich dort gemeinfam nad) dem Mürz
fteger Programm verfuhren, und in dem Grünbuch, das die römifche Regierung
1906 über Dtacedonien veröffentlichte, tritt dee Unmut über diefe Zurückſetzung
deutlich zutage.
Italiens Stellung . verbefierte ſich, als das erftartende Rußland auf dem
Balkan wieder feine eigenen Wege ging. Das ruffilch-ttalienifche Einvernehmen
von 1909 ift mit Yubel begrüßt worden: nun fei man erft ganz unabhängig
von dem deutfchen Blod. Aber eine ruffifcde Übermacht auf dem Balkan wäre
für Stalien nicht minder unerwünſcht als eine öſterreichiſche. Man hat Rußland
zu gelegener Zeit gerne gegen Äſterreich ausgefpielt; aber „das legte Ziel des
5"
68 Italiens Politit auf dem Balkan und in der Kevante
Kalten und Rußland einigenden Kampfes birgt den Keim unentrinnbaren
Gegenſatzes zwiſchen den Kämpfenden in fi. Die Verdrängung Oſterreichs
von der Ballanbalbinfel würde den ruffifden und den italieniſchen Einfluß mit
voller Gewalt aufeinander prallen laſſen“ (Robert Michels). Daß die Be
herrſchung der Dardanellen durch Rußland für Italiens Mittelmeermadt einen
ſchweren Schlag bedeuten müßte, das ift oft wiederholt worden, feibem Cavour
mit diefem Sat den Eintritt in den Krimfrieg motivierte. Rußlands Vor⸗
berrfhaft auf dem Ballan wäre die gefährlichite „Begrenzung“, die Italien im
Diten finden Tönnte.
Die Dinge find an einem Punkte angelangt, an dem ſchon die Konkurrenz
der jungen Nationalftaaten des Balkans fih für Italien unliebfam bemerkbar
macht. Seit dem Balkankrieg hat die offizielle italieniſche Politik vereint mit
der dÖfterreichifchen die Anſprüche Serbiens auf Nordalbanien befämpft. Gie
bat es in meifterhafter Gefchiclichleit verftanden, trogdem den Serben gut Yreund
zu bleiben. Aber es ift deutlich, daß ein großferbiicher Staat an der Adria für
das Regno ein um fo weniger angenehmer Hausgenofje wäre, als er von der
Macht des Panflamismus getragen würde. Man liebt es augenblidlidh in
Italiens Preffe, diefe Gefahr gering anzufchlagen, um von Sorgen ungetrübt
bie feindlichen Empfindungen gegen Dfterreich frei walten Iaffen zu können.
Daß die flawifhe Gefahr im Grunde au von italieniihden Politikern Tlar
erfannt wird, ift aber daraus zu erjehen, daß vielfach geraten wird, die Gegner⸗
ichaft gegen Griechenland zurädtreten zu laſſen, um fih in ihm einen Der-
bündeten gegen das Slawentum zu fichern.
Auch Griechenlands Auflommen bat Italien begünftigt. In der Frettichen
Trage bat es ſchon in den neunziger Jahren die türfenfreundliche Haltung der
anderen Dreibundftanten nicht unterjtübt. Das Großgrieddenland von heute
droht aber ein nicht ungefährlicder Rivale im öftliden Beden des Mittelmeeres
zu werden. Die Erpanfion beider Staaten ftößt in Epirus und in der Levante
aufeinander. Im Ägäiſchen Meer bat Stalien während des Tripolistrieges
den fogenannten Dodelanes, zwölf Infeln an der Tleinaftatifhen Küfte, darunter
Kos und Rhodos, befegt. Im Friedenſchluß verjpra es, fie herauszugeben,
fobald Lybien von den Türken geräumt fei. Bevor das geſchah, brach der
Ballankrieg aus, und Griehenland würde ficherlich wie die anderen türfifchen
Inſeln auch den Dodelanes bejebt haben, wenn dort nicht noch italieniſche
Zruppen geftanden hätten. Deshalb verlangten die Griechen, daß die zwölf
Inſeln an fie, nicht an die Türken herauszugeben wären, um fo mehr, als bie
faft völlig griechiſche Inſelbevölkerung Kundgebungen in diefem Sinne unternahm.
Die römiſche Regierung hat fi bisher mit Erfolg gemeigert, eine Entſcheidung
in diefer Frage von anderen Großmächten, das heißt vor allem von England,
anzunehmen; fie behält das Fauftpfand einftweilen in der Hand und Hat damit
aud einen Stüßpuntt für jede weitere Altion. Da Frankreich Griechenlands
Anſprüche unteritügte, fieht fie die Gefahr eines franzöſiſch⸗griechiſchen Bünd⸗
Italiens Politit auf dem Balfan und in der Levante 69
nifjes vor ih. Deswegen find Stimmen laut geworden, man müſſe Griechenland
für fi gewinnen, und zwar unter einer antiflawiihen Parole. San Giuliano
ſchrieb ſchon 1902: „Der Hellenismus iſt eine Kraft, die zu Verbündeten zu
baben unter Umftänden ſehr nüslich fein Tann, und welche, wie die Freundfchaft
der Rumänen, der Albanier und der Magyaren, uns einmal als Wehr gegen
da3 auf die Ballanhalbinfel eindringende Slawentum dienen Tann.”
Man fieht: als der gefährlichite Feind gilt unbefangener Betrachtung eben
doch der Panflawismus. Ihm gegenüber pflegt man auch die Verbindung mit
Rumänien. Daß die vielberufene Stammesverwandtihaft Rumäniens weniger -
eine ethniſche Tatſache als ein antiruffiiches politifches Programm bedeutet,
da bat uns ein Italiener (Amadori Birgilj) gelehrt: „Das rumäntiche
Boll, namentlich das Landvolk ift ſlawiſch geblieben. Die führenden Klafien
fehen aber in dem Latinismus ein ganzes politifches Programm, die Behauptung
einer glüdlihen Unabhängigfeit, nicht fowohl gegen die flawifchen als gegen
die ruſſiſchen Mächte, die das Land umgeben; fie erllären fich deshalb für
Xateiner, fie erwärmen fich bei ber Erinnerung an Rom, das das opportuniftifche
Zeichen ihrer Unabhängigfeit ift.“
In der Zürlei hat Italien in den legten fünfzehn Jahren feinen Einfluß vor
allem auf Koften Frankreichs auszudehnen verſucht. Die Tirchenfeindliche dritte
Republit bat dem „Lirchenräuberifchen” Italien einen Teil feines Protektorats
über die katholiſchen Chriften im Drient abgetreten. Darüber find im Auguft
1905 beftimmtere Abmadungen erfolgt, und Italien entfaltet dort feitdem eine
lebhafte wirtfchaftliche und kulturelle Energie. Für die Unterſtützung religiöfer
Werle in der Levante gibt der italieniſche Staat mehr als eine Million aus,
und durch Schul- und Banlgründungen in Smyrna und Konftantinopel fucht
er feinen Einfluß zu ftärlen. Der Patriarch von Serufalem ift ein Staliener.
Das Beltreben, Preftige zu gewinnen, illuftriert der Heine Bug, daß bie
Staliener in Kreta und in Kleinafien archäologiſche Ausgrabungen veranftalten,
obwohl doch der heimifhe Boden der unbehobenen Schäge die Hülle und
Fülle birgt. Der Sieg über die Türkei wurde dazu benutt, in Kleinafien
wirtſchaftliche Vergünjtigungen zu gewinnen. Man verjuchte in den Vilajets
Brufla und Aidin, alfo im Norden wie im Weiten, fi) Einfluß zu jchaffen.
‘m September 1913 wurde einem italientiden Konjortium die Konzeſſion
für die Bahn Adalia—Burdur erteilt, die dem italienifhen Handel die Be»
berrfäung des Vilajets Adana im alten Pamphylien ermöglichen fol. Wie
man fieht, richtet ſich dieſe wirtſchaftliche Tätigkeit nicht auf ein beftimmtes
Gebiet, fondern auf ganz Anatolien. Die bisherige italieniſche Drientpolitif
war leineswegs auf eine Teilung der Türkei berechnet, wie es von der Rußlands
und Englands gejagt werden kann. Geit dem Ballanfrieg beftand denn auch
in Rom das aufrichtige Beitreben, die Stellung der Türkei zu Träftigen.
Freilich bedeutete der Eintritt der Zürlei in den Weltkrieg für Italiens
Keutralitätspolitit eine Kraftprobe; denn die Erflärung des heiligen Kriegs
70 Italiens Politif auf dem Balkan und in der Levante
bat eine gewiſſe Intereſſengemeinſchaft der über Länder des Islams gebietenden
Staaten gefhaffen. Bon Anfang an wurde aud) in der italienifhen Kriegspreſſe
der Gedanke vertreten, Italien müffe fih aus dem wahrjcheinlihen Zufammen-
bruch der Türkei die Beute retten. Solange aber diejer Augenblid nicht
offenfundig gelommen tft, wird Italien, allein aus diefem Grunde, wohl faum
den Anftoß zu einer Ummwälzung geben, die die Befißverhältniffe im Mittelmeer
in nicht abfehbarer Weife ändern müßte. Nach dem engliſch⸗ruſſiſchen Teilungs-
plan fcheint für Ktalien ein Gebiet in Stleinafien beftimmt zu fein. Diefer
Erwerb würde aber nicht im Verhältnis ftehen zu dem Anteil an der wirtichaft-
lihen und Zulturellen Erſchließung des Drients, den Italien zu gewinnen im
Begriff ftand. Wird SKonftantinopel und Kleinaflen ruffifh, die Ägäis ein
griechifcher See, gerät Syrien und PBaläftina in franzöfiſche und englifche Hände,
dann ſteht Ytalien, mag es auch feinen Anteil erhalten, im Dften vor der
gleihen „Begrenzung“ wie im Weiten. Der Tonzentrifche Drud, den beute
fhon die europäifhen Völker auf das Mittelmeer ausüben, wird erheblid
gefteigert werden, und Stalien mag dann erfahren, was es heißt, ein „Reid
der Mitte” zu fein, das nach Feiner Seite freie Hand hat. Sein bisheriges
Verhalten weiſt e8, folange die Türkei ftanphält, auf eine Politit der offenen
Zür, die es vermutlich ebenfo der Zripleentente wie den Zentralmächten
gegenüber zur Geltung bringen würde. Den vollen Sieg wird Stalien. feinem
der beiden fämpfenden Parteien wünſchen; an ihm mag Mar werden, was ein
ſcharf denfender Schriftfteller (Ruedorffer) Turz vor Kriegsausbruch propbezeite:
daß von einem modernen Kriege nicht die Sieger, fondern die Zufchauer den
größten Gewinn haben würden.
Die Dolksfirhe und ihre vaterländifche Sendung
Don Artur Braufewetter, Ardıdialonus a, d. Ober» Pfarrfirche
zu St. Marien in Danzig
was der Kirche der Gegenwart entipridht, und was ihr not tut.
u Die Seele des einzelnen tritt in den Mittelpunft allen Suchens,
fie trägt zugleich ale Verantwortung. Jede Bevormundung hört
auf; es ift Pflicht des einzelnen, feine Stellung zu Gott ein-
zunehmen und zu behaupten. Und mie feine Pflicht, fo ift es auch fein
Recht.
Damit ift Religion und Neligionsübung bewußt in die Sphäre des
Geiſtes verjegt, der Unterfchied zwifchen: Klerus und Laien getilgt und jeder
Stand vor Gott gleichgeitelt. Eine freiere und innerlichere Glaubengjtellung
it angebahnt, einer deutfchen Einheit und bdeutfchen Kultur ein neuer Weg
gewiejen.
Aber in diefer Kraft einer auf das Geiltige gebauten Kirche Liegt —
das bürfen wir nicht vergefien — zugleich ihre Gefahr. So gut nämlich
die Kirche der Gegenwart verfchiedene Meinungen tragen Tann und fol, fo
fehr individuelle Eigenart ihr Farbe und Leben leihen, fo frhr ift die Mahnung
am Plate: das Ganze nicht ber dem Individuellen, das Allgemeine nicht
Über dem Perfönlichen zu vergefjen. Ein gar zu ausgeprägter Andividualismus,
ein zu eng und zu empfindungsvoll gefaßter Perfönlichkeitsbegriff, das ift die
Gefahr, von der ich ſpreche.
Die alte Dogmatil unterfcheidet geiſtvoll zwiſchen einer „fihtbaren” und
einer „unfihtbaren” Kirche. „Sichtbar“, weil organifch geordnet und zahlen-
mäßig und ſtatiſtiſch nachweisbar, ihre Mitglieder: alle auf den Namen Jeſu
Ehrifti Getauften. Ihr jedoch mit ihren Fehlern und Gebrechen gegenüber.
ftehend die unfichtbare, die Idealkirche, und ihre Glieder alle wahrhaft
Släubigen, alle nicht mit dem Namen und dem Munde, fondern mit der Tat
und dem Herzen Belennenden, gleichviel zu welcher der fichtbaren Gemeinde
fie gehören. Gie ift die „Eine“, die „Allgemeine“, die „Gemeinde der
723 Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung
Heiligen”, ein Gegenftand des Glaubens mehr, als des Schauens, bes Sehnens,
als des Wiſſens. Die Aufgabe der fihtbaren Kirche aber im letzten Grunde:
ihre Glieder zu ſolchen der unfichtbaren zu erziehen.
Wir veritehen dieſe jpelulativen Gedanken auch heute noch, wir fühlen,
wie die Sehnfucht unferer Zeit auf jene Ideallirche gerichtet ift, die, der lebten
Wahrheit nahe, alle Glieder zur Einmutigkeit in fich ſchließend, das große
Wort Chrifti zur Wirklichkeit madt: Eine Herde und ein Hirt.
Für die ernfte Realität des Lebens der Gegenwart freilich liegt ein
anderes Ziel näber: die Staatsficdhe, in der wir leben, zur Bollsfirche zu
geitalten.
Man wollte e8 auf dem vielen erftrebenswerten Wege zu erreichen fuchen:
Loslöfung der Kirche vom Staate.
Ich möchte vor diefem Wege warnen. Nicht in der Loslöfung vom
Staate, im Gegenteil, nur in der Verbindung mit ihm kann die Kirche Volls⸗
fire werden. Denn nur fo ift ihr die Möglichkeit gegeben, von aller
Soliertheit entfernt, das Volksleben religiös, ethiſch und kulturell zu durch⸗
dringen. Nur fo lann fie ihre Ordnungen rechtlich gefhübt fehen, und nur
fo Schließlich ihrerſeits die ftantlich foziale Tätigkeit mit freien Lebensträften
erfüllen. Zweifellos entiprang der Gedanke einer Loslöfung der Kirche vom
Staate ideellen Motiven, feine Verwirklichung aber wäre, wenn überhaupt
möglich, mit Bedenlen verbunden, die unter Umftänden die Eriftenz der Kirche
gefährden Fönnten. Das ward in warm liebendem Eifer überfehen. Aber auch
für den Staat wäre eine folde Trennung eine Gefahr. Denn die enge Der-
bindung mit der Kirche bewahrt ihn davor, religionslos zu werden. Daß
außerdem bei einer Loslöfung die theologiſche Ausbildung der Prediger auf
ben Univerfitäten, die Anftellung der Profefioren heute gar nicht zu überſehenden
Schwierigkeiten begegnen würde, fol nur nebenhin erwähnt werden. Wie es
ja überhaupt nit in der Richtung und Abficht diefes Auffabes Iiegt, das
Gebiet der Loslöfung der Kirche vom Staate eingehender zu erörtern. Nur
geftreift ſollte es werden und denen, bie fi auch heute noch nicht von dem
Wunſche einer ſolchen Trennung Iosfagen können, die Frage vorgelegt werden:
ob fie wirklich meinen, daß die Kirche ftarf genug wäre, eine Tages ganz
auf fi felbft geftellt zu fein? Ich glaube, fie braucht den Staat, wie ber
Staat fie braudit.
Freilih mit der Staatskirche allein wäre es auch nicht getan. Das fahen
die bald ein, denen die freie Entmwidlungsfähigleit der Kirche am Herzen lag.
Darum trat an Stelle des Schlachtrufes: „Hie Staatliche”, „hie Freilirche!“
bei den Einfidtigen das Beſtreben zutage: anjtatt fih im zwei Lager zu
zerfplittern, lieber alle Kräfte darauf zu richten, die Staatskirche zur Volkskirche
umzuwandeln.
Aber nun zeigten ſich erft recht die Schwierigkeiten, die ſich einer Volls⸗
tümlichleit der Kirche entgegenftellten. Nicht die ſtark einfeßende und methodiſch
Die Volkskirche und ihre vaterländifhe Sendung 73
um fi) greifende Austrittsbewegung war bie größfte unter ihnen. Sie wurde
weit überfhägt und Hatte für VBeftehen und Bedeutung der Kirche durchaus
nicht den Wert, deu man ihr anfangs zumal.
Eine bei weiten größere war ber auffällige und unaufhaltfame Rüdgang
des proteſtantiſchen Bevölferungsanteils, der ſich mit der Notwendigfeit eines
natürlichen Creignifjeg vollzog. Er war weniger durch religtöfe als durch
wirtfchaftlide und ethiſche Motive begründet. Und zwar buch den Rückgang
der Geburten insbejondere in den germanifchen Ländern, die fämtlich einen viel
ftärferen Rüdgang zeigten als die ſüdromaniſchen und flamifchen.
Ein weiterer Hinderungsgrund für die Vollstümlichlett ‘der Kirche war
die religiöfe und kirchliche Gleichgültigfeit, der fie unter ihren eigenen Gliedern
begegnete. Es gab wohl Gemeinden und Drte, in denen die Beliebtheit oder
befondere Befähigung eines Geiftlichen einen ſtarken Kirchenbeſuch hervorrief,
in denen gute Gewohnbeit fajt ausnahmslos Taufen und kirchliche Trauungen
verlangte, und die Begräbniffe ftetS unter geiftliher Begleitung ftattfanden.
Hieraus aber den Schluß der Voltstümlichkeit der Kirche als folcher zu ziehen,
wäre gemagter Optimismus gewefen. Gerade in diefer regen Entfaltung
firhlicder Gepflogenheit ftagnierte oft das Firchliche Leben, Tonnte von feinem
Eindringen in das Boll Teine Rede fein. Jenen Streifen ftanden andere
gegenüber, — und oft waren e8 ernft und aufrichtig fuchende — die ſich durch
die für die große Menge berecjneten Leiftungen der Kirche, durch ihre Gottes-
dienfte, in denen der Geiftlihe, wohl auch die Gemeinde als ſolche zu ihrem
Rechte Tamen, aber nicht der einzelne mit feinem religiöfen Verlangen und
feiner perfönlichen Anteilnahme, von der großen kirchlichen Organifation ab⸗
geftoßen fühlten. Das fchuf den zahllofen Selten den Boden, vor allem aud)
den wadjjenden Gemeinſchaftsbewegungen, die bald eine größere Vollstümlichkeit
befaßen als die Kirche.
Zu diefer Gleichgültigfeit und Abwendung uon der Kirche gefellte fich,
insbeſondere in ſtark induftriellen Ländern oder Großftädten, etwas anderes:
ausgeſprochene Feindſeligkeit. Mochte diefe nun fozialen oder politifchen
Urfprungs fein, mochte fie in der wachſenden Kirchenfteuer oder in anderen
wirtſchaftlichen Einrichtungen begründet fein, modten die Selten fie fchüren
oder die Agitation der Konfeffionslofen, jedenfalls hinderte fie die Kirche
vollstümlid) zu werden.
Die Kirche erfannte die ihr drohenden Schwierigleiten und war auf dem
Plane. Gie teilte ihre Gemeinden, beſonders in den größeren Städten, zwecks
ftärferer Durchbringung und intenfiverer Arbeit, in einzelne Seelforgerbegirke,
fie ordnete, um dem Gemeinſchaftsbedürfnis erfolgreih entgegenzulommen,
regelmäßige Bibelftunden im engeren Kreiſe an, fie förderte und fpornte bie
Bereinstätigleit, fie veranftaltete Familien- und Clternabende und widmete den
Kindergottesdieniten erhöhte Aufmerkſamkeit. Sie veranftaltete Vorträge apologe-
tiſchen Charakters oder ließ Fragen ethiſchen und kulturellen Inhalts im Rahmen
174 Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung
ihrer religiöfen Anſchauungen behandeln, fie beichäftigte fi mit dem Plane
einer Neugeftaltung der Agende und bemühte ſich, weniger abgejtandene Doktor
fragen in ihren Synoden zu behandeln.
Gewiß, das alles blieb nicht ohne Wirkung und Frucht. Aber die Bolls-
kirche ſchuf es nicht. Das Volk als folches ftand der Kirche zu einem jehr
großen Zeile immer noch abmwartend, ja ablehnend gegenüber, die matte
Gleichgültigkeit war nicht gehoben.
Da kam ein Reformator. Der faßte zu mit ſtarker Hand, der ſchuf aus
MWundern fein großes Werl. Schneller, als es irgendwer geabnt, ließ er das
firhliche Leben, da8 an vielen Wunden blutete, genefen. Was vielen machtlos
erſchien, jchuf er zur Macht, was fie alt und entkräftet wähnten, machte er zur
Jugend und zur Kraft. Aus dem Zmiejpältigen fchmiedete er das Geeinte,
aus den Parteiungen das Ganze. Diefer Neformator hieß der Strieg.
Vom eriten Mobilmahungstage an jchien eine neue Zeit für die Kirche
gefommen. Sie bildete in Gottesdienften und Abendmahlsfeiern den Sammel-
punft aller Kreife des deutſchen Volles. Die in langer, lauer FriedenSzeit
manden ſchon als überflüjfig anmutende Kirche war zu einem Felſen in ber
Brandung rings umber geworden. Gie hatte volkstümliche und nationale
Bedeutung gewonnen, war aus ihrer mehr fepariftiichen Stellung erhoben und
zu einem Allgemeingut des Volles geworden. Cine ecclesia militans, abet
nit mehr in dem Sinne, daß fie gegen die Widerftände der Welt-Lämpft,
fondern daß fie an den ernten Aufgaben des Vaterlands mit lämpfen, mit ihm
eins fih fühlen konnte. Das fo viele Jahre hindurch mit heißer Sehnſucht
erftrebte Ziel war Wirflichleit geworden: die Kirche nicht mehr einzelner
Gläubigen und Frommen im Lande, fondern die Kirche des Volkes.
Ein wejentlider Umſtand erleichterte dies neue Werden: unter den
gewaltigen Eindrüden der Ereigniffe fiel der fo lange herrſchende Hader ber
Konfeffionen und der kleinliche Kampf der Parteien und Richtungen, der wie
im ganzen Daterlande, fo leider auch in der Kirche feine unheilvolle Rolle
geipielt, in fih zufammen. In einer Zeit, in der der Proteftant wie der
Katholik in einer Front für eine Sache Leib und Leben gaben, reichten fich die
getrennten Konfejfionen über des Vaterlandes heiliger Not die Hand, das aufge
ſprochene Schutz⸗ und Trutzlied der evangelifchen Kirche, das fonft bei proteftantifchen
Verfammlungen und an proteitantifchen Fejttagen gefungen wurde: „Eine feite
Burg iſt unfer Gott“ wurde chriftliches Nattonallied, das da draußen wie
daheim als Kampf: und Giegesgefang neben der „Wacht am Rhein“ und
„Deutichland, Deutichland über alles“ vor dem Kaiſerſchloß in Berlin, bei dem
Tale Antwerpens und in den Schühengräben erklang. Nur das GEinigende
herrſchte; das Chriftlich-Deutfche.
Das zeigte fih am ftärkiten auf dem Felde der Caritas und materiellen
Hilfeleiftung. Wer hieß evangelifh, wer fatholifh, wenn es darauf anlam,
einem bebrängten Baterlande, notleidenden Brüdern oder Schweftern zu helfen?
Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung 75
Wo gab es da noch eine Kudenfrage? Wo die früher bis zum Überbruß
gehetzten Begriffe: liberal, konfervativ, fozial?
« *
%
Nun freilih gilt e8 die Hauptfadde: wird e8 der Kirche gelingen, ihre
fo unverbofft gewonnene Stellung zu behaupten, eine Vollskirche zu werden
und zu bleiben?
Damit ftehen wir vor den nationalen Aufgaben, die der Fire aus
diefer ſchickſalsſchweren Zeit erwachſen. Sie fordern feine Ummandlung, fein
Abweichen von richtig erkannten Bahnen; wohl aber ein Sichanpaſſen, mehr
ein Hineinwachſen in die Zeit. |
Es liegt auf der Hand, daß die über alles Erwarten fchnell erreichte neue
und gemaltige Bedeutung der Kirche eine ſchwere Verantwortung auferlegt.
Denn mas fo rafd) geworden könnte unter glüdlicdy veränderten Verhältniſſen,
die wir Doch alle erhoffen, wieder wie Spreu verfliegen. Mit der Not der Zeit
Iönnte der Wert der Kirche für die weiten Kreife weichen und alles bald auf
dem alten Standpunkte fein. Der Kirche aber müßte es darauf ankommen,
fid ihre Stellung als Volkskirche unter allen Umſtänden, komme es in der
politiſchen Lage unferes Vaterlandes wie e8 wolle, zu erhalten.
Jetzt ift die Zeit für fie gefommen. Jetzt oder nie. Was beute verfäumt
wird, kann nie wieder gut gemacht werden. In den Tagen, die alle Kräfte
anfpannen, Wert und Unmert nicht nur der einzelnen Perfönlichkeit, fondern
zugleih aller Einrichtungen, der gefellichaftlichen, ſtaatlichen oder lirchlichen
Drganifationen auf eine enticheidende Probe ftellen, hat die Kirche Gelegenheit,
ihre Kraft und Notwendigkeit zu erweifen, was fie bewahren will, zu bewähren.
Und wie die Zeit find die Umftände ihr günftig. Der ſtarke Anſchluß
an die Kirche iſt keineswegs, wie Schwarzfeher vorausfagten, eine vorübere
gehende Folge der Erregung und des Ungemwohnten geworden, der fi) im
Kaufe des Krieges abſchwächen würde. it er naturgemäß auch nicht ganz fo
ftarf mehr wie in den eriten Tagen, fo hält er ſich jet noch, nad) faft neun
Monaten, auf beträchtlicher Höhe. Menſchen, die früher feine befondere Neigung
für eine gottesdienftlihe Betätigung zeigten, fühlen jest einen Zug zu ihr hin.
Es ift fo viel der zehrenden Unruhe in ihnen und der bangen Ungebuld, fie
fuden die Ruhe, „die noch vorhanden ift dem Bolfe Gottes”. Oder fie haben
viel Schweres erfahren, ihre Philofophie verfagt, ihre Arbeit gibt ihnen nicht
mehr die alte Kraft. Sie verfuhen es mit dem feiernden Gotteshaufe.
Ein anderer Prediger treibt in die Kirche: der Tod. Gemiß, er ift
immer da gemwejen. Aber man hat nicht gerne an ihn gedacht, hat ihn ignoriert,
folange es eben ging. Jetzt gebt es nicht mehr. Wir find von feiner
Wirklichkeit umfangen. Der Tod ift in der Welt. Nicht nur auf dem Schlacht»
felde, fondern auch bei uns daheim. Die Kreife um uns lichten fi), Die
76 Die Dolfstirche und ihre vaterländifhe Sendung
Häufer werben leer. Wir gehen, ein jeder auf feine Weiſe, den Gedanken bes
Todes nach und vergraben uns in feine dunklen Geheimniſſe. Die einen fuchen
die Löfung wieder in der Philofophie, die anderen in der Arbeit, viele aber
treibt der Todesgedanle in die Kirche. Das tft von Anbeginn jo ge-
wejen.
Auh von den Tapferen da draußen hören und lejen wir immer aufs
neue, daß ihnen ein Gottesdienft oder eine Feldandacht viel der Kraft
und Aufrichtung gibt. Das Verlangen nad) einer größeren Anzahl von Feld
geiſtlichen wächſt.
Alſo das kirchliche Bedürfnis, das eine Reihe von Jahren geſchwiegen
hatte oder latent geblieben war, iſt mit Nachdruck erwacht. Das iſt zweifellos.
In ſeinen erhebenden wie niederdrückenden Ereigniſſen iſt der Krieg ein gewaltiges
stimulans für das kirchliche Leben geworden, und es kommt lediglich darauf
an, die ſäenden Kräfte fruchtbar zu machen.
Das gilt nun aber in allererſter Reihe von der Predigt, der in dieſer
ernſten Zeit eine beſondere Bedeutung zukommt. Wir haben bereits geſehen:
fie war nicht immer von der Kraft getragen, die ihr notwendig war. Sie
erörterte dogmatiſche Fragen, die für unfere Zeit eigentlich leinen beſonderen
Wert mehr befaßen. Da es eine große allgemeine Not nicht gab, fo drehte
fie fih gar zu leiht um die einzelne Meine. Das raubte ihr den Zug ind
Große und lieh ihr einen gemiflen fentimentalen Charakter, der nicht jedermanns
Sache war.
Darin iſt jet Wandel geichaffen. Die Nöte unferer Zeit finden ihren
Widerhall in jeder Seele, das Einzelleid ift weſenslos geworden, es gebt auf
in dem allgemeinen für das Vaterland. Jene Art überperjönlidder Predigt,
wie fie die lange, laue Friedenszett gezüchtet, ift heute einfach unmöglich. Die
Chriften ftehen alle für einen, einer für alle. Die Perfönlichkeit Jeſu Chriftt,
der man auch bereitS einen gewiſſen Zug ins Sentimentale gegeben, lebt jet
auf in ihrer ehernen Größe. Nicht nur die weidhen Worte feiner Liebe, auch
jenes andere erwacht zum Leben: „Ihr follt nicht mwähnen, daß ich gelommen
fei, Frieden zu fenden auf Erden. ch bin nicht gelommen, Frieden zu fenden,
fondern das Schwert.” Und mit der propbetiichen Wahrheit feines Wortes
fommt feine große Tat unter den reigniffen diefer Zeit zu ganz neuer
Bedeutung: die opfernde Hingabe feines Lebens für die Menjchbeit.
Und mit ihm erhebt fich neugeboren und neufporend eine andere Perfönlich-
feit: Martin Luther. In einer Zeit, in der wir für die heiligen Güter
deutfcher Kultur und Freiheit bis auf den legten Blutstropfen kämpfen, bat er
uns naturgemäß viel zu fagen; denn auch bei ihm und feinem Kampfe handelte
es fih um die höchſten Güter der Freiheit und Kultur. Uber wir Tennen
Luther noch zu wenig. Gerade die Geiftesgebilbeten unferes Volles fehen in
ihm zwar einen religiöfen Genius, find fich jedoch über den Umfang und die
univerfale Kraft feiner Schöpfung zu wenig Mar. Als der eiferne Mann in
Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung 77
eiferner Zeit fteht er heute vor uns, der als guter Chrift dennoch das Wort
geiprodden: über den Krieg müfje man männlich denken.
Keiner Tennt die Schreden bes Kriege wie er, Teiner weiß zugleich fo
Nar und nüchten über ihn zu reden. Der Krieg ift „ein furchtbares, graufiges
Schrednis”", Teuerung und Peſtilenz find „wie Fuchsſchwänze, ja, nicht zu
vergleihen mit dem Kriege. Wer ibn anfängt, der frevelt wider Gott und
fol gefchlagen werden.” Aber biefer „Kriegsluft” fteht ein anderes gegenüber:
der „Notkrieg“. „Der erſte ift des Teufels, dem gebe Gott fein Glüd, der
andere ift ein menſchlich Unfall, dem Helfe Gott... . E8 wird die Zeit jelbit
Ernft genug mit ſich bringen, daß den zornigen, trogigen, ſtolzen Eifenfreffern
die Zähne follen fo ftumpf werben, daß fie nicht mal friſche Butter beißen
fönnen.“
Auch die jeht oft fo müßig aufgemorfene und breitfpurig behandelte Frage:
wenn e3 einen Gott gibt, jo müfje er der gerechten Sache den Sieg verleihen,
wird von Luther treffend und kernig beantwortet: „Mann, Waffen, und alles,
fo zum Streite gehört, fol man haben, fo es zu belommen tft, auf daß man
Bott nicht verfuhe. Aber wenn mans hat, fol man nit darauf trogen, auf
daß man Gott nicht vergefle oder verachte, denn es ſteht gejchrieben: aller
Sieg kommt vom Himmel. ... Wahr ift es, rechte gute Urfache haft du, zu
friegen und dich zu wehren, aber du haft darum noch nicht Siegel und Briefe
von Gott, daß du gewinnen werdeſt.“
Aber anderfeitS verheißt er: „Wer mit gutem, woblberichtetem Gewiſſen
ftreitet, der fann auch wohl ftreiten, fintemal es nicht fehlen fann, wo gutes
Gewiſſen ift, da ift auch großer Mut und fedes Herz; wo aber das Herz led
und der Mut groß fit, da tft die Fauft noch deſto mächtiger, und beide, Roß
und Mann, frifder, und gelingen alle Dinge befler, und fchiden fi auch alle
Fälle und Saden deito feiner zum Siege, welchen denn Gott auch gibt.“
Das ift der männlich deutfche Klang, in dem uns die Verfündigung des
Wortes in diejer Zeit und aud in der kommenden geboten werden muß. Denn
wer kann fih heute, Tann fi für eine fehr lange Zukunft eine Predigt voritellen,
die nicht national gefärbt ift, in der das Deutſche und das Chriſtliche nicht in-
einander übergeben? Wer will überhaupt noch etwas hören, das mit den gewaltigen
Beitereigniffen nicht in irgendweldem Zuſammenhange fteht?
Aber ich gehe weiter. Die vaterländifhe Aufgabe der Kirche bat noch
andere, ausgeſprochen praktiſche Ziele: ethiſche und wirtfchaftlide Aufklärung
unſeres Volkes.
Es iſt fraglos und wird jeden Tag durch die Erfahrung aufs neue
beſtätigt, daß trotz aller behördlichen Maßnahmen weiten Kreiſen der tiefe Ernſt
unſerer wirtſchaftlichen Lage noch nicht aufgegangen iſt. Dies liegt ſehr oft
weniger am böſen Willen als an mangelnder Aufklärung.
Und hier iſt meines Erachtens eine neue hochbedeutende vaterländiſche
Aufgabe für die Kirche geſchaffen. Denn in ihr ſammeln ſich die Menſchen
18 Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung
aller Kreife. Hier hat der Geiftliche den Arbeiter, das Dienſtmädchen wie den
Gebildeten zu feinen Zuhörern. Hier tft zugleih die größte Cmpfänglichfeit
und der Wille anzunehmen. Was der Pfarrer von der Sanzel jagt, wird
anders aufgenommen, als was gejchrieben oder angeordnet wird. ine geeignetere
Stelle zur ernften aufflärenden Mahnung iſt alfo nicht denkbar.
Dder wollte man einwenden: eine ſolche praftiihe Belehrung über wirt-
Ihaftliche Dinge würde eine bedenkliche Annäherung an den flachen Nationalismus
der Aufflärungszeit bedeuten ?
Das wäre falſch. Eine ethiiche Aufflärung zu unferes Vaterlandes Heil
würde im Gegenteil einer Vertiefung religiöfen Lebens und Handelns glei
fommen. Bon jeher haben die Kraft und Größe des Chriftentums in der Ber-
fündigung eines Glaubens beftanden, der tätig ift in der Liebe, haben fie ſich in
der Hinwendung zu den täglihen Aufgaben und Bebürfniffen des täglichen
Lebens gezeigt. Aus ihnen erwuchſen die unvergleichlichen Neden und Gleich⸗
niffe, mit denen Chriftus fo gewaltig an den Nero des Volfslebens zu fallen
wußte. Was uns heute not tut, das ift ein praftifhes Chriftentum, das nicht
immer „kirchlich“ fein will, fi) vielmehr auch außerhalb der kirchlichen Formen
fruchtbar an den rein humanitären Arbeiten freier oder ftädtifcher oder ftaat-
liher Einrichtungen beteiligt. So allein bemährt es die Kraft des Sauerteiges,
der die Welt durchdringen joll.
Es tit ſich bereit3 feiner vaterländifhen Aufgaben bewußt gemorden. Aus
Pfarrhäufern, von Presbyterten und Gemeindevermwaltungen find zahlreich bie
Liebesgaben und TFeldpoftpalete an unfere Srieger herausgegangen. In ben
Lazaretten und anderen Einrichtungen des roten Kreuzes haben Geiftliche, ihre
Frauen und Töchter hingebend gearbeitet. Die innere Miffton, der evangelijche
Bund und fonftige kirchliche Einrichtungen haben die Sonderaufgaben, derent⸗
wegen fie ins Leben gerufen wurden, bintenangeftellt um lediglich vaterländifche
Arbeit zu tun. Don der nationalen Bedeutung, die man der Kirche jetzt allgemein
zuerlennt, zeugt aud der häufig gemachte, hier und da bereits in die Tat
übergejegte Vorſchlag: man möchte die traurigen, mit der Auffchrift „tot“ oder
„gefallen“ zurüdgefandten Briefe ebenſo wie offizielle Todesbenacdhrichtigungen
an das zuftändige Pfarramt fchiden, damit der Geiftlihe hingehen und die
Angehörigen in der rechten Weife vorbereiten könne. |
Bon wie vielen Pfarrern haben die Zeitungen berichtet, daß durch ihre
Predigten und ihr Wirken Unfummen von ängfıli verſteckt gehaltenen Gold⸗
ftüden herausgegeben und der Reichsbank überwieſen wurden.
Aber auch ſchon in Friedenszeiten haben fich die Geiftlichen als Borfigende
oder im verborgenen arbeitende Mitglieder der Krieger-, Dfimarlen-, Flotten-
und anderer nicht „tirchliher” Vereine in den Dienft des Vaterlandes geitellt.
Wil die Kirche zur Volkskirche werden, fo muß auf diefer Linie erfolgreich
begonnener patriotifcher Zätigleit unentwegt weitergearbeitet, muß auf fozialem
wie vollSwirtfchaftlidem Gebiete vieles gefchaffen werden, was nicht „kirchlich“
Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung 19
ift und dieſe Bezeichnung dennoch als die Liebesbetätigung einer religiös fittlichen
Gefinnung verdient.
„Bebt jedes Goldſtück fofort in den Verkehr oder bringt es auf bie
Reichsbank, tragt keinen Pub, bezähmt eure Vergnügungsſucht, meidet bie
ſchalen Schauftellungen der Kinos, die widerwärtigen Operetten nad) franzöfiſchem
Rezept, die elende Theater anitatt gejunder Soft felbft in dieſer bittererniten
Zeit vorzufegen den Mut haben, fchraubt mit jedem Tage eure Anjprüce
um ein weniges herab, feid genügfam und gebt von dem, was ihr jo ohne
große Mühe erfpart, denen da draußen oder den Notleidenden!” das wäre
eine Behandlung der vierten Bitte: „Unfer täglich Brot gib uns heute” in neuer
nationaler Bedeutung. ine fehwere, aber heilig große Zeit voller Würde und
Kroft auf fich zu nehmen, das iſt das Ziel, dem wir entgegenreifen, und an
dem die Kirche in erfter Reihe mitzuarbeiten berufen iſt.
*
*
Und wieder gehe ich einen Schritt weiter. Sol die Kirche ihre vater-
laͤndiſche Aufgabe erfülen, fol fie ins Voll dringen und eine „Volklslirche“
werden, dann darf fie nicht mehr eine Kirche der Paftoren bleiben, wie fie es
leider immer noch ift.
Das ift ja der ganze Widerſpruch und das Verhängnis, an dem insbefondere
die evangelifche Kirche leidet: fie will eine Kirche des Volkes fein, fie proflamiert
das Prieftertum aller Gläubigen, fie vermwirft die ängftlide Trennung von
Klerus und Laien — und fie bleibt doch die Kirche der Paftoren, bleibt doch
von jeder wirfliden Mitarbeit der Volkskreiſe weit entfernt. Sie bat ihre
Bemeindeorganifation, ihre Kirchenälteften, ihre Gemeindevertreter aus bürger-
lichen Kreijen, beruft aus ihnen ihre Synoden: Kreis⸗, Provinzial-e und
Generalfgnode. Aber die Nedenden und Handelnden find faft immer bie
Geiſtlichen.
Sie hat ihre Gutes wollenden Vereine: Guſtav⸗Adolf⸗Verein, Evangeliſcher
Bund, Innere und Äußere Miſſion. Aber die leitenden Perſönlichkeiten find
Baftoren oder Mitglieder der Konfiftorien. Grundfalid. Das gerade ift es,
was die Kirche hindert, ins Volk zu dringen. in mitten in der Arbeit des
Tages, mitten im Strome bes Lebens ftehender Mann müßte in ihnen die Führung
übernehmen, gleichviel, ob er den eriten oder den einfachen Geſellſchaftskreiſen
angehört — nur nicht der Geiftliche, von dem jedermann fofort die Über-
jeugung bat, er müſſe ſolche Arbeit „von Berufs wegen“ leijten.
Jetzt ift wiederum die Zeit da, wo es einer von ihrer vaterländifchen
Sendung erfüllten und diefe mit allem Eifer treibenden Kirche nicht fchwer
fallen follte, ſolche Perfönlichleiten aus ben Streifen der „Laien“ zu finden und
für ihre Aufgaben und Ziele warm zu madıen.
Zielbemußte Heranziehung der Vollskreiſe zur Mitarbeit, rechtes Verftändnis
für nationale Wirkfamfeit, eine der großen Zeit angepaßte großzügige Predigt,
80 | Gobinean über Dentfhe und Franzoſen
Teilnahme an allen ethiſchen, aber auch fozialen und vollswirtſchaftlichen Auf⸗
gaben, die uns heute dringender als je am Herzen liegen, das find bie neuen
Wege und Ziele, die fih für die Kirche auftun.
Aus diefem Grunde trete ih auch für das kirchliche Stimm⸗ und Wahl.
recht der Frau ein, fowohl für das. altive wie daS paſſive. Denn in dem
Streben, die Kirche ind Boll zu tragen, fällt ohne Zweifel ber Fran eine
große Aufgabe zu.
Und erſt wenn alle Kraft darauf gerichtet ift, die Staatskirche zur Voll
fire zu geitalten, ihre rein „kirchliche“ Sendung zu einer nationalen und
vaterländifhen umzuändern, dann kann fie ihre Aufgabe erfüllen: Erzieherin
des Volles, Teilnehmerin an feinen Erhebungen und Leiden und das —
Gewiſſen der Geſellſchaft zu ſein.
Gobineau über Deutſche und Franzoſen
Von Prof. Dr. £udwig Shemann
Schluß)
Gobineau geht von der Tatſache aus, daß eine ähnliche Kataſtrophe wie
die Frankreichs im Jahre 1870 kein anderes Land in alter und neuer Zeit je
betroffen habe und begründet dies damit, daß es ſich bei jener Kataſtrophe
nicht etwa nur um eine Reihe von Niederlagen, um die Beſetzung zahlreicher
Provinzen, die Einnahme der Hauptſtadt und die ungeheure Schwächung der
Finanzkraft, ſondern um das völlige Verſagen der Armee, der militäriſchen wie
der Zivilverwaltung und um eine weitgehende Entwertung des Vollkes, des
ländlichen, noch mehr des ftädtifhen, gehandelt habe, fo daß Frankreich am
Ende nur noch das Bild eines moralifhen Trümmerhaufens geboten habe.
Eine ſolche allgemeine Auflöfung muß ihre tieferen Gründe haben, ihre
Urſachen müfjen weit zurüdgehen. Um ihnen auf den Grund zu lommen, hat
man fi vor allem von dem SKarbinalmahn ber modernen Franzofen frei»
zumachen, als fet das berühmte Jahr 1789 ein Erneuerungsjahr gewefen, als
babe die Revolution der Welt eine Normalordnung befchert. In Wahrheit
hat dieſe vielmehr ledigli der Zentralifation und dem Staatsabfolutismus,
welche durch die großen Minifter und die großen Monarchen des ancien r&gime
ſchon auf die denkbar höchſte Stufe gebracht waren, den lebten Abſchluß gegeben.
„Die Revolution hat durch eine ungeheure Mine in die Luft fprengen zu
Gobinean über Deutfche und Franzoſen 81
möflen geglaubt, was mit ein paar Axtſchlägen umzuwerfen war.” Die not
wendigen Ummälzungen, die fie herbeigeführt bat, wären, fo gut wie in ben
übrigen europäifden Staaten, auf geſetzlichem Wege zu bewerfitelligen geweſen.
Sie bat nidht einen neuen ernften Gedanken zutage gefördert, fondern nur
alles Alte potenziert. Sie bat, wiewohl immerfort Recht und Freiheit im
Munde führend, welche fie übrigens nur auf die ſchrankenloſe Herrichaft der
Majoritäten zu begründen wußte, in Wahrheit vielmehr jene mit Füßen getreten,
alle nod übrigen Freiheiten der Provinzen, der Gemeinden wie der Individuen
nnterdbrüdt und in ihrem Berlauf zu Ausfchreitungen der Staatsomnipotenz
geführt, weldhe alles Frühere weit hinter ſich und die vielberufenen „Prinzipien
von 89" als eine reine Ylufton, ja als eine Myſtifilation erfcheinen laſſen.
Hand in Hand mit diefem ging ein anderes Übel, das ebenfall$ um jene
Zeit bejonders ſtark ausgebildet erfcheint und das für die Unglüdsfälle von
1870 mit in eriter Linie verantwortlich zu maden fein dürfte: die National«
eitelfeit. In früheren Jahrhunderten hatten ſich die Yranzofen offene Sinne
und Augen für die Vorzüge des Auslandes bewahrt; und dem entfprad) ihre
rege Betätigung daſelbft. Man fand Franzofen in Hülle und Fülle in ganz
Europa, ja in der ganzen Welt. Erft unter Ludwig dem Vierzehnten begann,
nad dem verhängnisvollen Vorbilde diefes Monarchen, jene Selbftvergötterung,
welche ein entſprechendes Sicherheben über und Sichzurüdziehen von den anderen
Böllern im Gefolge hatte. Das übrige Europa hat allerdings nicht wenig
Dazu beigetragen, durch feinen Kultus alles Franzöſiſchen dieſen bedenklichen
Zug nod zu fteigern.
Und doch Hätte gerade im achtzehnten Jahrhundert jo manches hiervor
warnen follen, da es damals fo ziemlid auf allen Gebieten mit Frankreich
bergab ging. Statt deſſen ifolierte man fi nur immer mehr und glaubte ſich
vollends durch die Revolution (deren gefunde Keime und Beftrebungen allen
Hauptoölfern Europas gemeinfam waren) zu einem einzigartigen Weltheiland,
zum höchſten Heilbringer der Völfer, zum bevorzugten Kulturträger, zum oberiten
Hüter von Vernunft, Freiheit und Necht berufen. Der Wahn der Unbefleg-
barfeit, Hand in Hand mit dem einer geiftigen Überlegenheit (gloire — esprit),
fette fi dermaßen in der franzöfifhen Vollsſeele feit, daß felbft die furcht-
baren Schläge, unter denen das Kaiſertum niedergemworfen wurde, ihn kaum
zu erſchüttern vermochten. Immerhin brachten Reftanration und Julilönigtum
einigen Rückſchlag wenigftens infofern, als in der geiftigen Welt einzelne
Strömungen, wie vor allem die Romantik, dem Auslande wieder ernftlichere
Beachtung und der Nationaleitelleit entſprechende Abzüge zuteil werden ließen
und in ber politifhen die Regierungen jener beiden Epochen fi den übrigen
eutopäifchen gegenüber. zur Anerfennung und Borausfegung einer Gleich⸗
berechtigung bequemten. Die Nation freilich ließ ſich durch die Damit gegebenen
Beifpiele in keiner Weife, es fei denn gegneriſch, beeinfluffen, jo daß fie in
das zweite Kaiferreich vielmehr in einer Verfafjung und mit einer Anſchauung
Grenzbsten Il 1915 6
82 Gobineau über Deutſche und Sranzofen
von fi) felbft und ihrem Allerweltsſchiedsrichterberuf eintrat, die mit der von
ben übrigen Völlern gegen fie gebegten Geſinnung mehrfach ſcharf Tontraftierte.
Satte doch die beftändige Unruhe, welche Frankreich feit achtzig Jahren dazu
trieb, von einer Revolution in die andere zu taumeln, eine Regierung nad)
der anderen zu ftürzen, e8 am Ende nicht nur bei denjenigen Ländern, welche
für ihr eigenes Staatsleben der Ruhe bedurften, in Mißkredit gebracht.
Nach diejen Feitftellungen — der politiſchen Unbeftändigleit, der fchranten-
Iofen Eitelfeit und der daraus erwachſenden Iſolierung — kommt Gobineau
wieder auf die Zentralifation zurüd, für welche man fälfchlich öfter den Adel
babe verantwortlich machen wollen, während fie in Wahrbeit viel eher auf bie
Bourgeoifie zurüdguführen fet, die weit früher, als man gewöhnlich annehme,
in Frankreich eine Rolle geipielt und zu deren engen und Furzfichtigen Gefichts-
punkten das bequeme deal einer allfeitigen und allgewaltigen Verwaltungs
maſchinerie vortrefflid gepaßt habe. Gobineau tft Übrigens weit entfernt, an
dieſem Schaufpiel nur die ſchlimmen Seiten zu fehen: er erfennt ausdrücklich
an, daß ihm die Größe nicht fehle und daß e8 „die volle Schönheit aller
Fonfequenten und notwendigen Werke“ beſitze. Ein politifcher Gedanke Tann
großartig fein, ohne darum abfolut wahr und unbeftreitbar nützlich zu fein.
In jedem Falle tft die franzöflfche Zentralverwaltung dem eigenften Weſen des
Franzoſen entſprechend, dem innerften Geiſte feiner Raſſe entwachſen. Bon
Abt Suger bis auf Louvois, von Louvois bis auf Robespierre, von Robespierre
bis auf die Heutigen bat ein Geiſt alle leitenden Franzoſen beſeelt. Wo
immerfort nur einem Pole zugeſtrebt wird, kann man faſt von einem ethniſchen
Verhängnis (fatalitéé ethnique) reden, dem ein Staat am Ende unterliegen
muß, in welchem alles, felbft die Religion, abminiftrativ geworden: tft.
Das überwuchernde Beamtentum, das einen folden Staat vornehmlid
charalterifiert und vertritt, iſt zugleich alles und nichts, eine anonyme, unver
antwortliche Kraft ohne eigenes Dafein, abwechſelnd königlich, kaiſerlich, national,
obne innere Beziehung zur jedesmaligen Regierung. Diefe tft vorübergehend,
die Verwaltung bleibt, fie tft der Staat.
Nach einem unerbittliden Naturgeſetz verfällt eine jede Macht ber Welt
von dem Augenblide an der Entwertung, da fie feinen Widerftand mehr findet.
So tft e8 auch ber franzöfifden Verwaltung ergangen. Nachdem fie in ihren
guten Zeiten Außerordentliche geletitet (mas Gobineau für die verfchiedenften
materiellen wie geiftigen Gebiete nochmals ausdrücklich anerkennt, wenn er auf
binfihtlich deffen, was von den Lobrednern ald Krönung des Gebäudes gefeiert
wird, nämlich Parts, feine befannten Vorbehalte macht), ſchlug ihr bie Stunde
in dem Augenblide, da fie in die Hände der Unfäbigfeit und des Leichtfinns
geriet, da die reine Routine an die Stelle einer intelligenten Leitung trat.
Es folgt ein vernidhtendes Urteil über die Beamtenfchaft des zweiten
Kaiſerreichs, unter welchem Leichtfertigleit, volllommene Ignoranz, joviale
Phrafenmacherei die Hauptmerfmale der franzöfifden Verwaltung nach innen
Gobineau Aber Deutfche und Sranzofen 83
wie nad) außen geweſen find. Alle diefe Menfchen, denen die höchſten Sintereffen
des Landes anvertraut waren, haben ſich tänzelnd, ein graziöfes Lächeln auf
den Lippen, dem Untergange zubewegt und leider Frankreich hinter ſich herge⸗
zogen. Denn mit den Hebeln ihres Emporlommens, Unwiſſenheit und geringer
Moralität, Haben fie nur zu fehr Schule gemacht; ja, fie find im Grumde nur
ein Ausſchnitt aus einer Gefellfchaft, in der die drei genannten Gigenfchaften
ſich feit langem krebsartig feſtgeſetzt haben.
Bon unten nad oben auffteigend, unterzieht Gobineau barauf bie einzelnen
Schichten diefer Geſellſchaft einer tiefernften Prüfung. An die Stelle des
Bauern von ehedem, der noch religiöfen Sinn Tannte und feinem Geiſtlichen
mannigfache Unterweifung dankte, ift ber moderne Hkonom“ (cultivateur)
getreten, ber jeinem Vorgänger an Unwifjenheit weit voraus, an feeliicher und
lörperlicher Gefundheit weit nachſtehend erſcheint. Das dunkle Kapitel bes
Alloholismus, des gejundheitlichen Niederganges® und des Geburtenrüdgangs
erfährt ſchon hier eine fhonungsloje Beleuchtung. Seine politifhe Weisheit
bezieht der Bauer von beute mit wachfender Borliebe von dem Arbeiter, mit
dem er in der Schenfe zufammentrifft; und da fie in der Hauptſache auf die
befannten Schlagworte von der Gleichheit und auf die Lehre hinausläuft, daß
das Bolt (morunter ein jeder vor allem ſich jelbft verfteht) alles und das
übrige nichts ſei, fo tft das Ergebnis einer ſolchen Belehrung, daß der früher
ſchon ſtark entwidelte Egoismus des Bauern in die volllommenfte Gleichgültigkeit
gegenüber den Gefchiden bes Baterlandes ausartet. Er kennt für gewöhnlich
nur noch das eine Sinnen und Sorgen, fi den Pflichten gegen lebteres auf
jede Weife zu entziehen, er ift „ein Lafttier, da8 von feiner wahren Beftimmung
abgelentt iſt“, und kann der elenden Geſellſchaft, die ihn nicht mehr an feinem
Plage feftzubalten weiß, nur noch zum Schaden gereichen.
Immerhin kann man fagen, daß er nur nichts Gutes mehr zu ftiften
vermag; der Arbeiter aber vermag geradezu Böfes zu ftiften. Die mandherlei
Bildungsverſuche, die man mit den Arbeitern angeftellt bat, haben für bie
Maſſe derfelben nur dahin geführt, daß fie ſich mit Phrafen vollgefogen haben.
Sie handhaben diefe mit einer felbftbemußten Sicherheit, al8 wären es ſibylliniſche
Orakel, und in den Tagen der Unruhen Fönnen fie daher im Munde kalter
Fanatiler zu den verbängnisvollften Lofungsworten werden. Die Regierung
bat die Arbeiterfchaft fett Iangem mit berechtigtem Mißtrauen betrachtet, fie
hätte e8 gerne gefehen, wenn bie Kirche ihre Bemühungen, diefen Stand in
unſchädlichen Bahnen zu erhalten, gefördert hätte. Aber der Arbeiter. will von
Religion nichts wiffen, er wirft ſich Lieber den Genüffen, den Ausichweifungen
in bie Arme.
Ras zweite Staiferreih, das fein Emporlommen der wahllofen Benubung
der allerverfchiebenften Elemente verbantte und ſich genötigt fab, fie fih alle
mwarmzubalten, verfiel der Arbeiterflaffe gegenüber auf den Gedanken, ihr durch
eine Unternehmung allergrößten Maßftabes zugleich Arbeit und Berbienit- und
6°
84 Gobinean über Deutſche und Sranzofen
Genußmöglichleiten zu verſchaffen, wie fie fie bisher nicht gefannt. Napoleon der
Dritte ordnete den Umbau von Baris an. Die Hauptitadt Frankreichs follte die
Hauptftadt Europas werden. Mit allen erdenkbaren Mitteln ſuchte man alle
Welt dahin zu loden, und nur zu viele Parifer bekamen diefem großartigen
Aufſchwung den entſprechenden ihrer eigenen materiellen Lebenslage zu danken.
Diejenigen freilih, auf die es im erfter Linie abgefehen war, vermodite man
- dennoch nicht zufriedenzuſtellen: mit der Aufbeflerung ihres Looſes wuchs zugleich
die Begehrlichleit der Arbeiterfhaft, und Dank und Liebe, wo wären die von
feiten eines Volles je zu finden, es fei denn als Ausflug jahrhundertelanger
Tradition, innigen Zufammenmwadfens von Regierungen und Negierten, wovon
in Frankreich feit langem Teine Rede mehr fein Tann.
Und doc ift die Bedeutung des Arbeiters gerade in dieſem Lande eine
ganz außergewöhnliche, ja man kann es in gewiflem Sinne als ein Land von
Arbeitern bezeichnen. Handwerk, Kunſthandwerk, Induſtriekunſt find im modernen
Frankreich in der Zat auf vorbilblide Höhe gebracht worden. Freilich ein
magerer Triumph, über welchem noch dazu die höheren Anliegen eines Volles
völlig außer acht gelafien wurden. Die Befriedigung des beſcheidenen Ehr-
geizes, Kapitalien nad) Paris zu ziehen, das Land zu bereichern, das Leben
darin immer bequemer und eleganter zu geftalten, bat in keiner Weile dazu
beigetragen, diejem letteren num auch Ruhe und Frieden einzuflößen, es weiler
einzurichten, oder gar zu veredeln. Solange aber der Mann des Handwerks
— bier im weiteften Sinne genommen — nicht wieder dem Beiſpiele feiner
Bäter folgt und fih auf die Arbeit zurüdzieht, wird Teine Sicherheit, feine
Würde für ein Volk denkbar fein, das beider fo dringend bebürfte.
Der allgewaltigen franzöfifden Verwaltung ift es alfo nicht gelungen, ihre
Bauern aufzullären, ihre Arbeiter zu bilden, die Intelligenz ihrer Werkzeuge,
der Beamten, zu entwideln. Sie bat Iediglich das materielle Dafein biejer
brei Klaſſen verbefjert, fie von allerlei Verantwortungen entlaftet, ihre gemeinen
und groben Inſtinkte gepflegt, jeberlei moraliſche Einwirkung, jeberlei höhere
Ideen aber ihnen fo ſyſtematiſch ferngehalten, daß irgenbwelde Kundgebung
folden Geiftes aus diejen Streifen wie eine romantifhe Anmwandlung erjcheinen
fönnte, welde den, von welchem fie ausginge, um dem Ruf des gefunden
Menfchenveritandes und praltiſchen Sinnes bringen müßte. Dabei ift e8 dieſem
Syſtem nicht einmal gelungen, mittel des ibm beigemifchten weidhlichen Zuges
bie gehäffigen Leidenfchaften abzudämpfen, die alte Wildheit auszugleichen, bie
vielmehr in den Tiefen der Volksſeele unvermindert fortwuchert.
In der Mufterung der einzelnen Volkskreife fortfahrend, lommt Gobineau
fodann auf bie eigentliden oberen Klaffen zu fprechen, die nicht weniger als
bie unteren dem Kultus der Materie verfallen, ohne Wärme, ohne Begeifterung,
ihre Pflicht nicht mehr Tennen und das Recht und die Fähigkeit verwirkt haben,
dem Volle als Leiter und Führer zu dienen. Und doch ift ein Hochhalten
eines Volles und Staates einzig von diefen von der Natur gegebenen Sphären
Sobineau über Deutfhe und Sranzofen 85
der Autorität aus denkbar: nur von oben herab Tann es durch die rechte
Fürforge für die Niederen bewirkt werben, daß auch unter dieſen genügend
viele tächtige Individuen fich entwideln und auf der fozialen Leiter emporfteigen,
während das in Frankreich geübte Verhätſcheln und Umfchmeicheln der Maflen
diefe nur durch einen falſchen Enthuflasmus entnerut und entfittlicht.
Was aber haben die oberen Klaffen feit zwanzig Jahren getan, um ihrer
doppelten Aufgabe als Inhaber der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Autorität
und als Vorbilder des Volles gerecht zu werden? Furchtbar lautet die Antwort,
die Schilderung der Fäulnis, die ſich in diefen Schichten feftgefegt bat, in
biefer Parifer Gefellfhaft zumal, die, genährt, bereichert, ergößt von dem
Alerweltsfamneval, den fie nad) ihrer Stadt zu ziehen vermocht hat, nun fein
anderes Ziel in der Welt mehr kennt, als diefen Karneval immer mehr zu
vervolllommnen und auszudehnen, und die in der Literatur, die fie fidh
geihaffen, ein ihrer würdiges Spiegelbild findet, ihren tieferen Grund wohl
aber ſchon in der Erziehung haben muß. Ein unendlich) trauriger Ausblid in
bie Zulunft, wie ihn Gobineau das Bild der Parifer Schuljugend eingibt,
beihließt diefen erften Teil: „Die franzöflfhe Jugend verläßt die Schule, ohne
Jugend des Herzens, ohne Friſche der Ideen, geiftig abgenust, fleptiih und
tief unwifjend. Man braudt nur Scharen diefer Schliler die Straßen von
Paris durchziehen zu fehen, um fi von den traurigften und wiberwärtigften
Eindrüden erfaßt zu fühlen. Diefe unglüdlichen Kinder, meift vereinzelt gehend,
ohne Haltung, ohne Anftand, auf ihren fahlen, bleifarbenen, ungefunden oder
fkanfhaften Gefichtern den Ausdruck herausforderndfter Frechheit, verheißen nichts
Butes für ihre Zukunft.” Diefe Jugend der Bürgerklafien kennt nur ein Ziel,
einen Gedanken: reich zu fein oder vielmehr zu werden. Zu genießen, nichts
zu tun erjcheint ihr das einzige Glück, die einzige Ehre in der modernen Welt.
Hier bricht, Ieider mitten im Thema, das Manuffript des erften Teiles
ab. Gewiſſe Gedankengänge, die für diefen zweifellos noch vorgeſehen waren,
baben nad) Jahren in der Schrift über die dritte Nepublil*) (die überhaupt
als eine Fortſetzung derjenigen über den Krieg betrachtet werden kann) ihre
teilweiſe Ausführung gefunden, doch bieten fie dort Leinen vollgültigen Erfah
für das uns bier Entgangene, da zwiſchen beiden Arbeiten ein merflicher
Ahftand in Ton und Gehalt befteht und Gobineau die Höhe, auf die ihn die
Außerordentlichleit der Lage von 1870 erhoben Hatte, unter den abgejhmwächten
Berhältnifen von 1877 nicht wohl wieder erreichen konnte.
Der zweite, den Striegsereigniffen gewidmete Teil fhildert zunächſt in
grellen Farben den Gegenſatz zwiſchen den Borfpiegelungen und Selbſttäuſchungen,
den Stimmungen und Abfichten der Berantwortlidden und deren Leiftungen und
Vorkehrungen in der Wirflichleit. Nur eine beifpiellofe Verblendung konnte
„La troisiöme R&publique frangaise et ce qu’elle vaut.“ Neröffentlicht bei Trübner
in Straßburg, 1907. |
86 Gobinean über Deutfde und Sranzofen
für einen biplomatif und militäriſch fo fchlecht vorbereiteten Feldzug das
archipr&t eingeben. Die Behauptung, dab das Boll den Krieg gewollt habe,
wird gründlich widerlegt, das fo ſcham⸗ wie würbelofe Treiben der Prefie in
jenen Tagen gebührend gebrandmarlt. Wenn nun aber auch zuzugeben ift,
daß die Zuftände in Armee und Heerführung die denkbar unmöglichiten waren,
daß überall Verwirrung herrſchte oder doch die rechte Organiſation mangelte,
wenn die Kriegsſcheu großer Kreife des Volles, namentlich des Ländlichen, von
Haufe aus die Ihlimmften Ausfichten eröffnete, fo tft es darum doch unbillig,
bie Berantwortung für dies alles mit der vollen Wucht eines einzelnen
Anlafies auf das Katjertum zu ſchieben, defien frühere Kriege um fein Haar breit
weniger abenteuerlih und unfolide, fondern nur zum guten Teile von mehr
Slüd begleitet waren. War es damals gut gegangen, warum follte es nicht
diesmal wieder gut gehen? So fchritt man, bie Taten dem Gegner überlafiend,
zu dem miferablen Theatercoup von Saarbrüden, für den Gobineau nur die
allerichärfiten Worte der Verdammung findet. Wörth war bie Antwort, bie
jedem, auch dem lebten Yranzofen wie ein betäubender Schred ins Mark fuhr.
Und als fi nun gar zeigte, daß felbft dies unerhörte Ereignis nur ein Glied
einer Kette war, da wurde zugleich Mar, dab das nicht mit rechten Dingen
zugeben könne. Es erſchollen die in Frankreich feit Jahrhunderten üblichen
Berräterrufe, es erfolgten Ausbrüde der Niedrigkeit in der Bevöllerung, der
Andisziplin im Heere. Eine angftoolle Verwirrung bemädhtigt fi) der &emüter.
. Der arme Kaiſer finkt wie von felbft von feinem Kommandofige herab. Die
Verwaltung gebt aus den Fugen und das durch fie nachgerade zum Automaten
gewordene franzöfiihe Voll verfinkt damit in völlige Regungsloſigkeit. Es
regnet Dekrete, aber es geſchieht nichts Praltiihes. Der fo überaus frag-
würdigen Einrichtungen der Nationale und Mobilgarden, des ſchlechten Zuftandes
ber Kriegsfreiwilligen wurde bereit8 oben Erwähnung getan aus Anlaß der
eigenen Erfahrungen, die Gobineau mit ihnen madte. Dieſe kommen bier
eingehend zur Sprade, wie denn überhaupt die Mitteilungen dieſes zweiten
Zeiles ſehr vielfah einen befonderen Charakter von Authentizität von bem
boppelten amtlichen Hintergrunde — Gobineau war Generaltat feines Kantons
und Maire von Trye — her erhalten, dem fie entwachſen find. Den Glanz
punft dieſes ganzen Abſchnitts bildet die Haffiide Schilderung und Beurteilung
des Franktireurtums und feiner Vorgänger und Geitenftüde aus anderen
Ländern. Es verfteht fi von felbit, daß Gobineau, wenn er auch nicht blind
tft für das „poetifche Ideal“, für die romanbafte Seite dieſes Zreibens, wenn
er bementiprechend gegen bie harmloferen und mehr phantaſtiſchen Vertreter Des
FScanktireurtums, Schriftfteller, Yournaliften, Ärzte, Studenten, mildere Saiten
aufzieht, im ganzen doch über dieſe „autorifierten Übeltäter“, die das in
Frankreich fo beliebte Ordnung⸗ durch Unordnung-Stiften auf die Spitze
treiben, erbarmungslos den Stab bricht und zu bem Schluffe fommt, daß dies
einem auf den Geift der Ordnung begründeten Körper eingefügte unorganifche
Gobinean Aber Deutfche und Sranzofen 87
Element der franzöfifhen Heer- und Kriegsführung unermeßlichen Schaden
zugefügt babe.
Ein paar Worte bitteren Spottes fallen noch ab für die Spionenjchnüffelet,
welde damals einen wahrhaft ungeheuerlihen Umfang und die burlesteften
Hormen annahm”). Dann faßt Gobineau das innere Leben Frankreichs
während der letten Zeiten des verendenden Kaiſertums zujfammen als
„unfruchtbare Aufregungen und Bemühungen ohne Tragweite, verunglüdte
Berfuche, böfer Wille, wuchernd wie das Unkraut, lächerlide Einfälle, die
ſchließlich in die verrüdteften Tollheiten ausarteten.“
Sedan bringt den äußerſten Tiefitand der franzöſiſchen Geſchichte und
hätte, nad) Gobinean, den Frieden bringen müflen. Aber das Frankreich, das
das Katfertum geftürzt und fi eine neue Negierungsform mit der Leichtigleit
gefchaffen hatte, mit der ungefunde Frauen ihre Kinder in die Welt ſetzen, wollte
es anders. Die Nepublif glaubte dem falſchen Nimbus, den fie fi) nach dem
Borbilde ihrer erften Borgängerin begrifflich Tonftruierte, die Fortführung des
Krieges zu ſchulden. Man bat diefe Fortſetzung zu einem Vollskriege ftempeln
wollen. Sie war e8 nit. Ein großes heroifches Aufraffen des ganzen
Bolfes bat es im zweiten Kriege fo wenig wie im erften gegeben. Die Mittel,
welche die Regierenden anmwandten, um jenes aufzuftacheln, waren bie denkbar
verwerflichften: Verleumdungen des Feindes und falſche Siegesberichte. Bei
diefem Lügentreiben bedienten fie fi mit Vorliebe jener dunklen Ehrenmänner,
der Unruhlöpfe von Profeffion, deren Weizen in Zeiten der Revolution zu
blühen pflegt. Diefe trieben es zeitweile jo arg (Gobineau gibt einige Proben
des damals Iosgelafienen Schwindelfeuerwertes), daß die Regierung felbft
dagegen einfchreiten zu müfjen glaubte. Aber die franzöfifhe Volksſeele blieb
vergiftet, und alles Lärmen fchredte doch ſchließlich nur, fo daß Die Herzen
Immer mehr erftarrten und ſich zufammenzogen. Dabei verliert alle Welt den
Kopf, die unfinnigften Anordnungen werben getroffen, wie die Maffenverwüftungen
und +»zerftörungen im weiteften Umkreiſe von Paris, eine halb theatralifche
Maßregel, bei der wiederum, wie bei der Yranktireurserhebung die Volls⸗
aufftände der Spanier und Ealabrefen, fo diesmal das ruſſiſche Beifpiel von
1812 die Lofung gegeben zu haben fein. Ein allgemeines Flüchten,
namentlich der Landbevöllerung, beginnt, von der Regierung gar nicht ungern
gefeben, da es die verhaßten Deutſchen in das von ihr gewünfchte Licht zu
rüden fcheint, während Gobineau and) hier wieder feine Gelegenheit verfäumt,
ihnen Ehrenerflärungen ausguftellen.
Die lebten Blätter der Schrift find den Iofalen Vorgängen in Sobineaus
engerem Baterlande, dem Beauvaifis, gewidmet. Die Belegung von Beauvais
durch die Sachſen ſchließt das Ganze, ſehr unvermittelt und proviforifh, ab,
*) Einmal brachte man Gobineau ſogar ein paar Taubſtumme als Spione und ließ
ſich auch ſpäter nicht davon abbringen, daß er von dieſen armen Teufeln getäufcht worden fei.
88 Gobinean über Dentfhhe und Sranzofen
fo daß das gewaltige durdans tragiſch anmutende Gefchichtsbilb in feiner
nunmehrigen fragmentariihen Faflung in eine Halb idylliſche, Halb
ironiſche Schilderung, wie fie den Heldentaten dieſer Krähwinkler entfpricht,
ausflingt.
Es muß dahingeftellt bleiben, ob nur äußere Gründe die Fortfegung und
Vollendung diefer Denkwürdigleiten verhindert oder ob auch innere Stimmungen
dazu mitgewirkt haben, daß fie Tiegen geblieben find. Unwahrſcheinlich ift
legteres nicht. Gobineau macht in der Schrift felbft durchaus fein Hehl daraus,
daß nad) feiner Anfiht ſchon nach den erften Niederlagen, zum mindeften aber
nad) Sedan, hätte Frieden geichloffen werden follen. Diefe Anfiht mag manchem
parador erſcheinen, hatte bei ihm aber jedenfalls einen tiefen Widermwillen gegen
den ganzen fpäteren Teil des Krieges im Gefolge, den er durchaus für Mache,
nicht für einen Ausflug der Bollsftimmung, für eine Regung und Leiftung der
Bolksträfte hielt. Und noch größer war fein Widermwille gegen den Mann, der
die Seele diefer Kämpfe war, weil er an defien Bollsliebe und Patriotismus
nicht glaubte, ihn als durch fein echtes Band mit Frankreich verbunden anerkennen
mochte. .
Wie dem auch fei, wir haben uns damit abzufinden, daß er eine feiner
bedeutfamften Schriften — denn das bleibt fie auch als Torfo — nicht ab»
geſchloſſen hat. Was deren in vieler Beziehung einzigartige Bedeutung ausmacht
tft dies, daB, wiewohl jedes Wort darin mit dem ehernen Griffel des unerbittlichen
Nichters niedergefchrieben fcheint, dennoch gerade dieſe Umerbittlichleit zugleich
die Gewähr allerhöchfter Wahrhaftigkeit in ſich trägt, einer Wahrhaftigkeit, bie
dabei in foldem Grade mit einer vielfach an Urkundlichkeit grenzenden Sachlichkeit
gepaart ift, daß man auch ihre objeltiven Erträgniſſe als Iautere Wahrheit wird
anfprechen dürfen, bei der allenfalls nur einmal ein dem Grade nad) zu ftarles
Auftragen, nie aber ein Vergreifen im Weſenhaften denkbar bliebe. Gobinean
hätte diefe Dinge nie fchreiben können, wenn er ſich nicht in jedem Augenblide
bewußt gewefen wäre, daß bier nichts Perfönliches mitſpreche, daß einzig ein
Höberes, daß bie Geſchichte ſelbſt — die geichichtlihe Wahrheit — aus ihm
rede. Diefer höheren Authentizität tut e8 auch Leinen Abbruch, daß manche
Partien der Schrift mit bitterem Hohn durchfegt find: tragen die betreffenden
Zatfachen ſolchen nicht vielmehr in fi, wie zum Beiſpiel die Ausgeburten, zu denen
die preußifchen Ulanen in der franzöflihen Vollsphantafle geworben find? Auch
find die Regungen des Schmerzes, ja des Ingrimms durchweg bemundernswert
unterbrüdt; das „Werde hart!” ift hier an einer lekten, größten Probe dermaßen
durchgeführt, daß man die blutigen Tränen kaum mehr ahnt, die dieſer Mann
dennod) geweint haben muß, ehe er fte beitand. Gewiß tft; daß fein menfchliches
Zeil nur fehr leife bier und da aus feinem düftern Bilde mit hervorlugt, am
eriten noch etwa da, wo er — wiederholt — es beflagt, daß feinem Volle alle
GSeelenbande nach oben verloren gegangen feien oder in den wie ein Aufichrei
(anläßlid Saarbrüdens) fi ihm entringenden Worten, daß Ehre und Edel⸗
Gobinean über Deutfche und Sranzofen 89
fin in dieſem Kriege auf franzöfifcher Seite eine gar fo geringe Rolle
gefpielt haben.
Wenn Ion Zeit- und Landesgenofien, welche von biefen Denkwürdigkeiten
noch feine Kenntnis haben Ionnten, Bezeichnungen wie „Alceste du patriotisme“
(von dem Helden des Moliereſchen Miſanthrope hergenommen) oder „Connetable
des lettres“ (nad) dem unter anderm von ihm felbft in der Renaiffance ver-
ewigten Eonnetable von Bourbon) auf Gobineau anwandten, fo wird doch erft,
wer die Betrachtungen jener faft allgulange der Welt vorenthaltenen Blätter in
ihrem vollen Umfange und Zufammenhange in fi aufgenommen hat, den Sinn
und die Berechtigung derartiger Bezeichnungen ganz ermeflen und fi} die Leiden
ausmalen können, weldhe ein foldher Patriotismus des Wahrheit⸗ und Wahr-
beitenfagens feinem Träger einbringen mußte.
Aber ein vollftändiges Bild des Gobineau von 1870 würden darum biefe
Kriegsbetradjtungen noch lange nicht ergeben. Sie enthalten nur erft die eine,
gewifiermaßen die negative Seite. Die pofitive gehört aber unbebingt hinzu,
wenn man dem Manne gerecht werben will, biefem Manne, der im gleichen
Atem, da er (beim Ausbruch des Krieges) die berbiten Urteile über fein Bolt
zu äußern fi) gebrungen fühlt, mit den Worten „aber jebt it feine Zeit zum
Anklagen, fondern zum Handeln“ ſich aufrafft, ſich beſinnt, daß er Hier nicht
mehr Geiſtesmenſch, fondern ganz Wirklichleitsmenih zu fein babe und num,
in amtlicher wie reinmenſchlicher Eigenfchaft, für die Beruhigung und richtige
Anleitung feiner Umgebung, für. die Drganifierung der Verteidigung, die Ver⸗
pflegung der Truppen, insbefondere auch die Pflege dee Berwundeten, für den
amtlichen Verkehr mit dem Feinde und für die Milderung der feinem Departement
von diefem auferlegten Bedingungen unter fortwährenden eigenen Kämpfen und
Gefahren — er hat einmal fogar eine Einfperrung durch den falfchen Übereifer
eines deutſchen PBräfelten erlitten — fo außerordentliche leiftet, Daß wenigflens
in diefem Falle einmal die maßgebenden Wortführer feines Bolfes rüdhaltlos
anerfannt haben, es jet dies wahrhaft vorbildlich geweien und über das Maß
befien binausgegangen, was man felbit von einem Edelmann feiner Art an
Batriotismus gewohnt geweien fei. Mit Recht konnte denn auch Lord Lytton
damals ihm fagen: „Hätte Frankreich mehr Männer wie Ste, würde es diefen
unfinnigen Krieg nicht angefangen, einmal angefangen aber nicht fo verloren,
einmal verloren aber fi ganz anders wieder davon erhoben haben.“
In jenen Tagen baben denn auch feine Landsleute einmal Berftändnis
für ihn bewiefen, ja er war eine Zeitlang wirklich populär, und man hoffte
feine Dienfte dem Baterlande in ähnlicher Weile, mie während des Krieges, auch
fernerbin erhalten zu können. Aber Gobineau bat von diefer Popularität feinen
Gebrauch gemacht, Senats- und Deputiertenlandidaturen abgelehnt, womit von
felbft auch die Hoffnung einzelner Freunde, daß er etwa die Yührung ber
Konfervativen in Franfrei in die Hand nehmen könne, wozu er vor anderen
berufen ſchien, hinfiel. Er glaubte wohl im Innerſten nicht mehr an eine rechte
90 Gobineau über Deutfche und Franzoſen
Zuhmft feines Landes, mindeftens nicht auf dem Wege über Paris und das
dortige Parlamentsreden und »treiben, fondern nur allenfall$ auf dem Wege
über die Provinz, durch Neubelebung aller der Einzelherde des ſtädtiſchen und
departementalen Gefüges, von der er fich eine ähnlich regenerierende Rüd-
wirtung auf das Ganze veriprady, wie einft Preußen in feiner ſchlimmſten Zeit
eine Wiedergeburt auf diefer Grundlage erlebt hatte, Seinem Wirken in des
Provinz iſt er denn auch noch einige Jahre treu geblieben, bis es ſich mit
feiner Gefandtentätigfeit nicht mehr vereinigen ließ.
Die Entwidlung der jungen NRepublil vollzog fi) fchnell genug und mit
großer Entichiedenheit in Bahnen, melde von den Gobineau vorſchwebenden
Richtlinien denfbar weiteft abführten. ALS er nad Jahren über diefe Dinge
wieder das Wort ergriff (in der vorerwähnten Schrift über die dritte NepubHf),
nahm dies wie von felbft wiederum die Yorm eines fchärfiten Proteftes an.
Zwar fein zum Schluß nochmals mit der ganzen Energie bes wahren Bater-
Iandsfreundes ausgeftoßener Ruf nad) den Provinzen iſt fpäter vielfach auf
gegriffen worden, und der „Negionalismus“ zählt im heutigen Frankreich eine
große Dienge Anhänger. Aber berrichend blieb doch das Pariſer Syſtem, bie
Allmacht des Parlaments, das Drauflospolitifieren aller, die Ausbeutung einer
blind und mwahllos ausgebildeten Demokratie dur im letzten Grunde rein
pintofratiide Cliquen — was alles Frankreich dahin geführt hat, wo wir es
heute feben.
Nah alledem wird die eingangs wiebergegebene Frage, wie Gobineau fi
zum Kriege geftellt haben würde, fehr leicht zu beantworten fein. Kaum gejagt
zu werden braudt e8, daß die abermalige blutige Auseinanderfegung mit
Deutihland ihm, inſoweit er überhaupt noch als Franzofe zu empfinden ver-
möchte, den ſchwerſten Stoß ins Herz gegeben haben würde. Yür ihn war es
von Anfang an Har, daß Frankreich ſich durch fortgefegten Antagonismus gegen.
das ihm als das zulunftsreichere erfchtenene Land um feine lehten großen
biftortfhen Möglichkeiten bringen und ein gutes Stüd weiter dem Abgrunde
zurollen müſſe. Auch über die verhängnisvolle Rolle, die feine Bundesgenofjen
dabei gefpielt, würde er ſich feinen Augenblid getäuſcht haben. Bielleicht hätte
e3 ihm eine traurige Genugtuung gewährt, zu fehen, wie bie Logik der Tat⸗
ſachen im lebten kritiſchen Augenblid die Logik der Dolteinen zuſchanden macht
und erfegt; bat doch Frankreich gerade 1914/15 wieder gezeigt, daß, wenn es
noch über Erwarten viel zu leiften vermochte, e8 dies hauptjächlich dem Zurück⸗
greifen auf feine alten Kräfte, auf bie nicht-⸗parlamentariſch⸗demokratiſchen
Grundfäge und Methoden verdankt. Man denke unter anderem an SYoffres
diltatorifhe Maßnahmen, wie fein Aufräumen mit den politiſchen Generalen.
Auh die alte berühmte ftraffe Bureaukratie hat fid diesmal offenbar befier
bewährt als 1870.
Aber alles in allem würde Gobineau die heutigen Ereigniffe wohl mit
eher noch größerem Kummer und Abfcheu betrachten, als die damaligen. Stein
Kriegstagebuc 9:
Wort der Verachtung wäre ihn zu ſtark geweſen angeſichts des Raſſenverrates
der Weitmädhte, angeſichts bes Winfelns und Buhlens feiner Landsleute um bie
japaniſche Hilfe”). Wir wiffen ja, daß die Ideale und Pflichten ber weißen
Kaffe, die heute einzig noch von Deutichland und feinen führenden Männern
hochgehalten werben, von feinem anderen Denker mannbafter und großartiges
verfochten worden find, als von Gobinean.
Es würde über den Rahmen diefer Arbeit hinausgehen, zu zeigen, wie
diefer in feinem Abſchiedswerke, der Heldendichtung „Amadis”, die welt
geſchichtlichen Auseinanderfegungen unferer Tage gerade unter dem Raſſen⸗
geſichtspunkt in einer gewaltigen Allegorie prophetiſch vorausgefchaut hat. Das
aber möge bier wenigftens noch angeführt werben, was faft noch merkwürdiger
erſcheinen dürfte, daß Gobineau (in einem Briefe an einen englifchen Freund,
Bilfrid Blunt) kurz vor feinem Tode fogar das gemweisfagt hat, daß Germanen
es fein würden, welche einft den Gelben verräteriih über das Abendland
bereinführen würden.
So weilt heute Gobineaus Geift mitten unter uns: im Amabis bat ex
bie idealen Werte der Menichheit („Ehre, Freiheit, Liebe”), für die das deutſche
Bolt jebt in den Kampf gezogen tft, und die unter der Weltberrichaft Englands
ut Füßen getreten worden find, verherrlit. Er wird uns mit jedem Schritte
näberlommen, den wir, wenn uns erft die Führung der Völler anheimgefallen,
in der Bahn germaniſchen Heldengeiftes, wie er ihn bejeelte, vorwärts tun werben.
*) Ein eigentümlicher Zufall will e8, daß der Sauptverlörperer ſolcher tiefften nationalen
Demätigung, Pichon, in feinen Anfängen Gobinenu in Rio noch begegnet ift und ihm
damals offenbar die größte Abneigung eingeflößt hat.
Nrkegstagebuch
18./19. Xanuar 1915. In GOftafrila wird der Feind in zwei⸗
tägigen Kämpfen bei Jaſſini gefhlagen. Die Engländer verlieren
etwa 200 Gefallene, 4 Kompagnien an Gefangenen, 850 Gewehre, ein
Maſchinengewehr und 80000 Patronen. Gefamtverluft des Gegner an
Mannſchaften etwa 700. Unſere Berlufte 18 Europäer tot, 87 verwundet.
21. März 1915. Abgeſchlagene franzöfifhe Angriffe auf die —
hoͤhe, in der Champagne und am Reichsackerkopf.
21. März 1915. Die Ruſſen aus Memel verjagt, zuructeſchlagene
zuffifche Angriffe bei Mariampol, bei Jadnorozek, bei Prafanyiz und bei
Ciechanow.
22. März 1915. Feindliche Flieger bewerfen die offene Stadt
Freiburg 1. Br. mit Bomben; das Flugzeug gum Landen gezivungen, bie
Inſaſſen gefangen genommen.
92
Kriegstagebuc
22. März 1915. Die Feſtung Praemysl dur Nahrungsmittel
mangel nad) viereinhalbmonatlicher Belagerung dur die Auflen zur fiber
gabe gezwungen. Die HÖfterreicher zerftörten vorher alle militäriichen
Anlagen, Brüden, Munition ufiw.
22. März 1915. Franzoͤſiſche Angriffe bei Arras, in ber Eham-
pagne, bei Combres, Apremont, Flirey und Badonviller abgeiwiefen.
22. März 1915. Nuffiih-Krottingen genommen, dabei 3000 aus
Oſtpreußen verfchleppte deutihe Einwohner befreit.
22. März 1915. In den Karpatben 4000 Ruſſen gefangen.
22. März 1915. Engliide Schlappe in Deutid - Südwelt - Afrika
zwiſchen Swalopmund und Windhuklk.
28. März 1915. Rördlich Memel 500 Ruſſen gefangen, drei Ge
füge, drei Maſchinengewehre erbeutet; ruffiihe Angriffe bei Laugezargen
unter ſchweren Berluften der Ruſſen zurückgeſchlagen, ebenfo bei Mariampol
und öftlih Bloc. Bei Oftrolenta über 2500 Ruflen gefangen genommen,
fünf Maſchinengewehre erbeutet.
24. März 1915. Ruſſiſche Angriffe bei Auguſtow und bei Jadnorozek
aurüdgeichlagen.
24. März 1915. In ben Karpatien am Usgfoter Paſſe ſchwere
ruſſiſche Angriffe abgeſchlagen, 1500 Gefangene.
24. März 1915. Das Moratorium in Ungarn bis 81. Juli dere
längert.
25. März 1915. Südlich Zaleſzezyki elf Stützpunkte der Ruſſen
erobert, 500 Gefangene gemadit.
25. März 1915. Türkiſche Erfolge bei Madam am Suezlanal und
‚bei Baflora.
26. März 1915. In den Bogeſen befegen die Franzoſen bie
Kuppe des Hartmannsweilerlopfes. Bapaume und Straßburg von fran⸗
zoͤſiſchen Fliegern mit Bomben beivorfen, wir belegten Calais mit einigen
Bomben.
26. März 1915. Die Ruſſen bei Laugszargen unter ftarfen Ver⸗
Iuften geſchlagen und über die Jeziorupa hinter dem Juraabſchnitt zurüde
geworfen.
26. März 1915. An der Bulowina werfen die Oſterreicher bie
Nufien bis an die Neichdgrenze zurüd, fie machen über 1000 Gefangene
und erbeuten zwei Geſchũtze. — Schwere Kämpfe an ber Sarpatdenfront.
27.. März 1915. Heftige Kämpfe auf den Maashöhen bei Combres
und im Wokðvre, die fämtli zu unferen Bunften entſchieden wurden.
27. März 1915. Ruſſiſche Vorftöße im Auguftower Walde, zwiſchen
Biffel und Omulew und bei Wad, wo 800 Ruſſen gefangen wurden, zurück⸗
geihlagen.
27. März 1915. Im Ordopa- und Laborcezatale ruffifhe Angriffe
blutig abgeiwiefen. An der ganzen Karpathenfront heftige Kämpfe; 1280
Nuflen gefangen, in der nördliden Bulowina weitere 200.
28. März 1915. Tauroggen im Sturm iedergenommen, 1000
Gefangene gemadt. — Bei Bilwilzli und bei Ciechanow ruffiihe Angriffe
unter ſchwerſten Zerluften zurüdgelichlagen, bei Krasnopol über 8500 Ge⸗
fangene gemacht, fieben Maſchinengewehre, ein Gefchüg erbeutet.
28. März 1915. Heftige Karpathenlämpfe, nördlih des Uzſoker
Paſſes und weſtlich Banyavoelgy.
Kriegstagebud
98
28. März 1915. Der engliihe Dampfer „Fallaba” von einem
deutichen Unterſeeboot verſenkt.
29. März 1915. An der Szlkwa bei Klimki 800 Ruſſen gefangen,
Angriffe bei Olfzyny abgewiefen.
80. März 1915. Weſtlich Pont⸗à⸗-Mouſſon franzöfiihe Angriffe
aurüdgeichlagen.
80. März 1915. In den Karpathen nördlih Ciſna, nordöſtlich
Kalnica, nördlih des Uzſoler Paſſes ruffiihe Angriffe abgeidhlagen,
1900 Auffen gefangen. Im März wurden indgefamt rund 40 000 Ruſſen
gefangen, 68 Mafchinengewehre erbeutet.
80. März 1915. Die engliiden Dampfer „Flamenian” und
„Crown of Eaftile” durch Unterfeeboote verfentt.
81. März 1915. Bei Dirmuiden ein Klofterhoelgehöft genommen,
45 Belgier gefangen.
81. März 1915. Ruſſiſche Angriffe an der Rawka und bei
Opocno zurüdgefhlagen. — Das deutſche Oſtheer nahm im März im
ganzen 55800 Ruſſen gefangen und erbeutete neun Geihüge, 61 Mafchinen-
gewehre.
1. April 1915. Heftige Kämpfe zwiſchen Maas und Moſel.
1. April 1915. Zwiſchen Pruth und Dujeſtr ftarke ruffiihe An⸗
griffe abgeſchlagen, ebenfo an der unteren Rida.
1. April 1915. Feindliche Flieger beiwerfen die offenen Städte
Mäullheim i. B. und Neuenburg a. Rh. mit Bomben.
2. April 1915. Im Priefterwald und bei Niederaspach mißlungene
franzöfifhe Angriffe.
8. April 1915. Den von Belgtern befekten Ort Drie Graditen
genommen.
8. April 1915. In den Kämpfen im Laborczatal und öſtlich Virava
2020 Ruſſen gefangen.
8. April 1915. Erfolgreicher Vorſtoß der türkiſchen Flotte nad
Ddefla, der Kreuzer „Medjedie" auf eine Mine gelaufen und gefunten.
8. April 1915. Warmbad in Deutih-Südwelt-Afrifa ohne Kampf
bon den Engländern bejegt.
4. April 1915. Starke franzöfifhe Angriffe weſtlich Boureuilles
und weitlih Pont-A-Moufion abgewiefen.
4. April 1915. Ruſſiſche Angriffe auf Mariampol abgeichlagen.
4. April 1915. Am Dnjeftr, öſtlich Zaleszezyki im beftigem Kampf
1400 Ruſſen gefangen, fieben Mafchinengewehre erbeutet.
5. April 1915. Heftige franzöfifhe Angriffe zwiſchen Maas und
Mofel, bei Berdun, Ally, Apremont, Frlirey und PBont-d-Mouffon, ſämtlich
obne Erfolg für den Angreifer.
5. April 1915. Rußland beruft den Jahrgang 1916 ein.
5. April 1915. In den Karpathen im Laborczatal und anfchliegenden
Abſchnitt eroberten deutihe und öfterreihifhe Truppen ftarte ruffiihe
Stellungen im Sturm und madten 7500 Gefangene; zwei Geſchütze, fieben
Maſchinengewehre erbeutet.
6. April 1915. Bei Andrzejewo, 30 Kilometer füdöftlih Memel,
bernichtete unſere Kavallerie ein ruffiihes Bataillon, getötet und ſchwer ver»
wundet wurden 120 und 150 Mann, gefangen 865. Unſere Verlufte ſechs
Tote. — Abgeichlagene ruſſiſche Angriffe bei Kalwarja und öftlih Auguftow.
94
Kriegstagebud
6. April 1915. Schwere Angriffe der Franzoſen öftlih und füd-
oͤſtlich Verdun unter außergewoͤhnlich ſchweren Berluften zurüdgeichlagen.
An der Eombres-Höbe zwei franzöfifhe Bataillone aufgerieben, bei Ailly
ein erfolgreiher Gegenangriff unſerſeits. Geſcheiterte franzöfifche Angriffe
bei Apremont und Flirey.
6. April 1915. Die Beſchießung der offenen Stadt Orfova dur
die Serben wird durch kurzes Bombarbement Belgrads beantivortet.
6. April 1915. Der Hilfsfreuger „Bring Eitel Friedrich“ in Rein»
portnews interniert.
7. April 1915. „U. 29” wird mit der gefamten Befagung verloren
gegeben.
7. April 1915. Bis Anfang März wurden durch unfer Weſt⸗ und
Oſtheer im ganzen 5510 Geichüge erbeutet.
7. April 1915. Grbitterte Kämpfe zwiſchen Maas und Mofel, wo⸗
bei die Sranzofen an allen Stellen geivaltige Berlufte erleiden.
8. April 1915. Bei MWiedereroberung von Drie Grachten
127 Belgier gefangen, fünf Maſchinengewehre erbeutet. — Rördlih Beau
Séjour mehrere franzöfiihe Gräben genommen, zwei Raſchinengewehre
erbeutet. — Bei einem mißglüdten Angriff in den Argonnen berivenden
die Srangofen Bomben mit betäubender Gaſswirkung. — Die Kämpfe zwiſchen
Maas und Mofel dauern mit gefteigerter Heftigfeit an.
8. April 1915. Ein Attentatsverſuch gegen den neuen ägyptiſchen
Sultan feiten® eine® Agypters.
8. April 1915. 1600 Ruſſen bei den aarpathentampfen gefangen.
9. April 1915. Schwere Niederlage der Franzoſen zwiſchen Orne
und den Maashöhen. Bei Bezange la Erande eine franzöfiihe Kompagnie
gängli aufgerieben, 108 Gefangene gemadit.
9. April 1915. In den Karpatben erobern deutfhe Truppen
nördlih Tucholka eine ruffiihe Höhenftellung, über 1000 Mann gefangen,
15 Maſchinengewehre erbeutet. Weitere 1150 Ruſſen an anderen Karpathen-
punkten gefangen.
10. April 1915. Südlich Drie Grachten einige Gehöfte genommen,
40 Belgier gefangen. Im Priefterwald vier franzöflihe Maſchinengewehre
erbeutet; bei ben Kämpfen zwiſchen Mans und Moſel 815 Franzoſen
gefangen, fieben Mafchinengewehre genommen.
10. April 1915. Abgeſchlagene ruffiide Angriffe bei Mariampol,
Kalwarja und bei Klimfi an der Szkwa, bei Bromierz 80 Ruſſen gefangen,
drei Maſchinengewehre erbeutet.
11. April 1915. Nancy in Erwiderung des Bombardements der
offenen Stadt Müllheim ausgiebig mit Spreng⸗ und Brandbomben belegt.
11. April 1915. Bei einem Vorſtoß aus Mariampol 1859 Ruſſen
gefangen, vier Mafchinengeivehre erbeutet. Die Ruſſen verwenden bei
Zomza Bomben mit erftidenden Gafen.
12. April 1915. MIS Vergeltung gegen bie Behandlung deutſcher
gefangener Unterſeebootmannſchaften als Strafgefangene ſeitens der Engländer
werden 89 engliihe Offiziere in das Gefängnis überführt.
12. April 1915. Der britifhe 9600 Tonnen große Dampfer
Wayfarer“ bei den Scillyinfeln torpediert.
12. April 1915. Die von den Engländern belegten Orte Poperinghe,
Hazebrouk und Caſſel ausgiebig mit Bomben beiworfen. — Weitere ſchwere
Kämpfe zwiſchen Maas und Mofel.
Kriegstagebud 95
18. April 1915. Schwere Kämpfe an der Linie Maizerey—
Warcheville, im Aillywalde, an der Straße Eſſey —Flirey und am Schnepfen«
riethlopf; überall wurden die Franzoſen zurüdgeworfen.
18. April 1915. Nördlich des Ugfolerpafie® eine von den Rufſſen
bejegte Höhe durch ein ungariſches Regiment erobert.
14. April 1915. Unter ſchweren Berluften gefcheiterte franzöfiiche
Angriffe bei Marcheville, Efiey—Flirey, nordöftlid von Manonpiller und
füdlih de Hartmannsweilerkopfes.
14. April 1915. Ein Zeppelin bombardiert Ortfhaften an ber
englifhen Ofttüfte in Nortfumberland.
14. April 1915. Bei Wyſockowz am Stry nahmen die Öfterreicher
eine wichtige Höhe, wobei 865 Ruſſen gefangen wurden.
14. April 1915. In Mailand finden ernfte Arbeiterfrawalle ftatt.
15. April 1915. Bei Kalwarja 1040 Ruſſen gefangen, fieben
Maſchinengewehre erbeutet.
15. April 1915. Der Holländifhe Dampfer Katwyl“ bei Noord⸗
hinder angeblich von einem Unterſeeboot torpediert, die Beſatzung gerettet.
15. April 1915. Deutſche Marinelufifchiffe bewerfen mehrere ver»
teidigten Pläge an der englifhen Südküfte erfolgreich mit Bomben.
15. April 1915. Als erfte Rate auf die Kriegsanleihe find über
6 Milliarden Mark, das beißt faſt 2°/, Milliarden mehr eingezahlt, als
fällig waren.
16. April 1915. Straßburg i. E. dur ein feindliches Luftſchiff
mit Bomben beivorfen.
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96 Kriegstagebucd;
16. April 1915. Bei Perthes in der Champagne eine franzoͤſiſche
Befeftigungsgruppe im Sturm genommen, ebenfo aud eine feindliche
Stellung bei Urbeis.
16. April 1915. In den Waldlkarpathen 1290 Auflen gefangen.
16. April 1915. Bei erneutem Angriff auf die Dardanellen ver
Ioren die Engländer das Unterfeebot „BE 15” und zwei WBaflerflugzeuge;
das Panzerſchiff „Lord Reljon” fowie das Linienfhiff „Majeftic" wurden
beſchaͤdigt.
17. April 1915. Südöſtlich Ypern heftige Kämpfe mit Engländern
um unfere Höhenftellung, der Feind im Gegenangriff geivorfen. — In den
Bogelen bei Stoßweier eine frangöfiide Stellung genommen.
17. April 1915. In den Waldlarpaiben 14823 Ruſſen gefangen.
Uhen Manuſtripten ift Porto hinzuzufügen, da anberufalis bei Ubichuung eine Nüdfenbung
nicht verbürgt werben kaum.
Nachdruck Tämtlider Unffäge nur mit ausdrücklicher Erlaubnis bed Berlagd geſtattet.
Berantwortlih: der Herausgeber Georg Eleinom in Berlin Lichterfelde Weil. — Banuitriptfendungen und
Briete werden erbeten unter ber Adreſſe:
Un den Herausgeber ber Grenzboten in Berlin - Lidhterfelde Wet, Steruftrahe 56.
— bes Rn: Amt Vichterfelde 498, des Verlags und der Schriftleitung: Amt Bägomw 6510.
g: Verlag ber Grenzboten ©. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 85a.
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—
un)
x
Schweden und der Weltkrieg
Don Dr. Elfe Hildebrandt
Jie große Maſſe des deutſchen Volkes erwartete nad) Beginn bes
Krieges ein Heraustreten Schwedens aus feiner Neutralität.
u Häufig hörte man die Anſicht, daß das nordiſche Reich eine
— — aktive Politik treiben müſſe, um ſich das in dem unglücklichen
— Kriege mit Rußland 1809 verlorene Finnland wiederzugewinnen.
Gerade dieſe Anſicht zeigt, wie wenig genau man im allgemeinen in Deutich-
land die Stimmung in Schweden fennt. Finnlands Schidfal ging Schweden ohne
Zweifel recht nahe, die demokratiſche Grundlage ſeiner Verfaſſung und der
meiſten ſeiner Einrichtungen ließ es doppelt ſchwer die Vergewaltigung des
Landes empfinden, mit dem es durch die jahrhundertlange Gemeinſamkeit des
Schickſals ſo eng verknüpft iſt. Aber das Schwert für die Wiedergewinnung
des Nachbarlandes zu ziehen, daran hat in den letzten Jahrzehnten weder
im Volle noch in offiziellen Kreiſen irgendjemand gedacht. Iſt doch auch die
Stammverwandtſchaft nicht jo groß, wie man im allgemeinen meint: Finnland
befißt heute neben 86 Prozent Finnen nur 13 Prozent Schweden.
Schweden bat in dem Weltkrieg verjtanden, im Forreften Sinne feine
Neutralität zu bewahren. Diefe Tatſache hindert jedoch nicht, daß das Bolt
und die einzelnen Parteien eine mehr oder weniger freundliche Stellung zu den
einzelnen friegführenden Staaten einnehmen. Die ſchwediſche Bollsvertretung
wird von nur drei Parteien gebildet: den Rechten, die wohl unjeren National-
liberalen am nächſten ftehen — SKonfervative im deutjchen Sinne gibt es in
Schweden nit —, den Freifinnigen und den Sozialdemokraten. Seit den
legten beiden Wahlen haben die Liberalen einen großen Teil ihrer Mandate
Grenzbsten II 1915 7
98 Schweden und der Weltkrieg
verloren, bie faft in gleichem Berhältnis der rvechtftehenden Partei und ben
Sozialdemofraten zugute gelommen find, fo daß heute die Rechte 86, die frei-
finnige Partei nur 57 und die Sozialdemokratie 87 Site innehat. Im all-
gemeinen fann man aus noch im einzelnen darzulegenden Gründen fagen, daß
die Rechten — wir fagen die Konfervativen — durchweg deutſchfreundlich
gefinnt find, die Sozialdemofraten und die Linfsliberalen aber im allgemeinen
Deutihland nicht ſympathiſch gegenüberftehen.
Trotz dieſer deutichfeindliden Strömungen Tann man jedod ohne
Übertreibung behaupten, da die alademiſch gebildeten Kreiſe Schwedens
eng mit Deutfchland verfnüpft find. Die Raſſenverwandtſchaft als Be
‚gründung anzuführen genügt nicht. Neben den politifden Berhältnifien
bat in erfter Linie deutſche Wiffenfchaft die beiden Bölfer aneinander geknüpft.
Auf den Univerfitäten Lund und Upfala werden zum Studium wohl mehr
deutfche als ſchwediſche Werke benupt. Die ſchwediſchen Studenten bringen häufig
ein oder mehrere Semefter an deutichen Univerfitäten, unter denen beſonders
Sena bevorzugt wird, zu. Diele ſchwediſche Wiſſenſchaftler find eifrige Mit-
arbeiter an unferen wiſſenſchaftlichen Zeitſchriften. Schwediſche Profefioren
gehörten wiederholt in den Ießten Jahren deutſchen Dozentenkollegien an. Ich
erinnere nur an den Religionshiftoriler Söderblom in Leipzig, der im lebten
Jahre Biſchof von Upfala geworden tft und zu Beginn des Krieges mit fo
warmem Enthufiasmus flammende Worte der Anklage an den Erzbiſchof von
Canterbury geritet Hat. Auf allen Gebtelen, tnsbefondere auf dem
pädagogiſchen und ſozialpolitiſchen, verfolgt man alle deutſchen Einrichtungen
mit eifrigem Intereſſe und fucht aus ihnen zu lernen.
Bielleiht Tann man in Schweden von einer befonderen politifden Färbung
einzelner Landſtriche ſprechen. So tit ohne Zweifel Göteborg auch in Friedens-
zeiten mehr england- als deutſchfreundlich. Und diefe Stimmung hat fi in
Kriegszeiten zu einer gewiffen Deutfchfeindlichleit ausgewachien. Die Urfachen
find wohl tn erfter Linie in wirtichaftlicden Verhältnifien zu ſuchen. Göteborgs
Handel tft feit langem vorwiegend nad England gerichtet, fo daß die Inter⸗
efien der Böteborger Kaufleute eng mit dem Schickſal Englands verknüpft find.
Schweden bat überhaupt eine weitaus ftärlere Ausfuhr nach England als nad)
Deutihland, denn während fie nad) Deutfchland 1911 nur 134 Millionen
Kronen betrug, belief fich die ſchwediſche Ausfuhr nach England auf 196 Millionen
Kronen. Aus diefen Gründen erfcheinen der „Söteborg Poſt“ die wirtichaftlichen
Ausfiten für Schweden bei einem Stege Deutichlands in nicht allzu rofigem
Lichte. Man beginnt mit englifhen Augen zu fehen und Deutſchland als
feinen wirtſchaftlichen Nebenbuhler zu betrachten. So glaubt man, daß ein
fiegendes Deutſchland Schweden auf dem ruffifhen Marlte, wo es fi im
legten Jahrzehnt einzelne Gebiete erobert bat, vertreiben könnte. Deutichland
werde monopolartig den ruffiihen Markt beherrſchen und dadurch die ſchwediſche
Unternehmungsluft zum Berfiegen bringen. Deutſchland werde ſich audh des
Schweden und der Weltkrieg 99
Tranfithandels von Dften nad) Weiten bemächtigen, von dem Schweden und
befonder8 Göteborg fo viel erhofft hatte. Wie zur Zeit der Hanfa, fo meint
die „Böteborg Boft“, wird fih der Handel in beutichen Händen konzentrieren.
Au „Social-Demokraten” glaubt, daß es ſchwediſchem Fleiße gelingen müffe,
deutiche Fertigfabrifate — insbefondere Iandwirtichaftlihe Maſchinen — durch
eigene Erzeugniffe auf dem ruſſiſchen Markte zu verbrängen.
Die rechtsitehende Partei ift es, die ihrem Baterlande immer wieber feine
ſchwachen militäriſchen Machtmittel vorwirft. Was bedeutet auch für die Ver⸗
teidigung eines Landes, das faft die Größe Deutichlands befikt, ein Heer von
einer halben Million Kriegsitärle? Die Löfung der Wehrfrage bildete feit
Yahren das wichtigfte innerpolitifche Problem Schwedens. Die Rechte hielt in
der Hauptfadde die Übungszeit für zu gering und verlangte den Bau moderner
Panzerſchiffe, während die Sozialdemokratie für eine Verminderung der Militär-
laſten agitierte. Eine Kommiffton, die ſchon feit 1907 tagte, brachte weder
unter dem fonfervativen noch fpäter unter dem liberalen Miniftertum die end⸗
gültige Löfung der Frage. Der Bau eined modernen Linienfhiffs von
7000 Tonnen wurde, nachdem er ſchon befchloffen war, wieder ſiſtiert. Dieſe
Tatſache führte zu einer ungeheuren Opferwilligleit innerhalb der ſchwediſchen
Bevöllerung: während eines Vierteljahr wurden im VBorfommer1912 18 Millionen
Kronen geipendet, um durch dieſe freiwillige Gaben den Bau des Schiffes zu
ermöglichen. Der Bau der „Sverige“ wurde auf den Götawerlen in Stodholm
im Februar 1913 begonnen”). Es mag bier erwähnt werden, daß mit zwei
Ausnahmen alle Kriegsichiffe auf ſchwediſchen Werften gebaut werden, was für
die Entwidlung der ſchwediſchen Vollswirtſchaft Tennzeichnend ift.
Man erinnert fih noch, wie im vorigen Frühjahr die Militärfrage zur
Krifis führte, in der das liberale Minifterium Staaff geftürzt wurde. Die
Rechte hat ihm vorgeworfen, das Wehrproblem nicht ſchnell und energiſch genug
gelöft zu haben. Die Bauern griffen durch eine Kundgebung in die Lage ein,
indem fie anfangs Februar, 32000 an der Zahl, aus allen Landesteilen
Schwedens vor das Schloß des Königs zogen und ihn um eine fofortige
*) Ihre Beftüdung beträgt vier Schnellfeuerfanonen von 28 Zentimeter, fünf von
15 Bentimeter und ſechs von 7,6 Zentimeter Kaliber. Sie Hat zwei Ausſtoßrohre unter
Bafler für 53 -Bentimeter- Torpedo. Die Panzerung beträgt für die Wwidtigften Zeile
2300 Zentimeter, die indizierten Pferdefräfte 20 000. Die übrigen Beftandteile der alten
ſchwediſchen Flotte find bedeutend Tleiner und viel ſchwächer armiert. Der einzige Panzere
treuzer „Fylgia” hat nur eine Wafjerverdrängung von 4800 Tonnen und die zwölf Küften-
panzerſchiffe faflen alle zufammen nur 35400 Tonnen. Dazu kommen neben einigen Panzer⸗
booten zweiter und dritter Klaſſe vier jehr alte Kanonenboote von 400 bis 600 Tonnen und
acht Torpebobootzerftörer von etiva 450 Tonnen, fünf von etwa 800 Tonnen, die eriten mit
etwa 80 Knoten Schnelligkeit und zwei Dedlanonen für 45. Bentimeter-Torpedos, die letzt⸗
genannten mit etwa 20 Knoten und ein Unterwafferausftoßrohr für 88-Bentimeter-Torpedoß.
Bon einer nennenswerten Flotte Tonnte daher bis jegt Teine Rede fein. Allerdings befigt
Schweden 81 Torpeboboote erfter und 14 zweiter Klaſſe und etwa jechd Unterſeeboote.
70
100 Schweden und der Weltkrieg
Löſung der Wehrfrage baten. Diefe Handlungsweiſe ift für dem, der die
ſchwediſche Geſchichte Tennt, nicht fo wunderlich: feit Jahrhunderten beftand ver-
faflungsgemäß neben den drei üblichen Ständen der meiften europätfchen Sroßftaaten
in Schweden der vierte Stand, der ſchon im Mittelalter Sig und Stimme im
Reichstag hatte, der Bauernftand. — Beim Empfang ber Bauerndeputation
ergriff der König felbft Partei in der Wehrfrage, indem er ihre baldige Löfung
verfprad. Diefer Eingriff des Lonftitutionellen Königs erregte bei den Sozial⸗
bemofraten und einem Teil der Liberalen einen großen Sturm der Entrüftung.
Staaff mußte fein Amt niederlegen. Der wichtigſte Punkt des MWehrprogramms
des neu einberufenen Miniſterums, das unter dem Borfi von Hammarſljöld
gebildet wurde, war die Verlängerung der Übungszeit für alle Waffengattungen
auf ein Jahr — big jet hatte nur die Kavallerie eine jo lange Dienitzeit —
und der Bau größerer Panzerſchiffe. Die neue zweite Kammer, die nad
Auflöfung der alten im April gewählt wurde, brachte eine ftarle Verminderung
des Freifinns (von 101 auf 71 Mandate) — er hatte überall an Vertrauen
verloren — und eine bedeutende Zunahme der Site der Rechten (von 65 auf
86) und der Sozialdemokratie (von 64 auf 73). An die Sozialdemofratie
hatten fich alle diejenigen angeſchloſſen, denen die beftehende Dienjtzeit noch zu
hoch war und die für eine Verminderung des MilitärbudgetS eintraten. Das
Budget für Heer und Marine, das 1912 bei einem Gefamtetat von 263 Millionen
Kronen 88 Millionen betragen hatte, follte nad ihren Wünſchen in Zukunft
70 Millionen nicht überfteigen. Kaum jemals ift wohl in Schweden der Wahl-
fampf von allen Seiten mit folcher Erbitterung und Leidenfchaft ausgefochten
worden. |
Nah Ausbruch des Krieges febte ſelbſtverſtändlich die Agitation für eine
erhöhte Dienstzeit im verftärkten Maße ein, und im September wurde nun aud
endlich die Übungszeit für die Infanterie im erften Jahre auf 280 Tage herauf
gefegt — noch weitere Übungen folgen — und auch die Forderungen für den
Landfturm murden erhöht. Noch 1914 wurde auch die Verftärfung der Flotte
vom Reichstag beſchloſſen. In einer fünfjährigen Periode, von 1915 bis 1919,
jollen neben der „Sperige” zwei weitere Linienjchiffe von demfelben Typus und
berfelben Beſtückung gebaut werden, ferner vier Torpedobootzerftörer verbefferten
Typs mit 460 Tonnen Wafjerverdrängung, 30 Knoten Schnelligkeit, vier
Schnellfeuerkanonen von 7,5 Zentimeter und ſechs Ausftoßrohren von A5«Zentie
meter-Zorpedos und endlich eine Anzahl Unterfeeboote.
Immer wieder hatte die Rechte zur Agitation für die Erweiterung des
Verteidigungsweſens die rufftiihe Gefahr für Schweden hervorgehoben. Wie
befannt, haben ſich beſonders Sven Hedin und Bontus Fahlbed in mehreren Flug-
ſchriften für eine Vermehrung der Flotte eingejebt. Auch die Ruffifizierung Finnlands
fol nad) der Meinung der Ronfervativen für die Zukunft Schwedens nicht unterfchäßt
werben, bat doch feit der Ara Bobriloff Schweden Finnland als Bufferftant
verloren.
Schweden und der Weltkrieg a ee 101 —
Die ausführliche Darlegung der Stellung der einzelnen ſchwediſchen Parteien
zur Wehrfrage zeigt gleichzeitig auch das Verhalten des Volles gegenüber Deutſch⸗
land, allerdings nur infomeit, als die Zufammenfegung der Volfsvertretung bie
Bollsftimmung wiedergibt. Den ſchwediſchen Sozialdemokraten tft Deutſchland —
wie auch einem Teil der Liberalen — das Land des Milttarismus. Von dem
deutfhen „Militarismus” bat man in diefen Streifen fo faliche Vorftellungen
wie überall da, wo man diefen Begriff benugt, um Stellung gegen ung zu
nehmen oder andere Völfer gegen uns aufzubegen. Für. den Militartsmus haben
fie auch das ſchöne Wort „Preußeriet” geprägt; denn Preußen tft es ja, das
vom Milttarismus durchſeucht ift und jebt auch die anderen. Bundesftaaten
angeftedt hat. Auch die ſchwediſche Sozialdemokratie verfennt fo völlig die
Bollsftimmung in Deutſchland, daß fie ſich einbildet, das deutſche Boll vom
Milttarismus befreien zu müſſen, ohne fi darüber Mar zu werben, daß zu
einer Befreiung auch die Geneigtheit des Volles, um das es ſich bei dem
Befreiungswerk handelt, gehört. |
Auch Ellen Key glaubt im „Forum“, einer linksſtehenden Beitfchrift, ihre
Stimme gegen das „verpreußte” Deutſchland erheben zu müſſen. Bei ihr hätte
man wohl eine befjere Kenntnis unſeres Baterlandes vermuten und Auslafjungen
erwarten dürfen, die mehr Originalität verraten. Anftatt deffen gibt fie nur
Shawſche Gedanfen wieder, wenn fie ſehnſüchtig das von ihr bewunderte
Deutfhland Kants und Goethes zurückwünſcht, und wenn fie erklärt, daß für
den, der den germanifchen Geift Tiebt, nicht DMosfau oder. London Deutichlands
größter Feind ift, jondern Potsdam. Die Ziele der augenblidlichen ſchwediſchen
Bolitit fieht fie in einem. Verteidigungsbündnis der flandinavifhen Staaten.
„Die jegigen Schweden, deren Väter fo warm für die Gemeinſamkeit Skandi⸗
naviens eintraten, haben” — nad) ihrer Anfiht — „nicht das Recht, Nord-
ſchleswigs Schickſal zu vergeffen“. In voller Übereinftimmung mit ihrer Auf-
fafjung von Deutſchland gibt „Social-Demofraten“ einen Teil ihrer Ausführungen
wieder und bringt zum Schluß die Auslaffung eines dänifchen Parteifreundes,
der als warmer Deutfchenfreund (!) wünſcht, daß das „jebige verpreußte Deutich-
land im Weltkriege unterliege”.
Diefelbe Färbung wie das führende Stodholmer Parteiorgan zeigt auch
die Zeitihrift „Ziden”, die ebenfalls von dem Führer der Sozialdemokratie,
Hjalmar Branting, geleitet wird. Branting bat feinem Lebensgange gemäß
enge Beziehungen zu Frankreich, deſſen Kultur er durch den Weltkrieg gefährdet
fieht. Er haßt deshalb Deutichland, ohne zu bedenfen, daß deren Untergang
wohl jeder gebildete Deutfhe mit gleihem Schmerze beflagen würde. Die
Provinzpreſſe meicht niemals ohne wichtige Gründe von der Anficht ihres .
Führers ab, und fo nimmt fie im ganzen bdiefelbe Haltung ein wie das
führende Parteiorgan.
| GSelbitverftändlich verfucht auch bie ſozialdemokratiſche Preſſe nachzuweiſen,
daß Deutſchland den Krieg gewollt hat. Deutſchland, ſo legt ein Verfaſſer
2 109' ee — Schweden und der Weltkrieg
eines Artikels im Auguſtheft von, Tiden“ dar, habe „feine Stunde richtig gewählt“,
und feine „Beredänungen würden vielleicht binnen kurzer Zeit ſich verwirklichen
und Deutichland der Herr der Welt fein“. In derſelben Rummer verftattet
man aber noch einmal auch einem Verteidiger Deutichlands das Wort, der die
unberechtigten Anlagen gegen unfer Land abweiſt. Er zeigt Deutichlands
Berfuche, den Frieden zu bewahren und legt bar, daß es einen gerechten Krieg
führt, weil es durch eine große Übermacht gezwungen wurde, die Waffen zu
ergreifen; — num kampft es für bie Aufrehterhaltung feiner Exiſtenz.
Stelt man fi einmal auf den Standpımit, daß Deutſchland den Krieg
gewollt bat, fo wird man ihm gegenüber eine um fo feindlichere Stellung
einnehmen, je mehr das eigene Land unter dem Sriege zu leiden hat. Die
Wirkungen der jebigen Lage find aber für Schweden ſehr bedeutend geweſen;
insbejondere haben die breiten Schichten des Bolles, die Arbeitermaffen, bie
ungünftige Lage des Arbeitsmarktes und die Berteuerung ber Lebensmittel ſehr
geipürt. Die Arbeitslofenziffern waren im Degember in Schweden höher als in
Deutihland. Während fie dort im lebten Vierteljahr des Jahres 1913
2,2 Prozent, 2,6 Prozent und 4,4 Prozent betrugen, zeigen fie 1914 mit
7,7 Prozent, 8,1 Prozent und 10,3 Prozent die eingetretene Krifis. Sekbft-
verftändlich find es befonders die Arbeiter der Exrportinduftrien, bie durch dem
Krieg ſtark betroffen werben. Groß war die Arbeitslofigfeit in der Stein- und
Toninduftrie, die 1911 von den 805000 ſchwediſchen Induſtriearbeitern
rund 31000 beidäftigte. Der Wert der Steinausfuhr betrug 1911 rund
141/, Millionen Kronen, das Hauptabfagland tft Deutſchland. Auch das Bau-
gewerbe hatte noch unter einer ftärleren Arbeitslofigleit zu leiden wie tn
gewöhnlichen Wintern. Die Preiſe einiger Lebensmittel — insbejondere Fleiſch —
find in Schweden fehr ſtark geitiegen.
Als die deutſche Regierung am 23. November bearbeitete und un-
bearbeitete ſchwediſche Hölzer als relative Kriegskonterbande erflärte, da
verfäumte man in fozialdemofratifchen Seifen nicht, die Handlungsweiſe
Deutſchlands zu brandmarken. Nur die rechtsftehende Preſſe wies energiſch auf
den Handelskrieg Englands Hin, der die Intereſſen der ſtandinaviſchen Staaten
tödlich verlegt. Gerade für Schweden hatte die Erklärung der relativen Konter⸗
bande zur abjoluten die fchwerften Folgen. Allerdings ift der Holzerport für
die ſchwediſche Vollswirtſchaft Lebensbedingung. 52 Prozent des Landes finb
mit Wald bededt und die zahlreihen Flußläufe und Seen ermöglichen einen
billigen Transport der Hölzer. 1911 betrug die Ausfuhr unbearbeiteter,
behauener und gefägter Hölzer ſechs Millionen Kubikmeter. Bon beionderer
Bedeutung war die Verordnung vom 23. November dadurch, daß mehr wie
der dritte Zeil der ſchwediſchen Holzausfuhr nad Großbritannien gerichtet ift.
Eine Krifis in der Sägemühleninduftrie muß ſchon deshalb von fchweren
Folgen begleitet fein, weil allein rund 40000 Arbeiter dort beichäftigt find.
Aber die Erflärung vom 23. Rovember bat trogdem nicht jo einſchneidend
Schweden und der Weltkrieg 108
gewirkt, wie man nach der Bedeutung bes Holzexports für die ſchwediſche
Bollswirtihaft annehmen ſollte. Denn während der Wintermonate tft der
Transport über die Ditfee — die Weſtküfte kommt Taum in Betracht — wegen
bes Eifes doch nicht möglich. Übrigens fcheint man jetzt die Beftimmung, die durch
das eingetretene Taumwetter von großem Belang würde, verändern zu wollen.
Hat die ſozialdemokratiſche Prefie nicht verfäumt, Kapital aus der deutſchen
Konterbandeerklärung zu ziehen, fo ift fie nur allzu maßvol in der Kritil des
ungerechifertigten Anhaltens ſchwediſcher Dampfer von feiten Englands, während
wir diefe Berhältnifie in der übrigen Prefie mit großer Ausführlichleit dar⸗
gelegt finden. Nahezu ımerträglich wird für die ſchwediſche Geſchäftswelt jetzt
die engliſche Zelegrammzenjur.
Intereſſante Aufllärungen über die Stellungnahme der einzelnen
Zeitungen werden uns, wenn wir ihre *2eltüre etwas mehr philologiſch
behandeln: in fett gebrudter Überfchrift finden wir in „Social - Demokraten“
die Worte „bie deutſchen Seekriegsmethoden“. Darunter did gebrudt: „Der
Berftörer der ‚Zalaba‘ ging unter engliſcher Flagge,“ dahinter fteht ein Punkt.
Der Leier empört fi) über Dentichland. Ganz unten im Text fcheint aber der
Redaktion des „Soctal- Demokraten” das Gewiſſen geichlagen zu haben, und fie
verfieht die Hein gedrudten Worte „Die deutfchen Unterſeeboote unter engliſcher
Flagge” mit einem Fragezeichen.
Um gegen die Steigerung des Berteidigungsweiens auftreten zu Lönnen,
muß die liberale und fozialdemofratiiche Preſſe der Annahme einer ruſſiſchen
Gefahr entgegentreten, deren ftarle Hervorhebung von feiten der Rechten bie
Zinle vor dem Kriege für übertrieben bingeftellt hat. Man leugnet, daß
Rußland beftrebt ift, fich in den Bells von Narvik und dadurch eines Hafens
am atlantiidhen Dzean zu ſetzen“). Es braucht nicht an die norwegiſche Küfte
vorzubringen, wenn e8 Konftantinopel erobert hat, jo argumentiert man. Die
Yolge diefer Auffaffung if, daß man Rußland ein fiegreihes Bordringen in
den Dardanellen wunſcht. Sollte dies unmöglich fein, fo bleibt dem öftlichen
Nachbar immer noch die Möglichkeit, einen Kriegshafen an der Murmantküfte
anzulegen, der die Befignahme Narvils unnötig macht. Es genügt aber ber
Iinfsftehenden Prefje nicht, mit diefer Beweisführung die ruſſiſche Gefahr zu
befeitigen, fie verfucht fogar, wie wir gefehen haben, eine Gefahr, die von
Deutſchland beranzieht, zu Lonftatieren.
Wie ein ſchlechter Spaß mutet e8 uns jedoch an, wenn „Social-Demoftaten“
und „Dagens Nyheter“ feit ein paar Tagen eine ruſſiſch⸗ſchwediſche Konferenz
von ruſſiſchen Dumamitgliedern und ſchwediſchen Reichsſtagsabgeordneten befür-
worten **). Auffifcherjeits ſoll man ſchon die Grundlagen einer ſolchen Konferenz
®) Bergleihe Die Grengboten vom 20. Xanuar 1915. Seite 74.
““, Auf den Entrũſtungsſturm, der auf diefen Vorſchlag in der rechtsſtehenden Preſſe
folgte, erflärte „Dagen® Nyheter“, die zuerſt den Gedanken verfolgte, „daß die Konferenz
leineswegs eile”.
104 Schweden und der Weltfrieg
erwogen haben und die Behörden follen großes Intereſſe für den Plan be-
tunden. Was fol in aller Welt, fo wird man Lopffchüttelnd fragen, das Thema
einer ſolchen Zuſammenkunft bilden? Nichts Geringeres als die Zukunft Yinn-
lands. In „Social⸗Demokraten“ felbft hat man eine Artifeljerie veröffentlicht,
in der dargelegt wird, daß das finnifche Volt felbft Leine Hoffnung mehr bat,
bei Aufrechterhaltung der Zarenmacht feine Selbftändigleit und Freiheit zu be-
wahren. Trotzdem hält man in der ſchwediſchen Sozialdemokratie die Zeit für
gelommen, die Hinderniffe, die „einer vertrauensvollen und freundfchaftlidden
Verbindung der beiden Völker im Wege ftehen, wegzuräumen”. Merkwürdiger
Meile zittert „Social⸗Demokraten“ bier nicht die Stelle aus Ellen Keys oben-
genannten Aufſatz, „daß jeder Blutstropfen in einem fchwedifchen Herzen den
Gedanken, die Hand über das niedergetretene Finnland unſerm öftlichen Nachbar
zu reichen, abmeifen ſollte“. (Allerdings Iehnt fie in dieſem Zuſammenhange
auch jede Waffenbrüderfhaft mit dem ſüdlichen Nachbar über das niedergetretene
Nordſchleswig ab). Wir lönnen uns nur wie ein rechtsftehendes ſchwediſches Blatt
wundern „überdas Zuſammenwirken des ruſſiſchen Abfolutismus und der ſchwediſchen
Sozialdemokratie”. Ob Finnlands Ausſichten durch eine ſolche Konferenz wachſen
werden? „Svenska Dagbladet” erinnert mit Recht an den Beſuch ruffifcher
QDumamitglieder in England und macht darauf — daß die Furſprecher
Finnlands in England ſeitdem verftummt find.
Mit diefen Ausführungen fol nun feloftverftänbtid nicht nachgewieſen
werden, daß jeder Sozialdemofrat der Meinung des Stodholmer Parteiorgans
wäre. Für die Sache Deutihlands bat der befannte ſchwediſche Revifionift
und Sozialdemokrat Guſtav %. Steffen in ſchwediſchen umd deutſchen Zeitungen
Partei ergriffen. Wegen feiner Stellungnahme zur Verlegung der belgifchen
Neutralität in der „Voſſiſchen Zeitung“ mußte er aus dem Bertrauensrat ber
ſchwediſchen Sozialdemokratie ausſcheiden. Er hat in feinem Buche „Krieg und
Kultur” (Erſter Band, deutfch, bei Eugen Diederichs, Jena, 1915), von dem
foeben au der zweite Zeil im ſchwediſcher Sprade erſchienen ift, ſich
mit den deutſchfeindlichen Außerungen der Engländer und Ruſſen ausein-
andergefegt und wichtige Dokumente für die Denkungsart unferer Feinde bei-
gebracht. Befonderen Wert erhält feine Beurteilung durch Die tiefgehende
Kenntnis, die er von der Kultur, insbefondere von der Vollswirtihaft Groß-
britanniens befigt; er bat mehr wie ein Jahrzehnt in England "gelebt.
Mit fetner Ironie behandelt er die Art, mit der die Engländer verſuchen, ihr
Bündnis mit Rußland zu rechtfertigen, den ruſſiſch-engliſchen Kampf für
„Demokratie und Freiheit” zu erflären. Allerdings balten es die meiften
Engländer für befler, über das Zufammenmwirlen beider Reiche fein Wort
zu verlieren, nur einige ſprechen fich offen, fogar in Privatbriefen an Steffen
aus: man will mit Hilfe Rußlands den größten Konkurrenten, Deutjchland,
niederzwingen, um nachher dem Koloß feine Friedensbedingungen zu biltieren.
Mit gutem Verjtändnis weiſt Steffen die englifchen Anflagen gegen den deutſchen
Schweden und der Weltkrieg 105
„Militarismus“ zurüd. Im zweiten Teile legt er unter anderem zahlenmäßig
dar, daß Englands und Franfreihs Ausgaben für Heer und Marine pro Kopf
der Bevöllerung bedeutender find als die Deutſchlands. Für die unglaublichen
Kriegsberichte englifher Sournaliften weiß Steffen nur eine Erflärung: fo wie
England zum größten Teile aus Jagdgründen befteht, fo fieht der Engländer
auch die ganze übrige Welt als fein Jagdrevier an; denn ber Sport und be-
ſonders die Jagd erfcheinen ihm ja als notwendiger Ausgleich der Schäden
bes modernen Induſtrialismus. So tft ihm die Vorliebe geblieben für Kriegs-
ſchilderungen, die ſich nicht von ben alten Indianergeſchichten unterfcheiben.
Die krafſen Urteile gebildeter Engländer über Deutſchland erflärt Steffen mit
der Beichränftheit der engliſchen Infularität. Aus jeder Zeile Steffens ſpricht
Hochachtung für das deutſche Volt und feine Kultur. Befonders für felne
Kraft der Organifation — die er ſowohl in dem deutſchen Militarismus wie
in ber deutichen Sozialdemokratie findet — hat er volle8 Verftänbnis und
Worte hoͤchſter Anerkennung. |
Die rechtsſtehende Partei Schwedens geht weiter wie Steffen. Sie tft feit
Kriegsausbruch mit der offiziellen Politik unzufrieden und wünſcht ein ‚aktives
Eingreifen zugunften Deutſchlands. Mit fcharfen Worten hält fie immer wieber
dem Volle die ruffifche Gefahr vor Augen, die jegt nad Ausbruch des Krieges
die lintsſtehende Preſſe wegzubisputieren fucht*). Sollte Rußland auch die Befig-
nahme Konftantinopel® gelingen, fo wird es beshalb nicht aufhören, alle
Mittel in Bewegung zu feben, um fi} in den Belt eines Hafens am atlantiſchen
Dzean zu ſetzen. Kann doch ein Hafen am mittelländtichen Meer, in deſſen
Beherrſchung fi vier Großmächte teilen, nicht den fo erfehnten am Weltmeer
erfegen, gar nicht zu reden von NAlerandrowf? an der Murmanlüfte, daS bei
weiten nicht diefelben günftigen Bedingungen eines Kriegshafens aufweiſt wie
Narvik.
Aufſehen erregende Artikel erſchienen in der Zeitſchrift „Det nya Sverige,“
deren Herausgeber der Leiter des Nationalvereins gegen die Auswanderung,
Adrian Molin, iſt. Belanntlich war ja eines der Hauptprobleme der ſchwediſchen
Bolkswirtſchaft in den letzten Jahrzehnten die Verhütung der Auswanderung.
Hat doch das Land von 1850 bis 1910 mehr aß eine Million Menſchen
verloren, faft ein Fünftel feiner jebigen Bevölkerung. Der Verein verſucht
durch Anfteblung von Bauern die Leute in der Heimat zu halten und Rück—
wanderer von neuem an bie Heimat zu feſſeln. Schon aus der Tätigfeit des
Bereins, deren Direltor — wie gejagt — der Herausgeber der Zeitichrift
„Det nya Sverige” ift, Täßt fich ihre Tendenz erfennen: Erneuerung der ſchwediſchen
Rultur auf nationaler Grundlage. Molin will in feinen Artileln „Starte und
ſchwache Neutralität“, „Schwedifche Neutralität”, „Narvik oder die Dardanellen”
*) Zur Achtſamkeit auf ruffiihe Eroberungspolitit riet auch die immerwährende uner-
börte Spionage von feiten Rußlands in Schweden.
106 Schweden und der Weltkrieg
beweifen, daß im Unterfchied von Italien Schweden durch feine Reutralität
nur verlieren Tann. SYtalien läßt in jedem Yalle die Großmächte den Kampf
auch für fi ausfehten. Es wird am Tage des Friedens feinen Nuten aus
dem Weltkrieg ziehen, weil beide friegführenden Parteien — dank jeiner
kräftigen Machtmittel — ihm jederzeit eine altive Politik zutrauen, fie berbei-
wünfchen oder fürchten, Schweden aber wegen feiner geringen Machtmittel nicht
ernſt genommen wird.
Deutihland — fo fährt Molin fort — ift der einzige Staat, ber Schweden
Stüße gewähren kann. Man wird es ihm aber beim Yrieden nicht verübeln
lönnen, wenn ihm die Türkei, die aktiv eingriff, naͤherſteht als der ſtandinaviſche
Stammesgenofie._ Es wird niemand wundern können, wenn es für bie
Sarantierung ber Integrität ber Türkei Rußland nichts mehr in den Weg
legt, fih den fo notwendigen Hafen an der Küfte Norwegens zu ſuchen.
Sicher muß man Molin recht geben, wenn er behauptet, daß eine Beſchluß⸗
faffung nichts bedeutet, wenn man nicht bie Möglichkeit befikt, jederzeit für
ihre Nichtachtung das Schwert zu ziehen. Doppelt Har wurbe uns biefe
Erienntnis durch das felbftherrliche Verhalten Englands gegenüber den neutralen
Staaten. Ob wir trotz diefer Umftänbe aber fo ſcharf in unjerer Beurteilung
fein dürfen und der Malmözuſammenkunft feine andere Bedeutung zufprechen
können als bie einer Demonftration, fcheint mir fraglih. Wirb es doch
fiher Ion von erheblicher Wirkung fein, wenn fi) die ſtandinaviſchen Staaten
einig geworden find, auf jeden Fall den finniſch ⸗ſchwediſchen Bahnanſchluß zu
verhindern und bie Neutralität ftreng zu bewahren.
Großes Auffehen erregte in Schweden Molins Widerlegung der Anfichten
jener Männer, die die Ubermacht eines fiegenden Deutſchland fürchten. Wir
wollen die Worte Molins bier ohne Kommentar wiedergeben: „Würde uns
wirflih Gefahr von feiten eines Deutſchland drohen, das feine Feinde mit
Glüd befämpft hat, fo wäre e8 für Schweden an der Zeit, ernftlich zu über-
legen, welches Schidfal e8 vorzöge: Bayerns oder Finnlands.“
Diefe Äußerung könnte glauben machen, daß es den Schweden an Rational-
gefühl gebriht. Das Gegenteil beweift ſchon die Tendenz ber erwähnten Beit-
fohrift. Eher könnte man die Strömung, die jebt in Schweden in ben ver
ſchiedenſten Kreifen, Liberalen und Konfervativen, ſcharf zutage tritt, mit den
Worten bezeichnen: Schweden für die Schweden. Selbit Sozialdemokraten
äußerten fi mir gegenüber empört, daß fo viele Unternehmungen fidh in ben
Händen von Ausländern befänden. BDiefe Stellungnahme tft allerdings nicht
fo verwunderlich, da die ſchwediſche Sozialdemokratie ja ſchon vor dem Kriege
bedeutend nationaler gerichtet war, als bdiefelbe Partei in anderen Ländern.
Heute würde man es in vielen Kreifen mit Freude begrüßen, wenn man getreu
dem Prinzip „Schweden für die Schweden“ den Erwerb von Grundbefit für
Ausländer erſchwerte. Diefe Auffaffungen find um fo fhwerer zu verftehen,
als Schweden, das nur fünfeinhalb Millionen Einwohner befigt, in erfter Linie
Schweden und der Weltkrieg 107
für eine Träftige Entwidlung feiner Vollswirtſchaft Menſchen fehlen. Menſchen
fehlen ihm ſowohl für die Urbarmachung feiner Moore, die einen großen Teil
des Bodens, befonders in ben nörbliden Brovinzen, bebeden, als auch für den
weiteren Ausbau feiner Induſtrien.
Bir haben leider die Anſchauung, daß Schweden fchlechthin und durchweg
deutſchfreundlich gefinnt ift, ſtark einfchränten müflen. Aber wir dürfen uns
im ganzen — ohne leichtfertig zu fein — der Anficht eines bekannten Sozial-
demofraten anfchließen, der mir diefer Tage fchrieb: „Denutichland hat im
Mwebiichen Volle mehr Freunde als Feinde.” Bor allem aber fteht bie
Intelligenz im allgemeinen auf unferer Seite. Daher kommt es aud), daß
diefenigen, die in Schweden ftubienhalber reifen, den Eindrud gewinnen, gleich
gefinnte Stammesbrüder zu finden.
Die Befteuerung des Hriegsgewinns —
eine Steuerungerechtigfeit
Don Prof. Wittfhemffy
RE ie großen geichäftlichen Vorteile, die einer Minderheit unjerer
erwachſen, haben den Gedanken auffprießen laſſen, die erzielten
Geſchäftsgewinne mit einer befonderen Steuer zu belegen. Warum
—— das geſchehen ſoll, iſt nicht ohne weiteres klar erkennbar. Gewiß,
zum Kriegführen gehört Geld, ſehr viel Geld, und wenn der Staat in argen
Geldſchwierigkeiten ſteckt, ſo langt er nach den Geldmitteln, die ihm am leichteſten
zugänglich erſcheinen. Die Vermögensbeſteuerung wäre, falls das Steuerſchiff
nebſt den anderen Geldſchiffen in ſchwerem Kriegsſturm auf einer Sandbank
feſtſäße, eine Angelegenheit, über die ſich reden ließe. Aber, wie angedeutet,
nur die äußerſte Notwendigkeit könnte eine Maßregel rechtfertigen, durch Die
von den Kapitaliſten ein außerordentlicher Kriegstribut eingefordert wird, ohne
nachdenklichen ſteuerpolitiſchen Erwägungen ſich hinzugeben. Dieſer Fall liegt
jedoch im Deutſchen Reich offenbar nicht vor. Über die Stärke unſerer finanziellen
Kriegsrüſtung wiſſen wir nach dem Ergebnis der beiden Kriegsanleihen
genügend Beſcheid. Und werden die zur Verfügung ſtehenden Milliarden auf
gebraudit fein, fo daß die vom Reichstag bemilligten weiteren Krebite in Anfprud)
genommen werden müfjen, fo dürfte eine etwa aufzuerlegende „Sriegsfteuer"
auch nicht die rohe Form eines einfachen Nüdgriffs auf den privaten Ver
mögensbefib annehmen. DBeiläufig fei hierzu eingefchaltet, daß der in ber
bureaufratifhen Tretmũhle noch jugendfrifhe neue Reichsſchatzſekretär den
Gedanken einer Reichsiteuer vorläufig überhaupt abgelehnt hat. Die Einführung
einer Kriegsgemwinnfteuer ift demnach durch fiskaliſche Erforderniffe keineswegs
bedingt. Andere Gründe müſſen alfo für das Wohlwollen maßgebend fein,
mit dem ein folder Steuerplan von der öffentlichen Meinung aufgenommen
und auch in den Parlamenten bewilllommnet worden ift.
In den Grenzboten (Nr. 13) tft eine Steuer auf Kriegsgewinn unter dem
Titel einer „Einkommenvermehrungsfteuer” aus Gründen des Billigkeits⸗
empfindens empfohlen worden. Etwas ausführlider hat kürzlich Juſtizrat
Bamberger in der Tägliden Rundfchau (Nr. 118, 135, 178) denfelben Gedanken
erne
Die Beftenerung des Kriegsgewinns — eine Steuerungeredhtigfeit 109
vertreten, nachdem er vorgängig die gewichtigen Bedenken gegen bieje Steuer
felbft hervorgehoben hat. Die praltiihen Einwände zerfließen ihm aber gegen-
über dem pfychologifhen Moment, daß ein weit verbreiteter Unmillen beſteht
über die Art, wie der furchtbare Krieg ähnlich einer beliebig anderen geichäft-
lien Konjunktur zur materiellen Bereicherung einer Pleinen Minderheit aus⸗
genugt wird. Diefes Gefühl, meint AYuftizrat Bamberger, fol man ſich nicht
verwirren laffen. Und er weift auf die Duelle des Mikmuts bin, wenn er
ſchreibt: „Das allein ift nicht entſcheidend, daß der Nuben in einem Mißver⸗
bältnis zu der aufgewendeten Arbeit ſteht, auch nicht, daß innerhalb der kurzen
Zeit von wenigen Monaten Vermögen erworben werden, die fonft faum bie
Frucht der Tätigkeit von vielen Jahren bilden, fondern entſcheidend ift bie
Zatjache, daß der Krieg es ift, der eine fo außerordentliche Bereicherung her⸗
vorruft.” Es fet nicht mehr als recht umd billig, daß die Begünftigten einen
Heinen Zeil des erlangten Nubens in Form einer Steuer der Gefamtheit
überlafjen.
Nach der bier verlautbarten Auffaffung ſoll alſo nicht jo fehr die Tatſache
bes Gewinns an fi, aud nicht die ungewöhnliche Höhe der Gewinne für die
Beitenerung maßgebend fein, fondern vor allem wird die finanzielle Rubbar-
machung der Sriegszeit für privatwirtſchaftliche Erwerbszwecke als anſtößig
erachtet. Dem Kriegsgewinn wird damit der Stempel unmoraliſchen Verdienſtes
aufgeprägt. Andernfalls wäre die Entrüſtung nicht recht zu verſtehen, die über
dieſe Gewinnmöglichkeiten beſteht und auch vom Juſtizrat Bamberger als voll⸗
auf begreiflich anerkannt wird, ohne Nüdfiht darauf, ob die wucheriſche
Ausbeutung von kriegswirtſchaftlichen Ausnahmeverhaltniſſen wirklich nachweisbar
ift oder nit. Nun aber follte gerade in der Steuerpolitit das moraltiche
Moment niemals fi von felbft verftehen. Seine Einhaltung in die Grund⸗
ſätze der Stenergerechtigleit müßte den Steuerpraftiler auf gefährliche Irrwege
führen, indem fhließli die moraliihe Sefinnung der Steuerpflichtigen bei der
Steuerumlegung in Betraht zu ziehen wäre. Wenigſtens fehlt ohne bie
moraliihde Bewertung die Begründung, warum an Sriegslieferungen nicht ver-
dient werden darf und warum biefe Gewinne nicht entiprechend höher fich jtellen
dürfen als zu normalen Zeiten. Daß diefe höheren Gewinne in die Kriegszeit
fallen oder gar dur) die Bedürfniſſe der Kriegführung überhaupt erft erzielt
worden find, Darf unſeres Erachtens als unſchicklich nur dann gelten, wenn
Kriegsgewinne unter allen Umftänden mit Bebenklichleiten behaftet find. Das
wird aber ſchwerlich behauptet werden, denn ſonſt würde das auch für die
Heeresleitung ungemein wichtige Geſchaͤftsintereſſe erlahmen. Kriegsgewinne
find aljo grundfäglich nicht verwerflich, können aber zu Quellen des Unmuts
werben, wenn fie durch ihre Höhe den Eindrud einer wucheriſchen Machenſchaft
hervorrufen. Man follte fih hüten, geſchäftliche Einkünfte beträchtlichen.
Umfangs, denen bäßliche fpefulative Umtriebe nicht zugrunde liegen, deshalb
zu verurteilen, weil fie aus der Kriegsbafis emporgeitiegen find. Wenn das
\
110 Die Befteuerung des Kriegsgewinns — eine Stenerungerectigfeit
in der oͤffentlichen Meinung vielfach geichieht, fo fpielt eine große Gedanken⸗
loſigkeit hierbei die Hauptrolle, die den inneren Zufammenbang tn biefen weit-
ſchichtigen geſchaͤftlichen Transaktionen nicht überfieht oder nicht erkennen will.
Unmoralif find lediglih Wuchergewinne, die als ſolche zweifellos feitgeftellt
find, denen man aber in anderer Weife als mit der Stenerrute entgegenzutreten
hätte, denn die Aute würde mit den Ungerechten auch viele Gerechte treffen.
Die Schwächen der fteuertheoretifchen Begründung einer Gemwinnfteuer, die
ihre Spige nur auf die „Kriegsgeichäfte” richtet, find ber Ausfluß einer das
deutſche Bolt gegenwärtig beberrichenden Gefühlspolitit, die mehr von vater
ländifhen Empfindungen al8 von ftrenger Sachlichleit ſich leiten läßt. Im
Hinblid auf die gewaltigen Opfer an Gut und Blut, die der Srieg allen
Bollsfreifen auferlegt, regt ſich Iebhafter Unmut über diejenigen, die anjcheinenb
ein Defizit an opferwilliger Gefinnung befunden, indem fie die ihrem Geichäfts-
geift günftigen Kriegskonjunkturen zu flotter Mebrung ihres Einlommens trefflich
zu verwerten befliffen find. Heldenhaftes Fühlen lehnt ſich gegen den Hänbdler-
geift auf. Die opferwilligen Laftenträger verurteilen die geichäftstüchtigen
Gewinnjäger. Eine Unterſcheidung von Fall zu Fall ift nicht angängig, inwie⸗
weit die Vorwürfe wegen fpelulativer Ausnugung der verworrenen Marktlage
näberer Prüfung ftandhalten. Der Ruf nad dem Stenererheber lommt einer
Berurteilung in Baufh und Bogen gleih. Mit folden Gefühlsäußerungen,
deren löblicher Untergrund nicht unterfhäst werden foll, tft aber das Syſtem
eines gerecht veranlagten Steueraufbaues nicht wohl vereinbar. Gewiß joll die
Einfommenvermehrung oder bie Vergrößerung des Bermögensbefites dem fteuer-
fistalifden Arme nicht entzogen werden, die Sonderfteuer verjtößt aber gegen
die Steuergerechtigkeit, wenn fie fi) auf die Gefühlsmomente deuticher Patrioten
beruft. Die Ausfonderung der „Kriegsgewinne” aus dem Rahmen der durch
Reichs⸗ und Staatsfteuern zu erfaflenden Einkünfte läßt faft vermuten, daß Die
Gewinner für ihren Erfolg abgeftraft werden follen. Bon manden Freunden
dieſer Beftenerung, beifpielsweife au von Herrn Juſtizrat Bamberger, wird
das mittelbar zugegeben, wenn fie Kriegszeit und Geſchaͤftsgewinn miteinander
verbinden und hieraus ihre Steuerforderung berleiten. Da die von der Börlen-
ſpekulation eingeftrihenen, unter Umftänden riefenbaften Gewinne von ſolchen
Steuerattacken unbehelligt bleiben, fo kommen wir nicht darüber hinweg, daß
für den Krieg eine bejondere Geſchäftsmoral gelten und durch die Steuer auf
den Zabelftuhl gefebt werden fol. Das wäre, wie bereitS bemerft, ein fteuer-
politifher Fehltritt. Auch der Kriegsgewinn tft ein legitimer Kapitalertrag,
dürfte daher nicht unter ein Sonderrecht gebradgt werden. Wenn zum Beifpiel
die Altien der Waffenfabrilen fprunghaft in die Höhe gehen ober die großen
Mahlmühlen eine dreifach höhere Dividende zu zahlen in der Lage find, fo
erwaͤchſt den glüdlichen Beſitzern der betreffenden Wertpapiere eine Bergrößerung
ihres Nentenlapitals, zu einer Belrittelung dieſes Kriegsgewinns“ liegt aber
nicht die mindefte Veranlaffung vor. j
Die Beftenerung des Kriegsgewinns — eine Stenerungeredtigteit 111
Die Kriegsgewinnfteuer wird noch von einer anderen Seite ber empfohlen,
wobei das moraliſche Element unberüdfichtigt bleibt umd lediglich die einfache
Tatſache als entſcheidend ins Feld geführt wird, daß inmitten des Rückganges
in ben allgemeinen Einlommensverhältnifien eine Tleine Gruppe gewandter
Geſchäftsleute und begünftigter Induftrieller durch Beteiligung an der Herftellung
und Lieferung von Kriegsbedarf jeglicher Art eines ungewöhnlich hohen Geſchäfts⸗
profits ſich zu erfreuen vermag. Die Steuergerecdhtigleit wird als Motiv für
die prozentuale Schröpfung dieſes Profit8 angerufen. In Wirklichkeit würde
mit einer ſolchen Befteuerung eine arge Steuerungerechtigkeit begangen werden.
Bom Beigeorbneten Rohde ift in den „Grenzboten“ dargelegt worden, wieviel
günftiger die Finanzlage der gewinnenden Minderheit ift im Vergleich zu der
großen Mehrheit, die durch den Krieg einen beträchtlichen Zeil ihrer Jahres⸗
einnahmen einbüßt. Hieran anknüpfend wird der unferes Erachtens fehr
bedenkliche Grundſatz aufgeftellt, daß in Notftandszeiten von den Glüdsgüter
Ermwerbenden ein befonderer Steuertribut erhoben werden dürfe. Bon Not⸗
ftänden in der einen oder anderen Form werden wir häufiger heimgefucht, und
der Gegenſatz zwiſchen wenigen großen Gewinnen und vielen fchweren Ber-
Iuften ift eine faft alltägliche Erſcheinung. Wollten wir die dadurch verurfachten
finanziellen Ungleichheiten durch die Anwendung der Steuerfchraube ebnen, fo
geraten wir in ein Fahrwaſſer fogialiftifcher Ideen. Dur) die progreifive
Befteuerung findet ein gewiſſer Ausgleich zwiſchen großen und Heinen Ein-
Iommen obnehin ftatt und werben auch die Kriegägewinne erfaßt, jo daß eine
zeitlich begrenzte neue Stenerauflage auf eine mehr oder weniger willfürlidh
fonftruierte Gruppe von Steuerpflichtigen den geltenden Grundfägen unferes
Steuerwejens widerfpreden würde. Was zugunften eine außerordentlichen
Zuſchlags zur Einfommenfteuer unter Berufung auf den Krieg angeführt wird,
fönnte zu erwägen fein, falls aller Kapitalbefits und alle größeren Einkommen
mit einer Kriegsabgabe belegt werden müßten, ſchafft aber ein gehäffiges Aus-
nahmerecht, wenn nur beftimmte Geſchaͤftsgewinne bejchnitten werben follen.
Die Gewinnempfänger werden es ftetS als eine unverbiente Kränlung empfinden,
daß man fie mit einer Ertranuflage bebentt, weil fie während des Srieges
mebr als ihre Nebenmenſchen verdient haben. Zwar wird uns vorgehalten,
daß der Steuerpflichtige, der fein Einlommen vermehrt, aus Freude bierüber
gern einen befonderen Zufhlag zahlt. Für dieſe Anfiht würden fi aber
nicht viele Zeugen beibringen lafien. Zum mindeften wird jedoch der Befteuerte
verlangen, daß bei feiner Steuereinſchätzung nit das einzelne Erntejahr bes
Krieges als Einfommensmaßftab zugrunde gelegt wird, fondern feine finanziellen
Berbältniffe aus mehreren Jahren zufammengehalten werden. Denn entiprädhe
es etwa der Billigkeit, daß gefchäftliche Unternehmungen, die in den Jahren
vor dem Kriege vielleicht mit ftarfer Unterbilanzg gearbeitet haben, nun aber
durch günftige Umftände vorübergehend einen günftigen Aufihwung nehmen,
ftenerlich fo herangenommen werden, al$ wenn fie in bauernder Üppigkeit ſich
112 Die Befteuerung des Kriegsgewinns — eine Stenerungerecdtigkeit
befunden hätten? In Wirklichkeit kommen fie ſchlechter Davon wie fonft ertrag-
reihe Unternehmungen, bie aber infolge der Kriegswirkungen tm Jahre 1914/15
einen einmaligen Ausfall erleiden. Eine derart ungleihmäßige Bewertung der
Einfommensgrößen ift mit der Steuergeredtigleit ſchwer vereinbar. Mag ber
Krieg mauche finanzwirtſchaftliche Grundſätze zeitweilig durchbrechen, ſofern die
Kriegsnot hierzu verpflichtet, er ſollte aber nicht ohne erſichtliche Dringlichkeit
zu einer Steuerpolitik ab irato verführen.
Mit der Möglichkeit, daß die Steuerſchraube in Bewegung geſetzt wird,
don um die fünfhundert Millionen zur Berzinfung von zehn Milliarden Kriegs-
anleihe zu beichaffen, tft immerhin zu rechnen. Naheliegend ift auch der Plan,
einen Hanptteil der Steuerlajt auf das Einlommen und Vermögen zu legen.
Dagegen ift mwejentliches nicht einzuwenden. Die Einlommenseinfhägung und
die Vermögenszumachsiteuer find auch das natürliche Fundament, auf dem die
Beitenerung der Kriegsgeminne fih würde aufbauen müſſen. Zu vermeiden
ift hingegen eine bejondere Steuer, die die während des Krieges und im Zu
fammenhang mit ihm entftandenen Mehreinlünfte als ein neues Steuerobjelt
zu erfaffen ſucht. Hierzu liegt aus den angeführten Gründen feine Veranlaflung
vor. Der Einwand, dab das Reichsbeſitzſteuergeſetz ſchleunigſt „kriegsbrauchbar“
gemacht werden müßte, weil die gewonnenen Stapitalien bis zur Erhebung
vom 1. April 1917 gar leicht wieder zerronnen fein könnten, ift in unjeren
Augen nicht ftihhaltig. Der Kriegsgewinn, jelbft wenn er noch fo hoch ift,
läßt fich jteuertechnifh nicht mit einiger Sicherheit erfaſſen. Wer für die
Lieferung beftimmter Bedarfsartifel der Heeresverwaltung, nehmen wir an, eine
Million mehr ausgezahlt erhält als nad den marktgängigen Preifen vor dem
Kriege erforderlich, hat deshalb noch lange nicht eine Million verdient. Die
ganze Neihe der Hintermänner, Agenten und Lieferanten beifht aus biejem
Berdienft feinen Anteil und bewirkt, daß der Einheitsprofit in eine unabjehbare
Menge von Kanälen auseinanderfließt. Anderſeits vergegenwärtige man fi
die ungebeuren Umſätze in Nahrungsmitteln zu bohen und höchſten Preifen,
bei denen den Produzenten oder Zwiſchenhändlern Millionen al8 Diehrerträge
gegen früher zugefloffen find. Auch hier handelt es fi um Konjunkturgewinne,
die der vielgerühmten, aber zumeift unhandlichen Steuergeredhtigleit zuliebe,
jteuerlichd gemaßregelt werden müßten. Wie aber das geſchehen foll, wenn man
den feiten Boden der beitehenden Steuerorbnungen nicht preisgeben will, könnte
das Thema einer Preisaufgabe bilden. In jedem Falle würde bie Steuer
ungerechtigleit grell hervortreten.
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— PER:
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—*8
Für die Kriegsgewinnſteuer
Don Juſtizrat Bamberger
Tu ie Sinwendungen, die Profeſſor Wittſchewſty gegen die Kriegs⸗
gemwinnfteuer erhebt, haben Feine überzeugende Kraft. Es ift
nicht verftändlih, weswegen nur die äußerfte Notwendigkeit es
rechtfertigen fol, eine SKriegsftener von den Sapitaliften zu er⸗
erheben. Bon mittellojen Arbeitern und Handwerkern kann man
fie gewiß nicht einfordern. Übrigens handelt es ſich bei der Steuer, für bie
auffteigende Säbe von 5 bi8 20 Prozent empfohlen find, nicht nur um Sapitaliften,
fondern um alle diejenigen, die in den Striegsjahren mehr verdienen, als im
Durchſchnitt der drei vorhergehenden Nechnungsjahre. Liegen diefe Voraus⸗
fegungen vor, fo wären auch Landwirte und Rentner in Höhe des Über-
ichuffes zu der Steuer heranzuziehen, die lehteren beilpielsweife, wenn ihre
Befi an Aktien, etwa von Waffenfabrifen, ihnen ein höheres Einkommen ge-
währen follte, als in Friedenszeilen. In allen diefen Fällen ift Kriegsgewinn
vorhanden. Doch muß dem Gteuerpflidätigen für den einzelnen Fall der
Gegenbemweis offen jtehen. — Im allgemeinen fann man davon ausgeben, daß
jeder nad) der finanziellen Seite bin zufrieden ift, wenn er in biefer Zeit bes
Krieges annähernd fo geftellt ift, wie vordem, und wer zufegen muß, ift zu-
frieden, wenn er etwas zuzujeben bat. Wer hingegen infolge des Krieges ein
höheres Einkommen hat, als vorher, der ift fo begünftigt, daß man ihm nicht
zu nahe tritt, wenn man ihn zu einer Abgabe vom Überfhuß an die Gefamtheit
beranzieht.. Das ift das gute Recht der Gefamtheit, weil aus ihren Mitteln
dem einzelnen fein Gewinn zugeflofien iſt. Es beiteht doch ein jchroffer
Gegenfag zwiſchen der Lage der großen Mehrheit der Bevöllkerung, die für den
Unterhalt ihres Lebens jebt auf beſcheidene Unterjtügungen angewieſen tft, und
‚ber Lage einer Minderheit, die in derſelben Zeit und aus demfelben Anlaß
Gewinne bis in die Hunderttaufende und Millionen einftreiht. Der Wider-
ſpruch verlangt nad) einem Ausgleid. Wenn Wittſchewſty die Erſchließung
diefer Einfommenquelle für das Neid als überflüſſig erachtet, indem er auf
das günftige Ergebnis der beiden Kriegsanleihen binmeift, jo feheint er zu
überjehen, daß der Krieg noch nicht beendet ift und daß das Neid im Wege
der Anleihen doch nur Schulden gemacht bat, 14000 Millionen Dart Schulden,
Grenzbsten II 1915 8
114 für die Kriegsgemwinnfteuer
die jährlid 700 Millionen Mark Zinfen erfordern neben den 180 Millionen
Zinſen, die auf die bisherige Schuld der fünf Milliarden aufzubringen find. So
ganz überflüflig iſt es alfo wohl nicht, allmählich an die Dedung der Schulden
oder doch der Zinfen zu denken, wenn es nicht geboten fein follte, den Ertrag
der Kriegsgewinnſteuer als Grundftod für die Verforgung der Kriegsinvaliden,
der Witwen und Waifen der Gefallenen beifeite zu ftelen. — Daß die
Kriegsgewinne nicht verwerflih und nur ausnahmsmeife auf eine unerlaubte
Ausbeutung von Ausnahmeverhältniffen zurüdzuführen find, ift gern einzu-
räumen. Meinerfeit3 habe ich nie etwas andere behauptet, fondern wieder-
holt betont, außergewöhnlich hohe Aufträge müßten einen außergewöhnlich hoben
Nutzen abwerfen und es fei nicht zuläflig, deswegen von ſchamlos hohen Ge-
mwinnen zu ſprechen. Gleichwohl erſcheint mir eine befondere Beiteuerung dieſer
Gewinne, die der Natur der Sache nad über das Maß des Gewöhnlichen
hinausgehen, wohl gereäötfertigt, weil fie nur durch die fchweren Opfer er-
möglidht werden, die die Allgemeinheit für den Schub des Vaterlandes dar⸗
bringt. Niemals läßt fich die Berechtigung einer Abgabe mathematifch bemeifen.
Es geht aber gegen die allgemeine Empfindung, wenn man bört, daß eine
einzelne Sprengftoffabrit möchentlih 200000 Mark durch Kriegslieferungen ver-
dient; man Tann fi) dabei des Gedankens nicht erwehren, von diefem außer-
ordentlichen Gewinn könne fie mehr abgeben, ald von ihrem regelmäßigen Ver⸗
dienst in Friedenszeiten. Wenn Wittſchewſky glaubt, daS moralifhe, das
Gefühlsmoment aus der Steuerpolitil ausfchalten zu jollen, fo kann ich ihm darin
nichtfolgen. „Die gerechte Beiteuerung muß derTheorie und Praxis das hohe, heilige
Ziel bleiben,“ fo fagt mit Recht einer der herporragendften Lehrer der Finanz
wiſſenſchaft). Was aber gerecht ift, darüber entfcheidet in erfter Linie das
Gefühl. In den Urteilen der Gerichte find es auch nicht die Gründe, die uns
überzeugen, mögen fie noch fo viel Scharfiinn und Geſetzeskenntnis verraten,
fondern die Entſcheidung felbft ift es, wenn fie unferem Rechtsgefühl entipricht,
dem Rechte, das mit uns geboren ti. Ganz dasfelbe gilt auf dem Gebiete
der Befteuerung. Je länger, je mehr kommt in der Finanzmwiflenfchaft die
Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit zur Geltung. Diefem hohen Grund»
fab im Siege, wie im Frieden zum Giege zu verhelfen, das ift das Ziel,
welches die Anhänger der Sriegsgemwinnfteuer verfolgen. Sie find weit davon
entfernt, plitterrichtend die Auferlegung einer Strafe zu betreiben, fie laſſen
fih auch nicht von einem Gefühl der Entrüftung leiten, für welches die Be-
gründung in der Regel fehlt, fondern fie ftreben nach einem gerechten Ausgleich
eine8 aus natürliden Gründen entftandenen Gegenſatzes und fie find Tühn
genug, zu glauben, daß eine Löfung, wie die vorgeichlagene, vielen der
Beteiligten felbft ein mwilllommenes Mittel fein wird, einen begreiflicden inneren
*) Franz Meifel im Jahrbuch für Gefeggebung, Verwaltung und Volkswirtſchaft von
Guſtav Schmoller. Jahrgang 85, Heft 1, Seite 868. Vergleiche auch meine Schrift:
„Finanzvorſchläge.“ Carl Heymanns Verlag, Berlin. 1915.
$tanfreihs Werben um Belgien 115.
— —
Zwiefpalt der AIntereffen zu einem für alle Teile befriedigenden Abſchluß zu
Bringen. — Im Auslande madt man fih weniger Schwierigkeiten mit ber
Regelung folder Fragen. Der aus fünf Paragraphen beftehende däniſche
Gefegentwurf über die Beſteuerung der Kriegsgemwinne, der am 24. Yebruar 1915
dem Folleting vorgelegt ift, enthält in feinen turzen „Bemerkungen zum Entwurf“
als Begründung nur die folgenden beiden Sätze:
„Es wird beabfichtigt, zur Vermehrung der Staatseinnahmen von ben-
jenigen Bürgern eine befondere Steuer zu erheben, die infolge des Weltkrieges
erhöhte Einnahmen erlangt haben. Man wird e8 nicht unbillig finden, in
einer Zeit, in der fo viele unter ſchwerem und fteigendem wirtfdhaftliden Druck
zu leiden haben, diejenigen, die unerwartet zu einer Erhöhung ihres Einkommens
gelangt find, ftärker zu den Steuern heranzuziehen, damit der Staat imftande
bleibt, feinen großen Verpflichtungen nachzulommen.“
Sranfreichs Werben um Belgien
Don Dr. Srig Roepke
Fie Überrennung des belgiſchen Spießgefellen bildete und bildet
m noch den Mittelpunft der feindlichen Hehe in neutralen Rändern.
Die Fabel von dem unſchuldigen belgiſchen Lamm, das von dem
brutalen, beutegierigen deutſchen Wolf zerriffen wird, war die
vergiftete Waffe des Dreiverbandes, mit der man uns moralifc
toımaden wollte. Daß diefe beuchlerifhen Verleumdungen Erfolg hatten, ver-
danfen die Verbündeten zum Teil dem befonderen GSeelenzuftande mancher
Reutralen; dann aber auch ihrer frechen Geſchicklichkeit, mit der fie es verftehen,
die Dinge auf den Kopf zu ftellen und den Leuten weiszumadhen, Das wäre
der richtige Standpunkt.
Die enge diplomatifhe und militärifhe Fühlung Belgiens mit England
und Frankreich ift durch die amtliche Veröffentlichung der geheimen Schriftftüde
deuticherjeit8 einwandfrei feftgeftellt worden. Die beiden Mächte hatten Belgien
vollftändig in ihrer Gewalt, als der Krieg ausbrach. Das franzöſiſche Volk ift
auch manchmal aufridhtig genug, den belgiſchen Widerftand als ein Opfer zu
feinen Gunften anzufehen. Das belgifhe Volt war das Bollwerk, an dem die
deutfhen Angriffe gegen Frankreich und England zerbrechen follten.
Es wird unferen Feinden Geld und Arbeit genug gekoſtet haben, um eine
Derartig ftarfe und einflußreiche deutfchfeindliche Partei in dem neutralen Belgien
zu ſchaffen. Die bisher veröffentlichten Schriftftüde geben uns nicht viel mehr
gr
116 Stanfreihs Werben um Belgien
als die bereit vollzogenen Tatſachen. Über die Mittel und das Verfahren
der geheimen biplomatifhen und agitatorifchen Tätigkeit wird uns Hoffentlich
die Zulunft noch aufllären. Sie wurde aber noch von einer halboffiziellen
und fichtbaren unterjtüßt, die unter dem Schube der belgiihen Neutralität den
Raffenftreit zwiſchen Wallonen und Flamen für ihre Zwede ausnubte. Frankreich
fand dabei eine ausgezeichnete Hilfe in einem Mittel, das der deutſchen
Beeinfluffung fo gut wie ganz entgehen mußte, in der gemeinfamen Sprade,
die noch dazu eine der wichtigften und gangbarften Weltſprachen ift.
Seitdem Frankreich im Jahre 1815 Flandern und Brabant verloren hatte,
hörte e8 nicht auf, Belgien als politiſches oder geiftiges Stolonifationsgebiet zu
betrachten. Die Erinnerung an das ruhmreiche Kaijertum war noch zu ftark in
ihm lebendig. Anderſeits war e8 aud) hier in feiner völfifchen Überhebung
von der alleinfeligmadhenden Sendung überzeugt, die das Franzoſentum in der
Melt zu erfüllen habe. In feiner naiven Unkenntnis und Mißachtung fremder
Eigenheiten und Bebürfniffe bat es immer verfudt, fein deal den anderen
aufzuhalfen. Zuerft unbewußt und ohne praktiſche Nebenabſichten, nur getrieben
von dem geiftigen Hochmutsgefühl der nach Belgien geflücdhteten Franzofen,
ftellte fich diefe Ausbreitung franzöfifchen Geiftes allmählich in den Dienft der
politiiden Propaganda, bis fie in den letzten Jahren der dritten Republit als
balboffizielle Stimmungsmade mit der ftillen diplomatiſchen Arbeit Hand in
Hand ging.
Bot das Königreich der Niederlande noch wenig geeigneten Boden für eine
franzöfifche Erpanfion, fo war das im Jahre 1830 gegründete Königreich Belgien
infolge des Ausſcheidens wichtiger und tätiger germaniſcher Beitandteile dem
Bordringen des Romanentums weit günftiger. Die Entftehung der erften geifiig
bedeutenden und einflußreichen franzöfifchen Kolonie im neuen Königreich wurde durch
den Staatsftreih vom Jahre 1851 veranlaßt, als die führenden Anhänger der
Nepublif den Boden Frankreichs verlafien mußten. Die meiften gingen nad)
Belgien: Victor Hugo, Deschanel, Challemel-Lacour, Montjau, Bancel, Alerander
Dumas. Ihre Haupttätigleit verlegten fie nach Brüffel und Antwerpen; dort
bielten fie entweder im engen Kreiſe, wie im Cercle artistique, oder in breiter
Dffentlichfeit hauptſächlich Vorleſungen über franzöſiſche Literaturgeſchichte oder
freigeiſtige Philoſophie. Ihr Einfluß war trotz des ziemlich geringen literariſchen
Intereſſes der Belgier fo groß, daß Baudelaire ſpäter das Urteil fällte: „Gott⸗
lofigfeit und Neligionsfpötterei ftehen hoch in Ehren, dank der Lehre der
franzöfiihen Emigranten” (Sn „La Belgique Vraie“).
Die bewußte Propaganda mit politifhem Hintergrund entjteht ungefähr
um das Jahr 1900. Sie hat eine ganze Reihe von Sprad- und Rultur-
vereinen hervorgerufen, Reden, Aufführungen, Zeitfchriften, Kongreſſe, Banlette,
Ausftelungen (fo 3. B. in Roubair 1911 und Valenciennes, beide dicht an der
belgijhen Grenze), Verbrüderungsfejte ufw. veranlagt und fi) langſam in das
Gehirn der Belgier hineingebohrt, bis nichts anderes mehr Platz batte.
Sranfreihs Werben um Belgien 117
In diefen legten vierzehn Jahren find unter anderen folgende bedeutendere
Vereine zum Zwecke der Verbreitung franzöſiſcher Sprade und franzöfiichen
Einflufjes gegründet worden:
Alliance Frangaise, in mehreren Städten. Das Mutterinititut in Paris
hält Prüfungen ab und verleiht Zeugniffe, ift alfo eine ſtaatlich anerfannte
Anftalt. 1. Kongreß 1905 in Lüttih; 2. Kongreß 1909 in Arel; 3. Kongreß
1913 in Gent.
Amities Frangaises, gegründet 1907 in Lũttich, Sit ebenfalls in mehreren
Städten. Rah den Sabungen wollen fie „in einer mächtigen und tätigen
(agissante) Geſellſchaft alle diejenigen vereinigen, welcher Partei oder welchem
Lande fie auch angehören, bie in der franzöfiichen Kultur eine gemeinfame Lebens⸗
form fehen“ (Marches de l’Est 1910/11, Seite 75). Die ftändige Geſchäftsftelle
befindet fi in Paris und wird von drei Franzoſen geleitet.
Cercles des Annales. Die Parifer Annales, die Zeitfchrift des jentimentalen
Chauvinismus, gründete an mehreren Drten geſchloſſene Klubs; fie hatten mit
den vornehmeren SKreifen Fühlung.
Federation internationale pour l’extension et la culture de la langue
frangaise, gegründet 1905 in Lüttih. Jährlich ein Kongreß. Der fiebente
fand 1913 in Gent ftatt. Chrenpräfident ift der franzöſiſche Alademiler Henri
de Regnier.
Les Amis de la langue frangaise. Sig Löwen.
Diefe Vereine vermittelten allen Städten Belgiens, in denen auch nur
ein geringer Bruchteil der Bevölkerung franzöfifeh ſpricht, wie zum Beifpiel
in Gent und Arel, alle Regungen des Parifer Geiſtes. Daß diefe Vereinigungen
faft fämtli einen deutſchfeindlichen Charakter trugen, ift bei den Zielen ber
ganzen gegen den germaniſchen Einfluß gerichteten Beitrebung jelbftverftändlich.
Sehr gern wird deshalb über Eljah-Lothringen geiprodhen; jo von Georges
Ducrocq, dem Herausgeber der treibenden Pariſer Zeitfchrift „Les Marches
de I’Est“, und von Ruyſſen, Profeffor an der Univerfität Bordeaux. Gie
bezweden damit, auch den Belgiern die franzöfiihen Scheuflappen anzulegen
und ihnen die Anſchauung beizubringen, daß es eine elfaß-lothringiihe Frage
gibt, die mit internationaler Hilfe gelöft werben muß.
In Brüffel hatten fi im Jahre 1913 die Vereine [don derartig vermehrt,
daß Willmotte fie gar nicht mehr aufzählen kann. Derſelbe Lütticher Hochſchul⸗
lehrer gibt auch einen offenberzigen Bericht über die Tätigkeit und Ziele der
Bereine (Revue de Belgique, 1913, Seite 1044): Eine einzige Vereinigung
bat innerhalb fieben Jahre fechzig franzöſiſche Redner eingeladen. Es handelt
fi) meiftens um ftreng gefchloffene Gejellihaften (jalousement fermees). Die
Zaienprebigten der franzöfifhden Redner feien nicht ohne Einfluß auf bie
Gefinnung der Bevölkerung geblieben. Das Publitum babe ſich gewöhnt, von
den „Propagandiften Überzeugungen zu verlangen“. Die Tätigleit der einen fei
bewußt und programmmäßig feitgelegt; die anderen wirkten auf Ummwegen und
118 Stanfreihs Werben um Belgien
faft unfreiwillig. Aber alle verherrlichten täglih die franzöfſiſche Kultur
Selbft folche Vereine, deren Zwed die Beichäftigung mit der belgiſchen National-
literatur wäre, hätten dabei ihre feſt umgrenzte Aufgabe. Sie feien bie
Verlörperung einer furdhtbaren bee. Sie hätten ihre Yahne und “Parole,
und morgen Fönnten fie in den Kampf ziehen. „Ihr Ziel tft fein anderes als
den DVertrag von 1830 zu zerreißen, das nationale Xeben zu fpalten, das
Parlament machtlos zu maden und den König zu zwingen, zwiſchen feinen
Untertanen zu wählen.” Alſo der König zwiſchen zwei Stühlen. Das beißt,
er dürfte fi nur auf ben feen, der ihm angeboten würde. Und die Wallonen,
die das Entitehen der Republik miterlebt und ihre Ideen mitempfunden hatten,
die feit fechzig Jahren von freigeiftigen und radilalen Franzoſen bearbeitet
werden, deren Sauptorgan, die Independance beige, einen ausgefprocdhen
antiflerifalen Charakter trägt, follten fi dann nicht zu Frankreich neigen?
Deutlicher Tann man das politiſche Ziel der Alliance Francaise und ihrer
Genoſſen nicht zum Ausdrud bringen.
Die franzöfiiden Behörden haben oft genug gezeigt, welche amtliche Teil-
nahme fie für die Beitrebungen der Vereine empfanden. Den franzöfifchen
Geſandtſchaften und Konfulaten wurde Geld zugeftellt für alle, die im franzöfifchen
Anterefie arbeiteten. An Drden und Auszeichnungen wurde nicht geſpart. So
berichtet das flämifche Blatt „Unze Stam“: So maden die Französler alles
zugunften Frankreichs, feiner Sprade, Ideen, Kultur und Sitte. Frankreich
ernennt fie, um fie für diefe Zwecke zu belohnen, zu officiers d’Acad&mie
oder officiers d’instruction publique.. Im Sonderzuge wurden die Mit-
glieder der Amities Frangaises nad Balenciennes gefahren, wo fie der Unter-
präfelt, alfo ein Staatsbeamter, feitlid empfing, bemirtete und beweihräucherte
(Marches de I’Est, 1912/13, Seite 775). Auf den Kongreſſen der Alliance
Frangaise bat der franzöfiide Gefandte Gerard mehrmals die erfte Rolle
geipielt.. Zum Weihnachtsfeſt derjelben Bereinigung in Luxemburg erſchien
fogar General d’Amade, der befannte Befieger Maroflos, damals Befehlshaber
des 6. Armeelorps, nahdem man einige Tage vorher mit franzöfifchen Luſt⸗
ipielen und franzöfifder Muſik Stimmung gemadt hatte. „Wie gewöhnlich
verſchönten zahlreiche Dffiziere den Ball, die aus den benachbarten Grenzgarnifonen
herbeigefommen waren“ (Marches de I’Est, 1912/13, Seite 651). Ja, ber
Bürgermeifter von Lyon, Herriot, trieb die Dreijtigkeit foweit, auf einer Tagung
der erwähnten Fédération internationale öffentlich für den franzöfifchen Charakter
der Univerfität Gent einzutreten, die von den Flamen beanfprudt wurde. Wenn
der Bürgermeifter ber drittgrößten Stadt Frankreichs es wagt, in einer fo wichfigen
innerpolitiihen Frage das belgifche Volt zu beeinfluffen, dann handelt es fidh
natürlich nicht um eine Kathederrede von rein ſprachlicher oder Fultureller Be-
deutung, jondern um die offenbare Ausnugung der belgifchen Neutralität zu
politiihen Zmeden. Wenn dann der tölpifhe Belgier allzu Iaut erfennen
läßt, daß er die franzöfifhen Abfichten verjtanden bat, und die Forderung
$ranfreihs Werben um Belgien 119
aufftelt, die Alliance Frangaise folle in die belgifhen Wahlen eingreifen,
Frankreich folle alle franzöfifchen Blätter in zweiſprachigen Ländern fubventionieren
(Alldeutihe Blätter, 1909, Seite 13), fo ſpricht er nur offen aus, was der
feinere und diplomatifch gefchichtere Franzoſe gedacht und im ftillen getan bat.
Die ſchönſte Gelegenheit, das franzöfifhe Banner zu entfalten, boten die
beiden belgifhen Weltausjtellungen von Lüttih und Gent. Hier wurde die Auf-
forderung zum allgemeinen friedlichen Wettbewerb von der franzöfilhen Regierung.
und allen Kampforganifationen ausgiebig benugt, um Frankreich zu verherrlichen
die belgiſche Bevölferung zu blenden und zu überreden. Alle Vereine bielten
während der Ausitellung Kongrefje ab und veranftalteten Vorträge. In Lüttich
trieb e8 die Alliance Frangaise fo arg, daß die belgiiche Negierung ſich bei
ihrer Tagung nicht vertreten ließ. Die Mitglieder fangen die Marſeillaiſe auf
den Straßen und in den Kneipen und liefen mit einer Trifolorelofarde herum
(Ald. Bl. 1909, ©. 13.) Auf der Genter Weltausftelung überragte die Be-
teiligung Frankreichs die der anderen fremden Staaten fo ftarl, daß feine
Gebäude für fih allein einen größeren Flächenraum bededten als die der
anderen auswärtigen Länder zufammengenommen. Die Beteiligung Frankreichs
war auch im Gegenfaß zu der der übrigen Staaten eine offizielle. Willmotte
beridhtet (Revue de Belgique, a. a. O.), daß „Frankreich Hundert Redner
herũbergeſchickt hatte, die alle die Wunder der franzöſiſchen Austellung unter
fämtlihen Geſichtspunkten erläuterten”. Daneben überftürzten ſich faft die
Kongreffe der verjchiedenen Dereine, die fi zu dieſem Zwecke wieder in
Geltionen geteilt hatten und in deren Mitte Männer wie Doumic, Ribot,
Nichepin, Donnay, Capus, Victor Margueritte den geiftigen Anfchluß Belgiens
an Frankreich beforgen follten. Zum Yebruar wurden die Genter Stabtver-
ordneten von der Stadt Paris eingeladen. Die Gegeneinladung erfolgte im
April. In diefem Monat wurde die Ausftellung eröffnet, was franzöfifchen
Miniftern und anderen Vertretern der Republik eine willlommene Gelegenheit
bot, nah Gent zu fahren und die Belgier der franzöfiihen Freundſchaft zu
verfidern. Beim Gröffnungsbanlett, am 26. April, ergriff außer belgifchen
Miniftern, Bürgermeiftern ufw. von ausländifchen Vertretern nur der franzöfifche
Generalkommiſſar Marraud das Wort. Bald darauf befuchte der franzöfifche
Unterftaatsfelretär der ſchönen Künfte, Leon Berard, offiziell die Kunftaus-
ftellung. Bei Eröffnung der franzöfifchen Abteilung fand ein offizielles Bankett
mit belgifden Gäſten unter Vorfitz des Generallommiffars ſtatt. ALS Die
franzöſiſche Kolonialausſtellung eröffnet wurde, feterte man ein neues Felt, an
welchem der franzöſiſche Kolonialminiſter und franzöfiihe Abgeordnete teil
nahmen. Wer fi) die Mühe nimmt, die Independance beige aus jener Zeit
burchzublättern, der kann fi von dem Umfang der franzöfifhen Werbearbeit
einen Begriff mahen. Daß es ihr nicht nur um die Gewinnung der idealen
Anhänglichleit Belgiens zu:’tun war, hat Willmotte offen zugegeben. Er bat
auch angedeutet, daß fie ein ganz konkretes politifches Ziel erreihen mollte:
120 Ein Blid in die Wo&vre, das Porland von Coul und Derdun
die Spaltung Belgiens und die friedliche Decupierung des franzöſiſch Iprechenden
Teils durch die Republik. Die Durchdringung mit franzöſiſchem Geiſte wurde
um fo energifcher und eindringlicher ins Werk gefegt, je deutlicher es in ben
legten Jahren wurde, daß Deutichland eine wirtſchaftliche Notwendigleit für
Belgien war. Man wollte, daß die Wallonen den Blid ſtarr auf Frankreich
hefteten und in ihm dem unentbehrlichen, ftarfen Freund ſahen. Die gemeinfame
Sprade bildete dabei, wie gejagt, ein wichtiges Mittel zur Schaffung bes
nötigen Gemeinfamleitsgefühls; fie erleichterte und verbedte auch die ſtarke
Mitwirkung ber franzöfifhen Regierung. Und wie der, Spradenitreit
ſchließlich in einen politiihen Kampf ausartete, jo war die ganze Vereinstätigfeit
nur die Vorbereitung und Verfchleierung des politiſchen Einverjtändnifjes, das
ür die Franzoſen befonders wichtig war, weil Belgien nad) der vollitändigen
Durchführung der Heeresreform eine Militärmacht von nicht zu unterfdägender
Bedeutung hätte werden können.
Daß diefes Bündnis uns nicht zu gefährlicd wurde, dafür haben Heer
und Führer geforgt. Aber wir werden genug zu tun baben, um all das
wieder zu vernichten, was die Franzofen unter Mißbrauch der Neutralität an
Deutſchenhaß und Verblendung in Belgien gefät haben, und um die germanijch-
romaniſche Kulturgrenze aus der gefährlihen Nähe wieder nad Weiten
bin zu rüden.
Ein Bli in die Woepre, das Dorland von
Toul und Derdun
Don Prof. Dr. Reihlen
enn beutzutage von Toul und Verdun bie Rede ift, jo find
untrennbar damit verbunden die Namen Argonnen und Moore.
So geläufig bei uns feit jeher der Name des Argonnerwalbes
RN iſt — vielfach allerdings nur der Name —, fo fremd war wohl
a pisher für die meiſten Deutfchen nad) Name wie Lage bie
Woëvre, da8 Borland von Toul und Verdun, oder genauer das Borland der
Côte Lorraine, Hinter deren Abdadhungen die großen Maasfeſtungen Tiegen.
Und doch haben viele deutfche Touriften die Woevre gejehen, all die zahl⸗
reihen Befucher der „Schlachtfelder“ bet Metz haben ihren Rand betreten. Wer
bei fichtigem Wetter von dem Fleinen Hügel bei Mars-la-tour, der das
befannte franzöfifde Schlachtendenkmal trägt, hinausgeſchaut bat, ber bat den
größten Teil der Korn- und Schlachtenebene der Woëvre überblidt. Schaut
man von jenem Denkmal nad) Norden, fo fließt die breite Ebene erft mit
Ein Blick in die Wo&ore, das Dorland von Toul und Derdun 121
dem Horizont ab, im Süden verliert fie fi unbeftimmt in dem hügeligen
Gelände zwiſchen Toul und Nancy. Scharf abgegrenzt dagegen ift die Wodore
nah Weiten, gegen Berdun— Paris zu. Da ftarrt wie eine Mauer bie
Eöte Lorraine, ein natürlicher Riefenwall für die Sperrfortskette Toul — Verdun.
Gegen Deutfchland bildet die Grenze der Woëvre die Hügelfette, welche der
Mofel vorgelagert if. Wenn man die etwa 60 Kilometer lange und
15 bis 25 Kilometer breite, faft topfebene Senle zwiſchen den beiden Höhen-
zügen ins Auge faßt, fo wird man dem Geographen Frankreichs, Joanne, bei⸗
pflidten, wenn er die Woeëvre als eine eine natürliche Provinz bezeichnet,
wie wir etwa die Wetterau. Was ihren, für unfer Ohr fo feltfam Flingenden
Namen anbelangt, fo gibt Joanne nur an, daß er in der Meromwinger Zeit
al3 pagus Vabrensis auftritt; eine Ableitung oder Erllärung des Wortes
verſucht er nicht; vorausfichtlich ift e8 uralt und keltiſchen Urſprungs.
Folgt man der Hauptverfehrsader der Landichaft, ver Straße und Eifen-
bahn, die von Meb ausgehend über Ehambley, Mars⸗la⸗tour nad dem großen
Knotenpunkt Bonflans— Jarny und weiterhin nad) Eteint zieht, jo bat man
immer dasjelbe Bild vor fi, eine Ebene, in der man kaum da und dort
einen Waflerlauf leicht eingefchnitten fieht und deren Eintönigleit nur durch die
Steinhaufen ihrer Dörfer unterbrochen if. Wenn ich fage „Steinbaufen”, fo
ſoll das nicht etwa beißen, daß die ziemlich fpärlihen Dörfer alle zu-
ſammengeſchoſſen wären — obgleich einzelne ziemlich gelitten haben —, fondern
id mödte nur den Eindrud wiedergeben, den diefe aus Brudjfteinen aus—⸗
geführten Häufer machen, wenn fie nicht verpußt find oder wenn der Verpuß,
wie e3 meiftens der Fall iſt, den ſchmutzigen Lolalton angenommen hat. Einen braud)-
baren Hauftein Liefert die WoEore nirgends. Die meiften Häufer haben an ber
Straßenfeite einen kunſtvoll regelmäßig gezogenen Spalierobjtbaum, aber bie
Dbftwälder, die ſuddeutſche Dörfer fo freundlich einhüllen, find nur andeutungs-
weife vorhanden; dadurch wird der kahle Eindrud noch geiteigert. Die Dörfer
find Straßendörfer, die in der Hauptſache nur aus einer Häuferzeile längs der
durchziehenden Landitraße beftehen. Manche ſehr große Scheunen laſſen auf
Wohlhabenheit einzelner Bauern fchließen, im ganzen maden die Dörfer aber
einen ziemlich ärmlichen Eindrud. Die Kirchen, deren Bau und Ausftattung
immer einen gewiſſen Gradmeſſer für den Wohlftand einer Gegend abgeben,
betätigen das Geſagte. Die Einwohnerzahl der Woẽevre ift auch ſchon lange
im Rüdgang. Etwas wohlhabender fehen die an der Bahn liegenden Drt-
haften aus, zum Beiſpiel Mars-Ia-Zour, das aber im mefentliden auch nur
aus einer fehr breiten, fchlecht gebaltenen Straße beſteht. Die Häufer find
obne Zwiſchenräume aneinander gebaut, ſehr gleichartig und ihre ziemlich
fladen, vielfady gleihhohen Dächer, veritärken noch das Gleihmäßig-Langweilige
in dem Bild dieſes balbitädtifchen Dorfes. Immerhin haben die alten Teile
ber an der großen Straße liegenden Ortſchaften da und dort etwas Eigenartiges
und mandmal macht ein altes Herrenhaus mit mauerumfchloffenem Park oder
122 Ein Bid in die Wokvre, das Dorland von Toul und Derdun
eine Kirche das Ganze etwas anſehnlicher. Eine irgendwie baulich bervor-
tragende Kirche habe ich indeflen nirgends geſehen, es fei denn bie beinahe
als franzöfifhe Ruhmeshalle ausgeftattete, neue Kirche in Mars - la» Tour.
Hin und wieder erzählt ein vermwittertes Haus mit ftattlichem Hoftor und
gepflaftertem Hof von befjeren Seiten, ober ein mit hoher Steinmauer
eingefriedigter Garten mit gefchnittenen Lauben und buchsbaumeingefaßten
Beeten erinnert an franzöfiide Gartenkunſt. Aber auch da, wo ein Haus
etwa8 weniger Tahl ausfieht und Mohnlichkeit ahnen läßt, glänzen Die
„Tanitären Einrichtungen“ durch Abweſenheit ober äußerft rubimentäre Be⸗
ſchaffenheit. Ich habe mich deshalb nicht enthalten können, die von unferen
Truppen errichteten diesbezüglichen Einrichtungen, die fich in ihrer Ausgeftaltung
nad militäriſchen Rangſtufen unterfeheiden, als Kulturdenkmäler auf die Platte
zu bannen. Ein weiteres Zeichen der Anweſenheit deutfcher Truppen find aud)
riefige, wohlgepflegte Dungjftätten und —. Auf jenen tummeln fi) gadernde
Hühnervölfer, ein Beweis, daß nicht alles Eßbare den plündernden Barbaren
zum Opfer gefallen ift.
Biel malerifcher als die Dörfer find die „Fermes“. Es find dies, wie
ber Name fagt, geichloffene, oft recht anfehnliche Höfe, für deren Anlage mit
Borliebe eine Kleine Bodenmwelle gewählt tft; fie ähneln mit ihren faft fenfter-
Iofen Außenwänden den alten Räuberneftern in den Gebirgen Italiens, bergen
im Innern aber manchmal ftattliche Räume und guten Hausrat.
Die Eintönigleit der Woevre⸗Landſchaft ift bedingt durch die Gleich-
mäßigfeit der geologifchen Unterlage. Sie befteht aus tonig-falligen Ausbildungen
bes braunen Jura, die wenig wafjerdurdjläffig find und eine ſchwer zu bearbeitende
Aderfrume entftehen laſſen. Wo nicht für genügende Entwäflerung gejorgt ift
oder geforgt werden kann — und dies ift auf ziemlich großen Flächen der
Fall — findet man naffe Wiefen, die in wirklich fumpfiges Gelände übergeben
können. Da und dort find auch Heine Waldſtückchen, die aber in der eigentlichen
Moore zu Hein find, um das Landfchaftsbild zu beeinfluffen. Im Frühling und
Sommer mag das gemaltige Korn: und Wiefenmeer der Woëvre mit dem
weiten Himmelsdom darüber etwas Herrliches, Großartiges haben, aber fo wie
ih die Gegend angetroffen habe, in einem lauen, regnerifchen Dezember, der
den Boden allenthalben mit Waffer durchtränkt batte, jahen die abgemauften
Telder, in denen Roß und Mann beinahe fteden blieben, die ſchnurgeraden
Straßen mit ihrem unregelmäßigen Beſatz ſchlecht gewachſener oder veritümmelter
Maldbäume und die Meinen Waldftüde recht trübfelig aus. Diefe Waldfetzen
erinnern ganz an die VBeichreibung der Argonnen: alles voll Unterholz und
darunter viel Dorngeiträpp, Arten, die auch bei uns für Hände und Stleider
nicht harmlos find, die dort aber eine ganz ungeahnte Bösartigleit, jo etwas
Verbiſſenes, Franktireurartiges entwidelt haben.
Wenn man über die Woëẽvre binmwegfchaut, fo findet man, wie nad) dem
Gefchilderten nicht anders möglich, nirgends eine rechte Landmarle, auf der
Ein Blick in die Wo&ore, das Dorland von Conl und Derdun 123
da8 Auge ausruhen und ſich einftellen könnte. Um fo ficherer zieht es ben
Blid immer wieder hinauf zu dem gleichmäßigen Kamm des mächtigen Berg-
walls der Côte Lorraine, der das Bild abſchließt. Wir müſſen immer wieder
hinũberſchauen, aud wenn uns nicht ein Flieger, der hoch über den Bergen
kreift, oder die Schrapnellmölfchen, die ihm folgen, in ihren Bann ziehen.
Das Fehlen von Landmarken verhindert in auffälliger Weiſe ein richtiges
ESchätzen der Entfernungen, und man ift erftaunt, wenn man ſich dem Fuß
der von weitem jo ſtattlichen DBerglette nähert, daß dieſe immer niebriger
wird und auf eine Erhebung von 200 Metern über die Ebene zufammenfchrumpft,
deren Meereshöhe felbft ebenfalls 200 Meter beträgt. Dafür fieht man dann,
daß die Cöte nicht jo ungegliedert ift, wie es von weitem fcheint; man erfennt
da und bort eine Bergnafe und findet die vielen Runſen heraus, durch die die
zahlreichen Bächlein berunterriefeln, welche bei „Sonflans“ zufammenfommen,
um mit der Drne der Mofel zuguftrömen.
Während wir den Oſtabhang der Cöte betrachten, ſchweifen unfere Ge-
danken unmwillfürlich hinüber über die Höhe nah Gt. Mihiel und Camp des
Romains, wo die tapferen Bayern ftehen und meiter nad Verdun. Ein
franzöfifcher Kriegsichriftfteller ſchrieb, offenbar unter dem frifchen Eindruck von
Mars-la-tour und St. Privat, daß die Moore der Schauplatz ſchrecklicher
fünftiger Zufammenftöße fein werde. Diefer Traum von großen Feldſchlachten
mit Reiterlämpfen in ber allerdings dazu wie geſchaffenen Ebene ift bis jet nicht in
Erfüllung gegangen und wird auch ſchwerlich in Erfüllung geben; dagegen ift
die Woẽëvre mit ihrer Hauptitraße Met, MarS-lastour, Conflans, Etaint
widtig geworden als Etappengebiet, und — vielleiht wird man nach dem
Feldzug von ihr hören.
Es ift nicht allgemein belannt, daß im Frankfurter Frieden bei der Ab⸗
grenzung bes „Glacis von Met“ nicht bloß militäriſche Geſichtspunkte maß⸗
gebend waren, fondern auch wirtichaftlihe. Auf den Nat eines Geologen war
beſchloſſen, auch die der Feftung in weiterer Entfernung vorgelagerten Erzlager-
ftätten in deutſchen Beſitz zu bringen, obgleich deren Wert damals noch nicht
voll geſchätzt werden konnte. Das lothringiſche Eifenerz, die „Minette“, ein
bis zu 49 Prozent elfenhaltiges Geftein, enthält auch viel Phojphor, und das
„Zhomasverfahren“, welches die Verwertung diefer mit Phoſphor „verunreinigten“
Erze erft recht ermöglicht, lag damals no in den Windeln. Mittlerweile
bat fi berausgeftellt, daß das Gebiet der Minette, des juraffiihen Eifen-
fandfteins, unterirdifh weit in das damals bei Franfreich belafjene Lothringen
binübergreift. In der Gegend von Conflans ift 3. B. bei Droitaumont ein
praͤchtiges Minettewerk, da8 der Firma Schneider in Ereuzot gehört. Port
fördert ſchon lange ein preußifcher Ingenieur mit den vorgefundenen ein-
beimifhen Arbeitern und einem franzöfifhen Ingenieur das Erz zu Tage, das
für franzöfiihe Kanonen und Panzerplatten beftimmt war. Auch deutſche
Sroßinduftrielle haben dort Belt. Diefe großartigen Werle mit ihren hoben
124 Ein Blid in die Woëvre, das Dorland von Toul und Derdun
Sördertürmen und mächtigen Waflertürmen und mit den großen Arbeiter⸗
anfiedlungen haben in den lebten Jahrzehnten einen ganz neuen Zug in das
Bild der aderbauenden Woeore gebracht, und auch in das der Bevölkerung.
Die einheimifche Bevölkerung ift von Mittelgröße oder auch etwas darunter.
Die ziemlich Träftig ausgebildeten Dber- und Unterkieferknochen, altgallifche
Merkmale nad) Joanne, verleihen den Gefichtern etwas Hartes, das namentlich
bei der Weiblichkeit, wenn fie nicht mehr ganz jugendlich ift, unangenehm
auffält. Da diefe offenbar feit Urzeiten hier angefeffene Raſſe wenig kinderreich
it und dazu den fargen Boden der Heimat in Scharen den Rüden gewandt
bat, find es jebt vielfach taliener, die in den mit, Zirkel und Lineal her⸗
geftellten Arbeiter- Kolonien haufen. Die italienifchen Arbeiter felbft waren
natürlich während des Krieges nicht mehr anzutreffen, aber ihre „Cafes“, die
von italieniſchen Fabrikgegenden ber befannten Lotterfallen mit den verlodenden
Namen zeugen von dem neuen Bevöllerungsbeitandteil der Woſsvre. Das
Etappenkommando bat ſich Übrigens veranlaßt gejehen, dieſe Wirtichaften zu
fließen. Das große Schneider'ſche Wert bei Gonflans dient indeflen dem
Reich gegenwärtig nicht bloß durch feine eigentliche Beitimmung, fondern aud)
durch feine wirklich gediegene große Braufebadanlage: das Werk heikt in der
Umgebung bes großen Etappenortes Conflans nur „das Bad” und immer
wieder kann man Zügen von Soldaten begegnen, die aus ber ganzen Gegend
mit ihren Handtüdern unter dem Arm der gaftlicden Stätte zuftreben. Um
die Gunjt der Verhältniffe ganz auszunüten, bat fi das Wert auch noch als
Klinik für wegemüde Automobile aufgetan.
Was aber im Winter 1914/15 der fonft fo Stillen, weltabgelegenen Wo&vre
ein befonderes Gepräge aufgebrückt bat, ift der Riefenverlehr auf ihren Landftraßen,
die dem guten Ruf der franzöfifden Landftraße Ehre machen. Ber cdhauflierte
mittlere Zeil der „Straßen erfter Ordnung“ ift in einer für zwei Wagen
reichlid genügenden Breite troß der großen Inanſpruchnahme im Dezember
noch in gutem Stand gewefen; zu beiden Seiten aber befand fi in Breite
von etwa einem Meter, offenbar an Stelle des früheren Gehmeges, eine
Schlammgaffe, in der ausweichende Fuhrwerle tief einſanken. Unausgeſetzt be-
gegnen fi auf diefen Verkehrsadern lange Wagenreihen mit Nahrungsmitteln,
Stroh, Schügengrabenöfen, Feldpoft, Munition und andern nötigen und an⸗
genehmen Dingen. Zwiſchen den mühſam ausweichenden Kolonnen raſen
Automobile hindurch, die in einem Augenblid den Wanderer in die Lokalfarbe
der Wodore Heiden, wenn er e8 wagt, ſich zwiſchen all dem Fuhrwerk durchzu⸗
arbeiten, um da und dort einen Blid zu erhaſchen, wie ihn eben nur der
Fußwanderer auffangen kann.
— —FVE NR
2 En | 3
> 2
Abichied
(Im Bollston)
Morgen geht's hinaus ins Feld!
Mußt dic) drob nicht grämen!
Mußt, wie ich, als tapf’rer Held
Deinen Schmerz bezähmen!
Bit du nicht von deutfchem Blut,
Deutfher Art und deutfhem Mut?
Halt dich gut,
Mädel! Sollft dich fchämen!
Slaubit, ich könnte, dummes Ding,
Jemals dein vergefien?
Nie bat jo der gold’ne Ring
Feſt wie heut gefefjen !
Do bat alles feine Reih':
Eh’ wir Hochzeit machen, fet
Deuiſchland frei!
Merk's und freu’ dich deifen!
Fürchteft du der Feinde Droh'n,
Die uns rings umlauern?
Hab’ Vertrau’n, ihr Haß und Hohn
Kann nit ewig dauern.
Schlagen deutiche Fäufte zu,
Tindeft Frieden, findeft Ruh'
Bald au du!
Braudft darum nicht trauern!
Und wenn mich Gevatter Hain
MWirfli will verderben,
Soll mein letzter Seufzer Dein
Denken no im Sterben! —
Burfchen gibt es mehr mie mid!
Alles and’re findet fich!
Tröfte dich!
Sollſt das Ringlein erben!
Roderich Ley
IE
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Dolitit
Unfer Better Tartuffe oder Wie England
feine Kolonien erwarb. Bon Dr. Richard
Hennig. Herausgegeben von Weltverkehr
und WVeltwirtfchaft, Berlin, Hermann Baetel,
Verlag, &.m.5.9., 1914. Preis M. 1.20.
47 Seiten.
Diefes Bud ift eine fehr intereffante Er⸗
fheinung. In unferer Jugend hat man unter
dein Drud der Zeit die deutſche Geſchichte in
der Schule dargeftellt als nur beeinflußt von
der politifhden Haltung Frankreichs gegen
Deutichland. Darüber ift England ftiefmütter-
ih vergefien worden, und infolgedefjen ift
auch unter den fogenannten Gebildeten Deutſch⸗
lands vielfach unbekannt, welche weltgeſchicht⸗
Iihe Bedeutung die Gründung der oftindifchen
Kompagnie am 22. September 1599 batte.
Bon ihr datiert Hennig mit Recht die Ente
ftehung des britifhen Weltreiches, an deſſen
Schaffung und Mehrung jeder engliiche Staats
mann mit fehr viel Klugheit, aber mit noch
größerer Geiwiffenlofigfeit gearbeitet hat. Mit
Geſchiclichkeit und objektiver Wiſſenſchaftlichkeit
ftellt Qerfaffer dar, wie England feine koloni⸗
fierenden Nebenbuhler, Spanien, Portugal,
Sranfreih, Holland ſtrupellos niedergerungen
bat. Bon dem Augenblid ab, in dem Bismard
deutſche Kolonien erivarb, war ed jedem Eng⸗
länder ar, daß der Zufammenftoß der ger«
manifchen und englifhen Welt unvermeidlich
wurde. Hennigs Schrift beiveift, daß die
Borfehung uns einem Feinde gegenüber ger
ftellt hat, dem der Krieg feine fittlidhen Ber
ſchwerden madt, der den Willen zur Macht
für weniger Loftipielig hält, als die juriſtiſch⸗
diplomatifhe Gewähr und ihr Gefolge, die
Schwäde. Eine große Menge wiſſenswerter
Einzelheiten ift aufgehäuft, die und nötigen,
umgulernen und zugulernen, bedeutfame Augen⸗
blide ber Kolontalpolitit aller Länder dem
Gedächtnis einzuprägen. Als ein Motto neben
anderen bat der Verfaſſer da® Belenntnis
einer fhönen Seele, des Lord Derby, gewählt,
der ſchon im Sabre 1857 fagte: „Unfer
ganzes Verfahren gegen andere Nationen ifl
ſchamlos in hohem Grade Gereihen die
Megeln des Völkerrecht? zu unferen Gunften,
fo dringen wir auf Vollzug, find fie es nicht,
fo laſſen wir fie ungeftraft übertretien. Die
Geſchichte des Seerechts, des Seeunrechts,
ſteht da als unvertilgbares Zeugnis der
grenzenloſen Selbſt- und Habſucht des eng⸗
liſchen Volkes und feiner Regierung.“
Heinrich Neuß
Heeresweſen
Als vor zwei Jahren die kriegeriſchen
Ereigniſſe auf dem Balkan über ganz Europa
Wellen der Erregung ſandten, brachten die
Grenzboten einen nachdenklichen Aufiag*),
dem ein Werk zugrunde lag, das trotz ſeines
ehrwürdigen Alters heute noch mehr als da⸗
mals wahrhaft zeitgemäß iſt. Auch wenn
nicht das Erſcheinen einer neuen, verbeſſerten
Auflage (jetzt im Verlag von B. Behr
[Friedrich Fedderfen], Berlin⸗Steglitz. Preis
gebeftet 7 M., in Halbleinen 8,50 M., in
Halbleder 10 M) den befonderen Anlaß
böte, wieder auf das Bud „Vom Kriege” des
Generals von Clanſewitz hinzuweiſen, müßte
inmitten unfere® großen Kampfes daran er»
innert werden, baß mir in dieſer Riederfchrift
von Gedanken, die vor beinahe Hundert
Jahren Clauſewitz' machtvollen Geift bewegten,
*, Vom Kriege? Von Janus. Grenz⸗
boten 1913, Heft 16.
Maßgeblihes und Unmaßgebliches
einen Schatz befifen, um den uns jede
Ration beneiden muß. Lffenbar ift e8 der
Umftand, daß bier ein General „vom Kriege”
bandelt, der die weiteren Sreife leider zu oft
dapon zurüdhält, diefen Schatz zu heben.
Seder aber, der e8 wagt, erfennt fehr bald,
daß es ſich hier um Betrachtungen handelt,
die weit über das rein Militäriiche hinaus
greifen. „Der Krieg ift eine bloße Fort⸗
jegung der Bolitit mit anderen Mitteln,”
fagt Clauſewitz, und wir ziehen daraus bie
Holgerung, daB in ihm diefelben Momente
wirfiam find, die das Wechſelſpiel des Lebens
beherrihen, dad in der Politik Fryftallifiert
eriheint. Da der Krieg, nad Clauſewitz,
eine moralifhe Größe ift und es „eine arms
felige Philofophie ift, wenn man nad alter
Art feine Regeln und Grundſätze diesfeits
aller moraliihen Größen abichließt”, findet
Clauſewitz auf Schritt und Tritt Gelegenheit
zu feinen pſychologiſchen Beobachtungen, die
and die Analyſe des Krieges zu einer
Bhilofophie des Lebens werden lafien. Diele
aber ift da® Wert einer Trafıvollen Perſön⸗
lihfeit, die mit Bismarckſcher Treffjiherbeit
und ausgeprägtem Schönheitögefühl den
rechten Außdrud für jeden Gedanken zu finden
weiß. Wer niht Muße findet, den Verfafier
durh das umfangreihe Wert zu begleiten,
wird ſchon durch die Lektüre einzelner Ab⸗
ſchnitte reihlih Genuß und Belehrung finden.
Bir möchten überdied wiederholen, was bor
zwei Jahren an diefer Stelle gejagt wurde:
„Das Bud gehört in die Volksbibliotheken
und in die Öyninafien, dorthin, wo fich der
Geift fehnt nad Hilfe und Klarheit in dem
betörenden Wirrwarr der Innen» und Um⸗
welt.” Heute, da uns das Leben vor feine
größten Rätſel ftellt, ift aber diefed Sehnen
mebr denn je lebendig.
Die Benugung des Werled wird dur
das für die vorliegende neue, neunte Auflage
vielfah vermehrte Sad» und Namenver⸗
zeichnis mefentlih gefördert. Möge dem
Wunſch feines Verfafferd, des Oberftleutnants
a. D. Paul Ereuginger, daß e8 da3 Studium
der Lehre unſeres großen Sriegsphilofophen
erleihtern, frudtbar maden und zu ihrer
Zortentwidiung beitragen fol, Erfüllung
werden. er "
Schöne Kiteratur
Ferdinand Gregorovius als Dichter von
Dr. Johannes Hönig; der Breslauer Beiträge
zur Literaturgefchichte in neuer folge Band 39.
3. 8. Metzlerſche Buchhandl., Stuttgart 1914.
Durd die Vorgänge in Oftpreußen ift der
in weiteren Streifen etwas in Vergeſſenheit ge⸗
ratene Hiſtoriker⸗Poet Ferdinand Gregoropius
fogufagen wieder altuell geworden. In Lite»
rariihen Kreiſen erregte die Nachricht von
der durch die Ruſſen erfolgten Zerjtörung des
Gregoroviusfhen Geburtshaufes und Rad
lafje® in Neidenburg lebhaften Unwillen.
Letzterem bat zwar der rufjifche Vandalismus
nit viel anhaben können. Die handſchrift⸗
liche Hinterlaſſenſchaft befindet fid in den
Händen von Privatperfonen, die Bücherei
in der Münchener Kgl. Bibliotdel. Nur das
bon Schumader gemalte Bild von Grego«
rovius dürfte verloren gegangen fein. — Ange
fiht3 unfere8 gegenwärtigen Verhältniſſes zu
Rußland ift es gewiß recht intereffant, ſich
eine® Urteil® Sregoroviuß über Rußland zu
erinnern. Er ſchrieb:
Nom, 10. Juni 1858.
„Sie (die Ruſſen) haben fühne Ideen und
Balten Rußland noch für jung. Ihre Pros
jette gehen auf SKonftantinopel, Prag und
Zemberg, kurz, auf die Herſtellung des
oftrömiichen Reiches durch den Banflawismus.
Aber Rußland ift ein halb mongoliſches Wefen,
ohne Genie und Tatkraft. Der Deutihenhaß
dort fließt aus dem Bewußtjein der geiftigen
Abhängigkeit vom Germanentum, vielleicht
auß der inftinktiven Ahnung eines bevor»
ftehenden Zuſammenſtoßes mit Deutichland,
wenn diejed ein einige® Reich geworden fein
wird... —
Wenn auch der Roman von Gregorovius
„Werdomar und Wladislaw“ (1845) oder fein
Zejedrama „Der Tod des Tiberius” oder
dad Epos „Euphorion“ (1856) gegenwärtig
kaum auf Intereſſe rechnen können, fo ift
doh die „Gelchichte der Stadt Nom” auch
in unferer Zeit noch wertvoll, nicht zuletzt
um ihres poetifhen Gehalts willen, den die
ſtrenge Fachkritik allerding® als Mangel an
diefer geſchichtswiſſenſchaftlichen Großtat emp⸗
findet. Hönig, dem auch umfaſſende hiſtoriſche
128
Kenniniffe zur Verfügung ftehen, fucht Hier
Licht und Schatten gerecht zu verteilen: „Ver⸗
ſucht man aus der Verſchiedenheit der Anfichten
Gregorovius unbefangen eingufchägen, fo wird
man zu dem Ergebni® kommen, daß bei ihm
eine das Durchſchnittsmaß wiſſenſchaftlicher
Forſcher bedeutend überſteigende dichteriſche
Begabung Form und Stil feiner Werke ge⸗
boden und dem Ganzen den Stempel eines
hervorragenden Geiſtes aufgedrüdt bat.
Gegenüber einer nicht zu beftreitenden Unzu⸗
länglichteit, die indes nicht fo bedeutend fein
fann, daß fie feinen Schriften auch ald Fach⸗
fhriften den Wert nähme, ergibt fi) das
unleugbare Berdienft einer großen fchrifte
ftellerifden Tat.” — Diefe vorfihtig wägende
Objektivität ift neben der genauen, Sad)
fenntni® und der fehr fleißigen Sammlung
des Materiald ein bejonderer Vorzug der
Hönigihen Monographie. Nicht nur die rein«
dichterifchen Werke werden einzeln abgehandelt,
fondern au die Hiftorifhen erfahren eine
erihöpfende Würdigung ihres poetiſchen Mite
gehaltes, desgleihen die Reiſeſchilderungen
und Geſchichtswerke. Die Beziehungen zwiſchen
Leben und Schaffen find nad Möglichkeit
aufgebellt, ſoweit fih da8 bei dem Mangel
an Briefmaterial eben tun läßt. Gregor»
rovius Hat befanntlih feine Freunde ger
beten, alle Briefe, die fie von ihm erhielten,
zu vernichten, welche Bitte ihm zumeiſt erfüllt
worden ilt. Der Literarhiſtoriker muß ſich daher
in der Hauptiadhe auf die autobiographifchen
Bublifationen don Gregorovius, auf Mit
teilungen feiner Freunde und da3 geringe
brieflide Material ftügen, da® man bisher
vorfand. König hat daraus ein abgerundetes
Lebensbild gu entiverfen verftanden. —
Dr. phil. 4. 8. Rofe
Sozialwefen
Allgemeine Dienftpflidt. Angeſichts der
ſcharfen Rekrutierung in Frankreich empfinden
Maßgeblies und Unmaßgebliches
wir Deutfhen mit ftolger Genugtuung,
daß wir e8 unß leiften Tönnen, nur die un⸗
bedingt Tauglichen ind Heer einzuftellen.
Anderfeits ift e8 befannt, daß vor dem Kriege
nicht einmal Mittel vorhanden waren, alle
Tauglichen militärifch auszubilden, noch 1914
mußten mindeften® 40000 Mann zurüdgeftellt
werden. Da erhebt fich die Frage, wie fangen
wir es an, diefe Nichtausgebildeten dennoch
dem Staate unmittelbar nugbar zu machen,
die Ungerechtigfeit gegen die ein oder "zwei
Sabre verlierenden Außgebildeten auszu⸗
gleihen und auch den nicht gang Tauglichen
Gelegenheit zu bieten, ihre Kraft dem Vater⸗
lande zu widmen, oder furg: wie fönnen wir
die Arbeitöfraft der militärifh nidt Aus⸗
gebildeten zugunften des Staat organifieren?
Dies Problem erörtert eine jüngft im Berlag
bon Karl Eurtiuß, Berlin, erjhienene Bro⸗
fhüre von Ludwig Bordardt: Allgemeine
Dienftpfiiht, die natürlide Folge der
allgemeinen Wehrpflicht. Ber Verfafler tritt
dafür ein, daB jeder vom Militärdienft Be⸗
freite ſchon in riedendzeiten zu einer
feinem Bivilberuf möglichſt nabeliegenden
Arbeitsfraft auszubilden ift, die in die durch
die Mobilmahung in Staatd-, Induſtrie⸗
und landwirſchaftlichen Betrieben, Schulen ufw.
entitandenen, bei den gegenwärtigen Verhält⸗
niffen oft ſchwierig audzufüllenden Lüden
eintreten fann. Auf dieſe Weife Tann jedem.
Arbeitermangel nad) Kriegsausbruch abge⸗
bolfen, Tönnen viele fonft reflamierte Kräfte
für da8 Heer frei gemadt, kann die Arbeits⸗
Iofenfürforge um ein Bedeutendes entlaftet,
endlid die in der Qualität anfangs oft recht
minderwertige reiwilligenarbeit auf das
Maß des Erforderliden gehoben werden.
Daß der Vorſchlag auch vollswirtichaftlich-
ohne große Koften durchführbar ift, wird klar
und bündig nachgewieſen. Allen Vaterlands⸗
freunden fei die ausgezeichnet gejchriebene kleine
Schrift daher warm empfohlen. Dr. R.S.
Allen Manuſtripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nädfenbung.
nicht verbürgt werden kann.
Nachdruck ſaämtlicher Aufſaätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis bed Berlags geftattet.
Berantwortli: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin- Lichterfelde Weit. — Wanuftriptiendungen und.
Briete werden erbeten unter der Abreile:
An den Serausgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde We, Steruftraße 56.
Fernſprecher bed Herausgebers: Anıt Lichterfelde 498, bed Berlagd und der Schriftleitung: Amt Lügow 6510.
Verlag: Berlag der Grenzboten &. m. b. 9. in Berlin SW 11, Tempelbofer Ufer 85a.
Dıud: „Der Reichsbote“
®. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Defiauer Straße 36/37.
Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen
Örenzen des Staates
Don Dr. jur. R. Strahl
rennender als je tritt heute die Frage nach der Bedeutung des
Nationalitätsprinzips und feiner Tragweite für den Aufbau der
Staaten an uns beran.
| Baufteine der Geſchichte, Schadhfiguren im Spiele der Welt-
politif find die Staaten. Die Staaten ſelbſt find veränderliche
Größen. Werden und Vergehen, Wechjel der Kräfte, der ewige Wandel des
Irdiſchen ergreift auch fie. Sie laſſen fich Iebenden Organismen vergleichen:
Anziehen und Abftoßen, Bereinigung und Trennung, Entftehen, Wachſen und
Verfall find Erjcheinungen im Staatenleben, denen fie in ähnlicher Weife wie
alle Lebeweſen unterworfen find.
Die beiden großen Grundlagen für die äußere Geftaltung des Staates
find Staatsgebiet und Staatsvoll.
Man hat fi) zu allen Zeiten mehr oder weniger bewußt bemüht, aus
diefen beiden Faktoren Normen für den natürlichen Umfang, für die vernunft-
gemäße Einheit der Staaten zu gewinnen: beide Begriffe in ein regelrechtes,
zwedentjprechendes Verhältnis zueinander zu bringen. Lange Zeit hindurch jah
man das Staatögebiet als das grundlegende Prinzip an, dem fi die Bildung
des Staatsvolfes anzupaſſen und anzubequemen hatte. Erjt im neunzehnten
Jahrhundert brach fi die Anſchauung mehr und mehr Bahn, daß umgefehrt
völfiihe Eigenart für Umfang und Begrenzung des Staatsgebietes maßgebend
fein jollte. Seinen Ausdrud findet diefer Gedanke in dem Nationalitäts-
prinzip: die Nation, die fih aus Blutsgemeinfchaft berleitende Sprach- und
Kultureinheit, follte danach die natürlihe Grundlage auch für die territoriale
Grenzboten II 1915 9
130 Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats
Begrenzung der Staaten bilden. Die Begriffe Nation und Volt — in dem
Sinne der Befamtheit der Angehörigen eines Staates, Staatsvol! — follten
fi) demgemäß deden. Eine Theorie, die ungeheuere praftifche Bedeutung tn
Geſchichte und Politik gewonnen bat. Und zwar praftiihe Bedeutung in
zweierlei Hinficht: einerfeitS als politifdes Programm der Staaten als folder
als öffentlich proflamieries Ziel der Regierungen in der internationalen Politik;
und anderfeitS als Wunſch und Hoffnung in dem Streben der Völtfer.
Das Nationalitärsprinzip fegt, um wirflide Kraft zu erhalten, bei feinen
Anhängern und Verfechtern einen gemwiffen Grad politiiher Bildung und Auf.
Härung voraus. Daher erllärt es fich, daß es Bedeutung erft in einer Zeit
gewonnen hat, in der der politiſche Blid größerer Kreife durch weitere Ver⸗
breitung diefer Grundlagen gefhärft war: eben im neunzehnten Jahrhundert.
Es iſt ein feinem Wefen nad) demofratifher Gedanke. Das Streben nad)
nationaler Zufammenfaffung ift bedingt durch eine gewiſſe Bollstümlichkeit.
Erft wenn politifche Anteilnahme in breiteren Schichten erwacht und fich mit ber
durch Erleichterung des Verkehrs und der durch Schule und Preſſe vermittelten
Kenntnis der Zuftände außerhalb der eigenen Grenzpfähle verbindet, tft der
Boden des Prinzips vorbereitet und gefchaffen. Solange diefe Borausfegungen
fehlen, und die Polıtit mehr oder weniger der Beruf einzelner oder eng um⸗
grenzter herrſchender Klaſſen bleibt. mag es wohl gelegentlid ein meift an
beitimmte Zmede gebundener Gedanke befonderd Aufgellärter geweſen fein,
aber es fehlt ihm die eigentlihe Unterlage. Gegenſtand gewinnt es erit
dadurch, daß es die Willensrichtung aller oder doch der Mehrzahl derer wird,
die e8 angeht: der Nation in ihrer Gemeinſchaft. Erſt nachdem die Bluts-
und Spradgenofjen ſich eine8 Zufammenhanges gemeinfamer Ideen und Ziele,
auch gemeinfamer Gegenfäge bemußt geworden find, fchlägt die eigentliche
Geburtsftunde des Nationalıtätsprinzips als realpolitiihen Programms.
Ganz verfcieden find die Äußerungen des Prinzips, die tatfächlichen
Solgerungen und Forderungen, die fih aus ihm herleiten. Sie werden beftimmt
dur das Verhältnis, in dem fich die Verteilung der Nationen in den be
ftehenden politifhen Stautegebilden befindet.
Da, wo es dem Sinne nad erfült ift, wo Staat und Nation gemiffer-
maßen eins find und denſelben Begriff bilden — wie beijpielsweife in
Frankreich und England für Franzofen und Engländer — wo alfo kein be
fonderer Sraftaufmand nah außen bin notwendig ift, zur Wahrung ber
nationalen Eigenart, fehlt ihm das eigentlidhe aktive und offenfive Ziel. Hier
fann es allenfalls innerpolitifh und kulturell in abgeleiteter, veränderter Form
in Betracht kommen, verliert aber feinen eigentlihen Charalter.
Anders da, wo national zufammengehörige Bevölferungen ſtaatlich geteilt
und zerriffen find, oder wo nationale Minderheiten, die ihre Eigenart zu er-
halten beftrebt find, in einen Gegenfag geraten zu der Mehrzahl der Be-
völferung eines Staates, in den fie eingefchloffen find. Hier beginnt die
Das Hationalitätsprinzip und die natürlihen Grenzen des Staats 131
eigentliche aktive Rolle des Prinzips, denn es ift in erfter Linie eine Oppoſitions⸗
und Kampfparole. Neben dem idealen Ziele der Erhaltung alter Über
lieferungen jegen unter Umftänden auch realere und materiellere Zwecke dabei als
Triebfedern ein. Außer dem Wunfche, Sprade und Gefchichte zu bewahren,
zeigt fich in Zeiten, in denen Anteilnahme des Volles an Regierung und Ber-
waltung, Mitbeftimmungsrecht des Volles bei der Entfchlteßung über die ftaat«
lichen Schidfale allgemein anerkannte Grundfäge geworden find, der Wille ber
fh auf diefen Gebieten zurüdgefegt Glaubenden, gerade als nationaler Faktor
Berüdfihtigung zu finden.
Zugrunde liegt dem Streben nad) praltifder Durchſetzung des Nationalitäts-
prinzip ſtets der Wille nad Herrſchaft. Daher iſt fein Urfprung oft der
perfönliche Ehrgeiz einzelner. Da es fi aber um die Durchführung einer
allgemeinen völkiſchen bee handelt, jo gewinnt es erft wahre Bedeutung, wenn
die Mafje der Volksgenoſſen der MWillensrichtung einen breiteren Boden verleiht.
Es entfteht daher um fo eher und wirkt um fo ftärfer, je mehr Nationalteile
in der beftehenden Staatenordnung ſich unterdrüdt und von der Mitbeftimmung
ausgefchloffen fühlen. Dabei tft zu beachten, daß das Rationalitätsprinzip Tebtlich
über die Forderung nad innerer nationaler Gleichberechtigung im Staate
hinausgeht im Verlangen der Verlörperung der Nation in einem politifchen
felbftändigen Staatswejen. Es iſt alfo ftetS auf Abtrennung gerichtet. Und
zwar je nad) der Berteilung der Blutsgenoſſen in einem oder mehreren Staats-
wefen auf Neugrändung und Schaffung eines bisher nicht beftehenden Staates
oder Anſchluß an einen folchen, in dem die anderwärts unterdrüdte Nationalität
die berrichende ift. |
Da in der Regel der Staat, in dem fih folde Strömungen geltend
machen, fih nicht widerftandslos den AbfonderungSbeftrebungen fügen wird,
weil er durch diefe und eine aus ihnen hervorgehende drohende Gebietsver-
änderung und Bevölferungsminderung Machteinbuße zu befürchten bat, fo kann
damit ein Konflilt auf Leben und Tod entitehen. Dazu kommt, daß meift
aud) die äußeren Gegner des betroffenen Staates derartige Gegenſätze nicht
unbenupt laffen, um durch offene oder heimliche Unterftühung der Unzufriebenen
eine Shwähung des Yeindes herbeizuführen. Ya, oft wird die Gegnerfchaft
gerade aus ſolchen Anſchlußbewegungen heraus geboren, oder durch ihr Hinzu-
treten verfchärft werden. Ein Ende fann der fo entftandene Kampf nur mit
dem Siege der einen oder der anderen Partei finden: entweder Loslöfung der
widerftrebenden Bollsteile oder Unterdrüdung und Aufgabe der nationalen
Bewegung.
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ift mit dem Nationalitäts-
prinzip noch eine andere Theorie in enge Beziehungen geſetzt worden, die ſich
auf verwandte Gedanlengänge gründet, gemwifjermaßen eine Ergänzung diejes
Prinzips bildend: die Forderung des nationalen Selbftbeftimmungsrehts. Wie
den Untertanen im Staate ein Net zur Anteilnahme bei der Verwaltung
9*
132 Das Nattonalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats
und, noch bierüber hinausgehend, bei der Entſcheidung über die äußeren Schid-
fale des Staates zuftehen fol, fo fol ihnen in ähnlicher Weife, der inneren
Freiheit entſprechend, als blutsverwandten Gliedern einer Nation das Recht
der Beftimmung der äußeren, in der Staatsform fi Tundgebenden Selbſt⸗
ftändigfeit zugebören. „National felbftändig gewordene Bölfer haben das
natürlide Beitreben, das errungene Gelbitbeitimmungsret auch darin zum
Ausdrud zu bringen, daß fie fi den übrigen Nationen gegenüber ftaatlich
als eine Einheit darftellen und ihre nationale Eigenart zum einheitlichen ftaat-
Iihen Ausdrud bringen.“
Für alle diefe verjchiedenen Momente in der Entwidlung des Nationalitäts-
prinzip8 mangelt e8 nicht an Beifpielen in der Geſchichte. Nationale Einheits-
beftrebungen finden wir in deutſchen, italieniſchen, polnifchen, griechifchen,
rumänifden und zahlreiden anderen Freiheits- und Cinheitsbewegungen.
Sonderbarermeife wird das Prinzip vielfach mit der Perſon Napoleons des
Dritten verknüpft. Diefer ift allerdings, wenn auch nicht der Schöpfer der
dee, fo doch einer ihrer eifrigften Borlämpfer gemweien, und bat au das
Selbſtbeſtimmungsrecht grundfäglich anerlannt, zum Beifptel durch die Vornahme
von BollSabftimmungen bei der Angliederung neuer Gebietsteile, wie von
Nizza und Savoyen an Frankreich im Jahre 1860.
Dazu tft zu bemerken, daß es ſich hier allerdings meniger um ein Selbft-
beſtimmungsrecht in nationalem Sinne handelt, als vielmehr um ein Recht der
Einwohner beitimmter ftaatlicher Gebietsteile, beruhend lediglich auf der Grund-
lage territorialen Zufammenleben®.
Überhaupt ftößt man in den Fällen, in denen die genannten Prinzipien
in die Praris überfegt worden find, häufig auf gewiſſe innere Widerſprüche.
Sind doch aud die eifrigften Verfechter des Nationalitätsprinzips zum Beifpiel
in Polen und im Elfaß vielfach folche, die ihrer Abftammung nad) feineswegs zum
Blute der Nation gehören, deren angebliche Rechte fie fo leivenfchaftlich vertreten.
Theoretiſch ift man nun nicht beim Nationalitätsprinzip ftehen geblieben. Ye
nachdem man den Geſichtspunkt der Raſſengemeinſchaft als der Blutsverwandt⸗
ſchaft im weiteſten Sinne in den Vordergrund ſchob (Panſlawismus), oder
Sprachzuſammenhänge umfaſſendſter Art damit verband (Panlatinismus),
oder Kultur- und Religionsbande beſonders betonte (Panislamismus), iſt
eine Fortbildung und Erweiterung des Nationalitätsprinzips erfolgt. Endlich
dat Ah in Oppoſition zu dieſen Prinzipien das Streben nad) großen
internationalen ntereffengemeinihaften zur Wahrung mirtihaftlider und
politifher Ziele und Anfhauungen hauptfählih innerhalb der Arbeiterfhaft
(internationale Sozialdemokratie) geltend gemacht.
Schon hieraus ergibt fi, daß das Nationalitätsprinzip fein allgemein an-
erfanntes ift.
Und gerade in diefen Fortbildungen zeigt fi mehr noch als dies ſchon
bei der früheren praftiihen Anmendung des Nationalitätsprinzips ber Fall war,
Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats 133
daB es fi für viele nicht um die Verwirklidung allgemeiner Menfchenrechte,
fondern um politifche Macht- und Intereſſenfragen handelt. Aufgeworfen und
verfochten oft von foldhen, die in der Heranziehfung und Dereinigung mit ab-
getrennten und veriprengten Vollsteilen ein Mittel zur Stärkung, eigenen
Gewichts⸗ und Einflußzuwachs erftrebten. Auh da, wo es fi um Unab-
bängigfeitSbeftrebungen angeblich unterjocdhter Völler bandelt, iſt der leitende
Gedanke bei den Führern der Bewegung oft perjönlicher Ehrgeiz und Eigennup,
anderfeits oft auch in Fällen, in denen an der Lauterfeit der Motive nicht zu
zweifeln ift, kritikloſer Idealismus geweſen, der eher Fulturfeindlich als Kultur-
fördernd zu wirken imftande war.
Gerade die Politik Napoleons des Dritten, des meiltgenannten Verfechters
des Nationalitätsprinzips, ift eher geeignet den Glauben an die Durchführbarkeit
des Prinzips zu erjchüttern als ihn zu ftüben. Pier mag eine furze und
treffende Wertung angeführt fein, die ein Engländer, W. Morton Fullerton, mit
echt engliihdem Sinne für realpolitiihe Geſchichtsauffaſſung in dieſer Hinficht
über Napoleon den Dritten fällt: „Napoleon der Dritte war ein Idealiſt;
fein leidenjchaftliches Verlangen für den modus vivendi der Verträge von 1813
einen wiſſenſchaftlicheren und logiſcheren Zuftand der internationalen Beziehungen
zu ſchaffen, mit einem Wort die Landlarte von Europa durch Gruppierung
der Völler nad) Raſſe und ſprachlicher Verwandtſchaft zu revidieren, war eine
der doltrinärſten Begriffsverwirrungen, die je ein flares franzöfifches Hirn um-
nebelte. Es war eine ihrem Wejen nach ebenfo unfranzöfifche, als von fran-
zöfifchem Intereſſenſtandpunkt aus antinationale Politik. Die Grundlage diefer
Politik war metaphyſiſche Einbildung und nicht der greifbare Stoff von
Tatſachen und Umſtänden. Und bei dieſer fanatiihen Hingabe an das
Nationalprinziff war der Erfolg feiner Politik die Ironie, daß er Frankreich
jelbft vergaß. Er war fo 'ausjchlieglih mit den Leiden der Polen, taliener,
Ungarn beſchäftigt, daß er darüber die wirklichen Intereſſen Frankreich überſah.“
Diefe berbe, aber zutreffende Kritik des Engländer gibt ein richtiges
Urteil des praltiſch denkenden Politiler8 über die falſche Anwendung anfecht-
barer Prinzipien. Sie zeigt den Wert — oder vielmehr den Unmert — den
eine Theorie bei ihrer grundfäglichen Verwendung durch einen maßgebenden
Staatsmann gewinnen Tann, der den Blid für die Tatſachen verliert und fie
über die objeltive Abwägung deſſen jtellt, was feinem Lande von Vorteil oder
Nachteil ift.
Gewiß ift, daß die Einheit des Blutes und der Sprache einen der ſtärkſten
Taltoren für die innere Geſchloſſenheit und Kraft eines Staatsweſens darftellt.
Ebenfo gewiß kann aber fein, daß fie nicht der einzige und unter allen Um⸗
ftänden allein gültige ift.
Das, was den inneren Zufammenhalt eines Staates vor allem ausmadjt,
ift das Staatsbewußtfein, der Wille der einzelnen fi) als Glieder des ſtaat⸗
134 Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Brenzen des Staats
lihen Ganzen zu betrachten, ihr Zugehörigfeitsgefühl und ihre Hingabe an bie
dee des Staates. Zu Zeiten, in denen bie politifhe Anteilnahme und die
politiſchen Rechte der Untertanen gering waren, wirkte in diefer Beziehung bie
Macht derer, in deren Hand die ftaatlihen Entſcheidungen verkörpert waren,
allein maßgebend und ausreichend. Heute, wo alle zivilifierten Staaten tat
fählih auf mehr oder weniger demokratiſcher Grundlage ruhen, iſt es der
geichloffene Wille der Staatsangehörigen, der das Gewicht, die Wucht ftaat-
lihen Handelns bildet.
Diefer Wille überwindet auch die nationale Verſchiedenheit der Angehörigen.
Es gibt tatfächlich eine ganze Reihe von Staaten, in denen die Träger unter-
ſchiedlicher Nationalitäten nicht nur als geringere, wenig in Betracht kommende
Zufäte beigemifcht find, fondern die geradezu auf der Gleichordnung verſchiedener
Nationalitäten beruhen. Das befte Beifpiel hierfür ift die Schweiz.
Die Begrenzung der Staaten ift, wie diefe felbft und ihre Einrichtungen,
etwas hiſtoriſch Gewordenes. Wenn fi Regeln, große leitende been über
die Begrenzung der Staaten überhaupt aufitellen laſſen, wenn es gewifjer-
maßen natürliche Begrenzungen der Staaten — abgejehen etwa von geographiſchen
Notwendigkeiten — gibt, jo find die Grundfäge bierfür in erfter Linie aus den
Aufgaben und Zweden der Staaten berzuleiten.
Staaten find Zwedverbände.
- hr grundlegendftes Ziel muß fih mit dem Wunſche ihrer Angehörigen
deden: Schuß gewifjer Rechte und Freiheiten nach innen und außen. Sicherung
von Eigentum und perjönlicher Freiheit, fpäter Mitbeftimmungsrecht der Unter-
tanen bei den ftaatliden Entſchließungen, Aufrechterhaltung bes verfafjungs-
mäßig gefiherten Nechtszuftandes find die legten Interefien der Untertanen und
damit Pflichten des Staates. Zu ihrer Durchführung bedarf der Staat der
Dauerhaftigkeii. Damit wird die ftaatlidhe Selbſterhaltung auch Selbitzwed.
Dabei ift nicht zu überfehen, daß alles ftaatlihe Handeln legten Grundes
auf Mehrheitsentſchließungen und Machtfaltoren beruft. So lann es geſchehen,
daß die einfache militäriihe Sicherung eines Staates die Innehabung von
Gebieten erfordert, deren Bewohner fi) in gewiſſen Gegenfägen zu der über.
wiegenden Mehrheit der anderen befinden.
Aber die Entwidlung ijt über dieſe urjprüngliditen Ziele der Staat$-
erhaltung binausgefchritten. Man ift fih heute darüber einig, daß der Staat
höhere, idealere Aufgaben hat. |
Jellinek bat den Staat als den „durch planmäßige, zentralifierende, mit
äußeren Mitteln arbeitende Tätigleit die individuellen, nationalen und menfche
beitlicden Solidarinterefien in der Richtung fortfchreitender Gefamtentwidlung
befriedigenden . . . Verband eines Volles“ definiert. (Allgemeine Staatslehre,
3. Auflage, Seite 264.)
Darin ift die heute allgemein anerlannte Anficht ausgeſprochen, daß der
Staat au der Träger großer Kulturaufgaben fein fol.
Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats 135
Nun ift nicht zu verfennen, daß gerade die Nationalität — zumal fomweit
fie in gemeinfamer Sprade und Literatur zutage tritt — eine der wirkſamſten
Grundlagen für eine gemeinfame verbindende Kultur ift.
Do bereits wenn man die europäifchen Sulturfreife, wie das vielfach
üblich ift, in einen germanifchen, anglo fachfonifchen, lateiniſchen und ſlawiſchen
einteilt, jo ergibt fi daraus ohne weiteres, daß diefe mit ftaatlicher Begrenzung
nichts Ummittelbares zu tun haben. Wenn man ferner als Kultur die Arbeit
und deren Ergebnis anfteht, die dazu dienen, den geiltigen und materiellen
Fortſchritt der Menfchheit zu fördern und die allgemeinen Grundlagen für
Weiterarbeit im Sinne wachſender Aufflärung und fi fteigernder Nubbar-
machung der Materie für die menſchlichen Bedürfniffe zu fchaffen, jo wird man
zu dem Ergebnis gelangen, daß die Borausjegungen hierfür ebenfo fehr und
vielleicht in nod höherem Maße als dur die nationalen Überlieferungen
durch ſtaatliche Einrichtungen gebildet werden. Zumal heute, wo Erziehung
und geiftige Förderung der Untertanen von jedem modernen Staate in fein
Wirkungs- und ZätigleitSbereich einbezogen find. Gemeinſame Erziehung, ge-
meinfame ftaatlide und foziale Einrichtungen, gemeinfame wirtidhaftlihe In⸗
terefjen, gemeinfame Geſchichte, Religion, gemeinfamer Haß und Liebe gegenüber
gemeinfamen Feinden und Freunden, wie fie.vielfach durch die ftaatliche Zufammen-
gehörigkeit vermittelt werden, find oft zuſammenſchmiedende Bande, die ver-
ſchiedenartige Nationalität überwinden und deren DBertreter dauernd ver-
einen.
Der Staat als Kultureinheit, als Kulturförderer fteht nicht nur neben,
fondern in vieler Hinficht über der Nationalität.
Dabei ift nicht zu überfehen, daß Borbedingungen für Kulturfortichritt
wirtſchaftliche Verhältniffe und foziale Einrichtungen find. Dieſe aber fallen
heute fait gänzlich in daS Bereich der ſtaatlichen Betätigung.
Mehr denn je haben wir in unferer Geſchichtsepoche die Wahrheit des
alten Sabes einfehen gelernt, daß der Kampf der Vater aller Dinge ift.
Früher in dem Sinne friedlichen Wettjtreites der Völker, heute in des Wortes
eigenfter Bedeutung. Er ift auch der Befruchter der Kultur. Auch die Kultur
bedarf zu ihrem Fortfchreiten des Anſporns werbender Aufgaben, des Aus-
dehnungStriebe3.
Eulen fpriht von dem Gegenüberftehen von franzöfiiher Formlultur,
engliſcher Nützlichkeitskultur und deutſcher Ganzheitskultur.
Deutſchland hat das Übergewicht der allen überlegenen ſittlichen Stärke.
Und es bat das Zeug dazu, auch auf den beiden anderen Gebieten die Gegner
zu überflügeln. Vielfach hat im deutſchen Wejen die etwas trodene, fachliche
Nüchternheit und Gründlichleit, die gerade auf die kritikloſe geiftige Mittel-
mäßigfeit ihre Wirkung oft verfehlt, und die ftraffe Zucht ben werbenden
Einfluß für ſolche, die mehr auf die Form wie auf die Sade fehen, abgeſchwächt.
Hier wird Erkenntnis Wandel bringen, ſoweit da8 Not tut.
136 Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats
Aus alledem geht hervor, daß heute nicht die Nationalität für die äußere
Begrenzung der Staaten ausſchließlich maßgebend ift. Die Beifpiele, in denen
bie gemeinfamen wirtſchaftlichen und fozialen Intereſſen, aber auch die rein
geiftige Kultur größere Angleihungsfähigleit bejeflen haben, als gemeinfames
Blut und Raffe, laſſen fi aus der Gefchichte erbringen. Für den lebten Punkt
ift vor allem die jahrhundertelange, ftarfe Hinneigung von Elfaß - Lothringen
an Frankreich fennzeichnend, aber auch die frühere Vereinigung der Schleswig.
Holfteinfhen Herzogtümer mit Dänemarl. Oder der Anſchluß rein italienifcher
Gebietsteile in Nizza und Savoyen an Frankreich ohne nennenswertes inneres
Widerftreben. In mancher Beziehung auch das jetzt jo heiß umitrittene Belgien,
wo Einwohner verſchiedener Raſſe und Sprade durch ftaatlihe Einrichtungen
verbunden ein lebensfähiges Staatsweſen gebildet haben.
Früher haben bei der Frage der natürlihen Begrenzung der Staaten
vielfach geographifche Geſichtspunkte eine ausfchlaggebende Rolle geipielt. Ihre
Bedeutung bat gegenüber den ungeheuren Fortichritten der modernen Technik,
der Verfehrsmöglichkeiten, an Bedeutung verloren, wenngleich fie militärifch ein
nicht zu unterſchätzender Faltor bleiben.
Damit kommt man zu dem Ergebnis, daß der äußere Umfang der Staaten
lediglich durch ihre innere Kraft beſtimmt wird. Die Begrenzung ift Machtfrage.
Aber nicht in dem brutalen Sinne, daß ein Staat fi) alle Gebiete einverleiben
kann, zu deren Niederhaltung ihm die militärifhen Zwangsmittel zur Verfügung
ftehen. Sondern in dem Sinne, daß für ein Eulturell hochitehendes Staatsweſen
nationale Gegenfäge nicht abjchredend wirken dürfen, wenn andere Gründe für
eine Gebietserweiterung fprechen, folange es fih die innere Kraft zutrauen kann,
über furz oder lang auch den Willen der feiner Gemeinſchaft einverleibten
neuen Untertanen zu gewinnen. Den Willen, auf dem allein die Einheit und
Macht des Staates beruht. Das ift eine hohe Kulturaufgabe und e8 erfordert
eingehende und gemwifienhafte Prüfung im einzelnen alle, ob man rich ihr
gewachſen glauben darf. Ob man hoffen darf, ausreichende wirtfchaftliche, foziale
oder geiltige Bande anfnüpfen zu fönnen, um den Einwohnern eines durch die
Gewalt der Waffen einverleibten Gebietes im Laufe der Zeiten — und Diele
Zeiten müfjen und dürfen nad) Nahrzehnten reinen — die neue AZugehörigfeit
auch ſelbſt wünſchenswert erfcheinen zu Laffen.
Wenn man die Staaten als die Träger der Kultur anfieht, auS deren
innerem Streben und äußerem Wettjtreit aller menſchliche Fortichritt erwächſt,
jo bedarf es zu deren Erhaltung ftarfer gefunder Staatsweſen, die nicht
geſchwächt werden durch innerpolitiſche Gärungen und die nicht gezwungen find,
ihre bejte Kraft zu roher, gewaltfamer Niederhaltung Widerftrebender zu opfern. Es
beißt den freien Willen der neuen Staatsgenofjen gewinnen, und das fann nur der,
der auch etwas Geminnendes zu bieten und zu geben hat: eine überlegene Kultur.
Glaubt man fi) bierzu imftande, fo braucht man ſich beim Aufbau ber
, Staaten dur Nationalitätsfragen nicht ſchrecken zu laſſen.
Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats 137
— — — — —t —— — nern ——— —
Auch nicht durch das ſogenannte Selbſtbeſtimmungsrecht der Nationalitäten.
Beides find Theorien, aufgeſtellt, um ohnmächtiger Oppoſition einen wiſſenſchaft⸗
lichen Mantel umzuhängen. Der Staat, der an die Entſcheidung der Waffen
appelliert, — einerlei in welder Form das gefhehen mag — hat damit feine
Seldftbeitimmung ihrem Spruche ausgeliefert. Dem einzelnen, den es betrifft,
verichafft die Freizügigkeit die Möglichkeit, fich ftaatlicher Neuordnung zu
entziehen. Materielle Gefichtspuntte können dabei gegenüber ber Tatfache, daß
ieder Krieg jo viele wirtichaftlihe Werte und Eriftenzen vernichtet, nicht in
Betracht kommen. Außerdem ift der Einfag im Kriege nicht das Schickſal ber
einzelnen, fondern die Staatshoheit, die Territorialgewalt. Die Menſchenrechte
der einzelnen, foweit man in diefem Zuſammenhange überhaupt von folchen
reden Tann, werden durch den Übergang der Landeshoheit nicht berührt, bie
heute allgemein anerkannten Perjönlichfeitsrechte dürfen felbftverftändlich nicht
angetajtet werden.
„Gerade die neueren Staaten find viel weniger als die alten an bie
Rationalität gebunden und auf fie beſchränkt, fie haben an derfelben wohl ihre
natürlide Grundlage, aber die Miſchung der Stämme in den heutigen Kultur
ländern, die außerordentlihe Steigerung und Erleichterung des Verkehrs, der
Univerjalismus unferer Religion, der Kosmopolitismus unferer Bildung haben
die Ausfchließlichleit der alten Nationalftaaten gefprengt und die Möglichkeit
geihaffen, daß Angehörige verfehiedener Stämme und Sprachgebiete gleichberechtigt
in einem Staate zufammenmohnen und als Bürger diefes Staates fi) mohl
fühlen,“ fchreibt Zeller im Jahre 1870. Das gilt heute noch genau fo gut,
vielleicht mehr fogar wie damals.
Der Krieg ift heute noch nicht ein Durch fortfchreitende Gefittung in dem alten
Europa überwundener bhiftorifcher Begriff geworden. Er wird wohl faum aus
der Welt verfchwinden; einftweilen ift er ficherlich riefenhafter, blutiger und
allgemeiner geworden denn je zuvor. Die rüdfichtslofe Ausnutzung aller ſtaat⸗
liher Machtmittel und der Volkskraft bis auf den legten Mann ift fein Zeichen.
Es ftehen fich zwei Völfergruppen gegenüber, von denen die eine fich raftlos
bemüht, auch die nicht unmittelbar Beteiligten mehr und mehr als ausjchlag-
gebenden Kraftzuwachs an ſich heranzuziehen und dabei auch mit theoretifchen
Werbe⸗ und Schlagworten nicht geizt. Später bei der auf den Krieg folgenden
Neugruppierung — wie fie auch fei, — werden fid) bald wieder neue Intereſſen
gegenüberftehen. Umnvereinbare Gegenfäge werden über kurz oder lang ſtets
wieder entftehen und durch das Gefchehene belehrt, werden ihre Vertreter eine
ungeheure Werbetätigfeit entfalten, um fid) fünftige Siege zu fihern. Schon
jest fehen wir die Erfcheinung, daß gemeinfame Ziele Völker verjchiedeniter
Abſtammung wenigſtens zeitweije geeint haben. Es ift nicht aufgefchloffen, daß
dies in Zulunft noch mehr der Fall fein wird; daß dann große gemeinjame
Seen und Zmwede den Gefihtspunft der Nationalität noch mehr überwinden
oder doch zurüctreien laffen werden. Militärifch-politiide Gründe erfordern
138 Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats
heute ſchon vielfah den Zuſammenſchluß von Völfern über die enge Grenze der
- Rationalität hinaus, wenn anders der Staatszwed des Schußes gegen äußere
Übergriffe mächtiger Gegner erfüllt werben fol. Was Bündniffe und völfer-
rechtliche Abmachungen bedeuten können, daß fie häufig nicht das Papier wert
find, auf dem fie gejchrieben ftehen, hat uns die Gegenwart gelehrt. Dagegen
fann nur ftaatlide Bereinigung helfen. Hier find natürliche Grenzen gefeht
in der Macht der Intereſſen, die geeignet find, nationale Verſchiedenheit zu
überbräden und dauernd zufammenzufhmieden, und in dem Einfluß, den
innerer Gehalt, Wert und Werbefähigleit der bedrohten Kulturgüter vereinigend
auszuüben vermögen. Selbitverftändlid dürfen fih dieſe Kräfte nicht in
geiftlofer AusrottungSarbeit von nationalen, ſprachlichen und gefchichtlichen
Überlieferungen erſchöpfen, fondern e8 gilt foldhe zu erhalten, foweit fie ihrerfeits
Kulturwerte darftelen und nur den Willen ihrer Angehörigen — eben durch
Schub und Pflege gemeinjamer Ziele — zu gewinnen und zu fefleln. Das
find große Aufgaben für das Staatsrecht und für politiihe Fähigkeiten und Tall.
Aber es mögen curae posteriores fein. Was das Nationalitätsprinzip
anbelangt, fo können wir heute jagen, daß es feine Allgemeingültigleit bean-
ſpruchen Tann, daß es eine Theorie ift, die politiſchen Machtgelüften eine
wiſſenſchaftliche Form verleihen fol. Was von ihm zu halten ift, hat Meinede
in dem Sag zufammengefaßt: „Das geſchichtliche Leben ift viel zu reich, um
in die monotone Formel irredentifhen Nationalismus gepreßt werben zu
können.“
Napoleons Plan einer Invafion Englands 1803-1805
Don Profef[ior Dr. Willi Mäller
ah dem Frieden von Luneville, der den zweiten Koalitions-
4 SS !rieg 1801 beendete, ftand nur noch England in „splendid
mAh isolation‘“ gegen die franzöfifche Republit im Felde, und als
| William Pitt zugunften Addingtons von der Leitung der Gefchäfte
zurücdgetreten war, einigte auch Diefes fi 1802 im Pertrage
von Amiens mit dem Eriten Konful. Der Tempel de8 Janus war bamit
geihloffen, aber der neu begründete Zuftand ſchuf nur eine kurze Rubepauje
in dem Kampfe der Böller.
Bei allen Schiffahrt treibenden Nationen herrſchte feit langem heftiger
Groll gegen das übermütige England, das feine Überlegenheit zur See rüdfichtslos
ausbeutete. Mit Admiral Homwards Siege über die fpanifhe Armada war der
Grund zu diefer Superiorität gelegt worden, und fühne Piraten wie Drafe
und Frobiſher, die, weitfehauend, in dem Waſſer das Element erfannten, auf
das ihres Baterlandes Größe gegründet werden könnte, hatten als Pioniere
britiſcher Machtentfaltung gewirkt. Infolge der Navigationsalte ri England
dann den größten Teil des Welthandels an fi, e8 ward die Gebieterin der
Meere, legalifierte im SKriegsfalle den Seeraub und legte den Begriff ber
Konterbande nad Willfür aus. Mit Necht Hagte daher Schiller im „Antritt
des neuen Jahrhunderts“:
„Seine Handelaflotten ftredt der Brite
Gierig wie Bolypenarme aus,
Und das Reich der freien Amppitrite
Bill er fchließen wie fein eigned Haus.“
Dem gegenüber ging auch Bonaparte in der Ausbreitung feiner Macht ſkrupellos
vor, und feine Übergriffe wurden von dem eiferfüchtigen Mitbewerber um bie
Weltherrſchaft bald als unerträgliche Anmaßungen empfunden; immer deutlicher
itellte fi) heraus, daß zwiſchen Frankreich und England fo wenig ein gutes
Einvernehmen herrſchen könne wie einjt zwifhen Nom und SKarthago, und im
Mai 1803 erfolgte eine neue Kriegserflärung Britanniens an die Republik
jenjeit des Kanals.
Sie weckte in dem unternehmungsluftigen Lenler des franzöſiſchen Stactes
den Gedanken einer Invafion bes Sinfelreihes. Der Verlauf der Geſchichte
140 Wapoleons Plan einer Invaſion Englands 1803—1805
zeigte, daß die Ausführung eines foldhen Planes keineswegs zu den Unmöglichleiten
gehöre. Wie einft Julius Cäſars Legionäre den Briten die Üüberlegenheit
römiſcher Kriegskunft vor Augen geführt hatten, jo machten ſich fpäter die
Angelſachſen, als Hilfspölfer gerufen, zu Herren des Landes, und wenn die
Dänen, die nad ihnen den Schreden ihres Namens auf der ganzen Inſel
verbreiteten, ihre Herrihaft den ftammverwandten Normannen zu binterlafjen
vermocdhten, fo wieſen dieſe jelbit ihre Erbberechtigung 1066 bei Battle-Abbey
mit dem Schwerte in der Hand fo intenfiv nad, daß Herzog Wilhelm der
Eroberer fi) bereit3 am Weihnachtsfeſte desfelben Jahres in Weltminfter zum
König krönen laſſen konnte. Freilich, die britiichen Kelten der cäfartanijchen
Zage und die fpäteren Bewohner Englands bis ins zweite Jahrtauſend nad)
Ehrifti Geburt hinein, waren noch nicht das an ftolzer Kraft den kontinentalen
Nachbarn völlig ebenbürtige Volk, das Napoleon den Fehdehandſchuh hinwarf;
gegen diefes neuzeitliche Britenreih, das ſich im Vereine mit dem ſchützenden
Elemente feiner Feinde jehr mohl zu erwehren wußte, tollfühn vorzugehen,
warnte dringli genug die Umfchrift der befannten Denkmünze: „Afflavit
Deus, et dissipati sunt.‘“
Aber der Konful der ftärkiten Feſtlandsmacht traute fi die Kraft zu,
fein Ceterum censeo in die Tat umzufegen; nur das war die Frage, wie
man es fertig bringen würde, den trennenden Graben zu nehmen. Ein Linien-
Ihiff faßte für ein paar Tage 600 bis 700 Dann, eine Fregatte vielleicht die
Hälfte. Mean hätte alſo neben den 40 Linienſchiffen, über die man an Drt
und Stelle verfügte, noch etwa 200 Fregatten nötig gehabt, um eine Armee
von nur 100000 Dann überzujegen; eine Anzahl Fahrzeuge, die zu ftellen völlig
unmöglid war, ganz abgejehen davon, daß fi an der ganzen SKüfte von
Dftende bis Le Havre nicht ein einziger Hafen fand, der imjtande geweſen
mwäre, fie aufzunehmen. Man dachte unter diefen Umftänden zunächſt an
ſchwimmende Batterien, wie fie 1781 bei der Belagerung Gibraltars verwendet
worden waren, fam davon aber bald zurüd und verfiel darauf, flache Boote
zu bauen, die der franzöfiichen Häfen wegen nur einen geringen Tiefgang haben
durften und das Stranden zur Ebbezeit vertragen konnten; folder Fahrzeuge
wurden von Juli 1803 an drei Arten bergeitelt.e. ES waren erftens große,
folide konſtruierte „Kanonenſchaluppen“ (chaloupes cannonietres, ſcherzhaft
auch „coquilles de noix“ genannt); dieſe trugen je vier Geſchütze groben
Kalibers, zwei vorn und zwei hinten, waren aufgetafelt wie Briggs, das heißt
mit zwei Majten verfehen, wurden bedient durch vierundzwanzig Matrofen und
fonnten eine Kompagnie Infanterie (100 Mann) mit allem Zubehör faflen.
Die Fahrzeuge der zweiten Art, die man „Stanonenboote“ (bateaux cannoniers)
nannte, waren weniger ſtark bewaffnet und weniger handlich; fie beförderten
außer einer Kompagnie Infanterie auch Feldartillerie. Bon den zwei Kanonen,
mit denen man fie verjah, war die eine ein Feldgeſchütz, daS auf einer Lafette
ruhte. Beigegebene Artileriemunition wie zwei in einem Stalle untergebrachte
Napoleons Plan einer Invaſion Englands 1805— 1805 141
Pferde ermöglichten, e8 fofort nach der Landung auf feindlidem Gebiete in
Taͤtigleit zu bringen. Die Bedienung jedes diefer Boote erforderte nur ſechs
Matrojen; weitere Munition und der Net der Beipannung mußte auf
Zransportihiffen folgen. Die dritte Art Fahrzeuge, leichter und mobiler, mit
nur zwei Fuß Tiefgang, beftand aus großen, fchmalen, fechzig Fuß langen
Kähnen oder „KRriegsbooten” (peniches); fie hatten ſechzig Ruder, Leichtes
Segelwerk und fuhren ziemlich fchnell. Diefe trugen etwa ſechzig Soldaten, bie
auch als Ruderer ausgebildet waren, und nur zwei oder drei Seeleute; Angriffe
abzumehren, ftand eine Heine Haubite zur Verfügung. Da insgefamt mehr
al8 150000 Mann, daneben 400 Geſchütze und 10000 Pferde übergeſetzt
werden follten, berechnete man die Kriegsflotte auf rund 1200 und die Zahl
ber Transportiäiffe auf etwa 1000 Boote. Das ganze Geſchwader umfaßte
alfo ungefähr 2200 Fahrzeuge. Man mußte in die Zeiten des Kerres zurüdgeben,
um Ähnliches zu finden.
In den Seehäfen allein konnte diefer enorme Bebarf nicht bergeftellt
werden, da es dort an binreichenden Werften wie an Holz und Arbeitsträften
mangelte; daher bededten ſich die Ufer der größeren franzöftihen Flüſſe mit
impropvifterten Anlagen für Schiffsbau. Tauſende von Arbeitern holzten bie
nahen Wälder ab, überall wurde gezimmert und gehämmert (in Paris allein
lagen gegen hundert Kanonenfchaluppen auf Stapel), und nad) verhältnismäßig
furzer Zeit fuhren die flachen Boote ohne Schwierigkeit die Ylüffe abwärts dem
Meere zu. Für die ZTransportflotte, die den SKriegsfahrzeugen Lebensmittel,
Waffen, Pferde, einen Belagerungspart und mandjes andere nachführen follte,
wurden auch Filcherfähne, die man am Meeresufer zu Genüge befommen konnte,
angelaufl. Manche Departements mie auch die größeren Stäbte ftellten der
Regierung nad) Maßgabe ihrer Mittel Flachboote zur Verfügung; ja es griff
eine allgemeine Begeijterung Plab, und die in Paris zirkulierenden Subffriptions-
liften bededten fi bald mit einer Menge Unterfchriften. Dazu wurden ganz
Frankreichs Gießereien ftark in Anſpruch genommen durch die Herftellung von
Schiffskanonen; das Departement Cote d’or allein Lieferte Hundert in Creufot
verfertigte derartige Gejhüte.. Mit Hilfe der Binnenſchiffahrt wurde dann
Mehl zur Herftelung von Zwieback beſchafft, ferner Neis, Hafer, Pölelfleiſch,
Wein und Branntwein, aus Holland auch große Mengen Käſe. Und nun kam,
September 1808, der Augenblid, wo alle diefe Schiffe, die weit zerftreut in
den Flußmündungen lagen und durch die Engländer ſcharf beobadtet wurden,
in Boulogne und einigen Tleinen Nachbarhäfen konzentriert werden mußten.
Die Aufgabe fchien nicht Teicht zu löfen, aber Napoleon wußte Rat. Er befahl,
dicht am Ufer hinzufahren und die Boote auf den Strand laufen zu laffen,
fals fie von englifhen Kreuzern bedrängt würden; allzufehr durften dieſe
der Sanbbänfe wegen fi dem Geftade nicht nähern, und die Boote machte
das nächſte Hochwaſſer wieder flott. Dazu verteilte er über die ganze Stüfte
bin SKavallerieabteilungen, denen leichte Artillerie beigegeben wurde; zur
142 Xapoleons Plan einer Invafion Englands 1803—1805
Ebbezeit konnte diefe fogar im Wattenmeere operieren und gewährte im Verein
mit zahlreichen Strandbatterten den franzöfifhen Schiffen genügenden Schub.
Bor allen Dingen bedurfte der Erfte Konful zu einer Invafion Britanniens
natürlich aber eines Heeres, das an Zahl und Drganifation nichts zu wünſchen
übrig ließ, und fo wurde die „Armee von England“, wie er fie nannte,
verfammelt; bei Boulogne lagen bald 100000 Dann zur Einjchiffung bereit,
Heinere Abteilungen in der Nachbarſchaft. Die Soldaten fampierten in Baraden,
die aus den Reiten niedergelegter Wälder bergejtellt waren, und die Pferde
brachte man in Bretterftälen unter. Das ganze Lager, von langen Straßen
durchzogen und in Quartiere eingeteilt, gli einer Kriegerftadt. Seit dem
Herbite 1803 übte man die Leute im Befteigen und Berlaffen der Schiffe, das
auf Signale erfolgte; die Pferde aber, die ein die untere Leibpartie umfafjendes
Geſchirr trugen, brachte man mit Hilfe von Gegelftangen, melde als Krane
verwendet wurden, in die Boote. Seit Dftober fegelte das ganze Gefchwaber,
wie Thier8 e8 in feiner Histoire du Consulat et de l'Empire anſchaulich
ſchildert, fleißig zu jeder Tageszeit aus dem Hafen hinaus und übte am nahen
Meeresgeftade das Ausihffen. Soldaten wie Matrojen, die im beiten
Einvernehmen lebten, machten diefe Übungen ganz gern, und um fie bei dem
beſchwerlichen Dienfte in guter Laune zu erhalten, wurde ihnen höherer Lohn
als gewöhnlich gezahlt.
Als Zeitpunft der Überfahrt faßte Napoleon zunächſt das Ende bes
Herbfte8 1803 ins Auge, dann den Anfang und fpäter die Mitte des folgenden
Winters; aber immer neue Vorkehrungen ſchienen erforderlich und nötigten den
Termin binauszufdhieben. Dazu begann der Konful nad) den bisher gemachten
Erfahrungen doch allmählich zu zweifeln, ob er in feinen flachen, ganz auf ſich
felbft geftellten Booten das richtige Beförderungsmitlel für eine Inpafionsarmee
geſchaffen habe. Es fehlte ihnen, wie fih mehr und mehr berausitellte, das
Allerweſentlichſte: Beweglichkeit und Kampffähigkeit. Infolge davon wurde der
bisherige Plan, der dem Haupte der franzöfiihen Republik den nicht fonderlic)
ſchmeichelhaften Beinamen eines „Don Quixote de la Manche“ eingetragen
hatte, endgültig aufgegeben und ein anderer an feine Stelle geſetzt. Napoleons
fahmännifhe Berater verlangten nunmehr die Unterftüäßung der Ylachboote
Durch eine ftarke, aus Kriegsichiffen beitehende Begleitflotte. Bet der Verteilung
der franzöfifhen Marine über ale Meere und ihrer dadurch erſchwerten
Konzentration mußte dann aber die Ausführung des Projektes noch weiter
binausgefyoben werden; dazu fam die Inanſpruchnahme Bonapartes durch die
Änderung der Verfaffung, die aus dem Konful einen Kaiſer machte. Alles das
drängte die Unternehmung gegen England längere Zeit in den Hintergrund.
Kaum aber hatte Napoleon die Hände frei, als er fie mit dem alten Eifer und
friiher Begeifterung wieder in Angriff nahm. In diefer Zeit foll der Amerilaner
Zulton ihm fein neu erfundenes Dampfboot zum Transporte der franzöfiichen
Soldaten angeboten haben, aber abgewieſen worden fein, da die auf der Seine
Hapoleons Plan einer Invafion Englands 1805—1805 143
gemachten Verſuche den Anforderungen, die man an das Beförberungsmittel
ftellte, nicht entfprodhen hatten. „Der Herkules des neunzehnten Jahrhunderts“
— der Dampf — lag eben no in der Wiege. Auch ein von demfelben
Erfinder konſtruiertes Unterfeebot mit Torpeboladung erwies fich als unzulänglich
für den Kampf gegen engliſche Schiffe, die der angreifenden Flotte etwa den
Veg verlegen könnten. in wenig fpäter ermog man, Truppen durch riefige
Luftballons, von Gay-Luffac -verbefjerte Montgolfieren, hinüberfchaffen zu laffen.
Doch auch diefer Plan wurde bald wieder aufgegeben.
So kam der Hodfommer 1804 mit feinen kurzen, hellen Nächten heran,
in denen eine heimliche Überfahrt, wie fie der Winter begünftigte, nicht gut
denfbar war; man mußte auf Kampf und Abmehr gefaßt fein, und dazu eben
bedurfte man einer Kriegsflotte. Auf Grund folder Erwägungen beftimmte
en da8 Datum des 2. Yuli tragender Plan Napoleons, der in Toulon
tommandierende Admiral Latouche⸗Treville folle das ihn beobachtende feindliche
Geſchwader zu durchbrechen fuchen und mit feinen zehn Linienfchiffen und vier
Fregatten in See ftehen, ein in Cadiz liegendes franzöfifches Kriegsihiff an
fih ziehen, die in Rochefort von Collingwood blodierten fünf Linienfhiffe und
vier Fregatten befreien und dann dem Stanale zuftreben, um die in den
dortigen Häfen liegende Flottille nad) England zu geleiten — von den vielen,
ſtets wechſelnden Projekten vielleiht das verſtaͤndigſte. Da traf den Kaiſer ein
barter Schlag. Mitte Auguft rief der Tod Latouche-Trevile ab, den kühnſten
und vielleicht bedeutendften der damaligen franzöfifhen Seeoffiziere. Der bald
ernannte Nachfolger, Billeneuve, mußte fi) erft einleben, konnte vor Dftober
nicht ausfegeln und vor November nicht im Kanal fein. So ruhten einjtweilen
notgebrungen die Vorbereitungen zu dem Übergange nad) England, nicht aber
der raftlofe Geift des Kaiſers, der einen neuen Plan entwarf. Demzufolge
folten drei Expeditionen nad) verfchiedenen Richtungen bin auslaufen und in
der Verwirrung, die dieſe vorausfichtlih britiide Kolonien bedrohenden
Maßnahmen, wie man meinte, in den leitenden Londoner Kreiſen hervorrufen
dürften, franzöfifde Truppen nah Irland geworfen werden, wo dann ein
Aufftand gegen die englifhe Herrfchaft mit Sicherheit zu erwarten war. Diefem
Zwecke zu dienen, wurde die unter Ganteaume ftehende Flotte von Breit
beftimmt, die fi) allerdings erft dem fie blodierenden Cornwallis entziehen
mußte. Sie follte 18000 Dann auf die eine franzöfifhe Invafton fehnfüchtig
erwartende Inſel hinüberführen und dann zurüdkehren, um daS Boulogner
Geſchwader bei feiner Fahrt über die Meerenge zu estortieren. Aber auch auf
die Nealifierung diefes Septemberplane® mußte verzichtet werden, weil es
Santenume nicht glücte, fid den Händen des ihn belagernden Feindes zu
entwinden. Kür den Reit des Jahres 1804 nahmen dann andere Ereigniffe,
zumal die Vorbereitungen zur Krönungsfeier, den Kaifer fo ſehr in Anfpruch,
daß er von der englifhen Unternehmung abgelenkt wurde; doch fiel in dieſe
Zeit ein ihn hoch willlommenes Ereignis. Spanien hatte fi) zur Zahlung
144 Xapoleons Plan einer Invafion Englands 1805—1805
\
von Hilfsgeldern an Frankreich verpflichtet, daher griffen engliſche Schiffe am
5. Dftober eine ſpaniſche Silberflotte, die aus Amerila fam, an; ein Yabrzeug
flog in die Luft, drei andere wurden nad England gebradit. infolge dieſes
Vorganges erflärte die Madrider Negierung den Briten den Krieg und ſchloß
mit Frankreich einen Vertrag, nad) dem fih ihre Flotte unter Admiral
Gravina bei Fortfall der früher feitgefegten Subſidienzahlungen der franzöſiſchen
anſchloß.
Doch war der Kaiſer trotz dieſer Verſtärkung feiner Kriegsmacht infolge
der Aufgabe oder des Scheiterns aller engliſchen Projekte in leiner beneidens⸗
werten Lage. Nach den gewaltigen ſich nun ſchon über einen Zeitraum vom
anderthalb Jahren binziehenden Rüftungen verlangte die Eitelleit der Franzoſen
nad) einer Tat. Wo aber fand ſich die Gelegenheit dazu? Es gab nur einen
Ausweg aus der Klemme: einen Kontinentalfrieg. Und da ſchien das Glück
feinem Günftling allerdings weiter entgegenlommen zu wollen als bei jeiner
maritimen Unternehmung; ja — wunderbares Spiel des Schickſals! — aus
der mißlihen Lage am Kanal half ihm gerade fein bitterfter Hafjer heraus.
Im Mai 1804 Tehrte, nachdem der ſchwache Addington verzichtet hatte, durch
die drohende Gefahr der Invaſion gerufen, William Pitt in das Miniſterium
zurüd, und fofort begannen nun Unterhandlungen mit den Yeltlandsitanten
und DVerfuche, eine neue Vereinigung gegen Napoleon zuftande zu bringen, bie
das Schwergewicht feiner Macht von dem Inſelreiche ablenten foltee Und dem
energifchen und gewandten Vertreter der britifchen Intereſſen blieb die Gegen-
liebe nicht verfagt. Die Mahnungen Pitts fanden zunächft in Petersburg und
bald auch in Wien Gehör: die dritte Koalition begann Tatſache zu werden.
Nun hatte England den Feltlandsfrieg in Ausfidt, der ihm feine drüdendfte
Sorge abnehmen follte, und konnte der Genialität feines großen StaatSmannes
mit den Worten feines großen Dichter Huldigen:
„Die Klugheit will ich fegnen,
Wenn Frankreichs fih und Oſterreichs Schuß begegnen!“
„Britifher Haß und britifches Gold“ waren, wie Napoleon ſpäter bei Ausbruch
des Krieges feinem Heere zurief, Stifter des Bundes der Kontinentalftaaten
geworden. England konnte alfo mit dem Verlauf der Dinge zufrieden fein, nicht
minder aber Napoleon; denn erwies fi der Eintritt in die Welt auf der
andern Seite des Kanals au) 1805 als unausführbar, durfte er ficher fein,
auf dem Feftlande Erfolge zu erzielen: feine Boulogner Armee war allen
Eventualitäten gewachſen.
Zunächſt freilich dachte er immer nod, vor dem Ausbruch des Kampfes
auf dem Kontinente mit dem Inſelſtaate fertig zu werden; fobald dann bie
britifhen Hilfsgelder ausblieben, meinte er wohl nicht mit Unrecht, würden
die Bündniffe fich von ſelbſt auflöfen. Er faßte das Landungsprojelt im
Jahre 1805 aljo wieder feit ins Auge, erkannte aber immer deutlicher, daß
er nicht imftande fein werde, den Kanal zu paffieren, bevor feine Kriegsſchiffe
Napoleons Plan einer Invaflon Englands 1805— 1805 145
ihm den Übergang frei gemacht hätten. So wurde denn befchlofien zu ver-
juchen, ob man nicht infolge einer geſchickten, durch die franzöftiche Flotte aus⸗
zuführenden Täufhung auf Turze Zeit die Herrfhaft über die Meerenge zu
gewinnen vermödte; eine Berlettung glüdlicher Umftände Tonnte ben Plan
gelingen laſſen. Dieſer lief im einzelnen darauf hinaus, den Hauptteil der
britifden Geſchwader durch einen Scheinangriff auf außereuropätfche Beflgungen
Englands aus der Nähe des Mutterlandes wegzuloden, dann ſchnell eine ftarfe
franzöftfche Flotte im Kanal zu ſammeln und, durch diefe gedeckt, die Flachboote
mit den Landungstruppen an Bord binüberzuführen. Am 2. März gab ber
Kaifer die bezüglichen Befehle. Ihnen zufolge follte der, wie oben bemerft, in
Breit kommandierende Ganteaume fich beim erften Aquinoftialfturme, ber bie
Engländer die gefährliche Kanalküfte zu meiden zwingen würde, der feindlichen
Blodade entwinden, nad) Ferrol jegeln, die vor dem Hafen liegenden engliſchen
Schiffe vertreiben und, verftärkt durch alle dort ftationierten franzöſiſchen und
ſpaniſchen Fahrzeuge, nad) Weftindien fegeln. Gleichzeitig wurde das Boulogner
Geſchwader unter Billeneuve beordert, nach Cadiz aufzubredhen, die daſelbſt
anfernden Schiffe an fi) zu ziehen und dann ebenfalls feinen Kurs nach dem
Antillenmeere zu nehmen. Bon dort follte dann die gefamte Streitmadht fo
fchnell wie möglich nad) Boulogne zurückkehren, um die Überfahrt der Landungs-
flotille zu deden. Man hoffte, der Admiral Nelfon würbe mit einem bedeutenden
Teile der britifchen Schiffe der verbündeten Flotte folgen, diefe ſich ihm aber
in dem Labyrinthe des weftindiichen Inſelmeeres entziehen und vor ihm nad
Europa heimlehren Fönnen.
Die Ausführung des etwas fomplizierten Operationsplanes ließ fih anfangs
günftig an: es glüdte Villeneuve, die Wachſamkeit Nelſons, der bei Barcelona
freuzte, zu täuſchen, am 80. März aus Zoulon zu entlommen, ſich in Gabiz
mit Gravina zu vereinigen und das gejamte Geſchwader nad) Martinique zu
führen, der Stätte, wo er mit Ganteaume zufammentreffen ſollte. Doch am
4. Juni befam er die Nachricht, daß biefer nicht habe auslaufen können; das
Agquinoftium war — feit Menfchengedenken zum erften Male — ohne die
üblichen, die ganze Natur revolutionterenden Erſcheinungen vorübergegangen.
Nelion aber hatte mittlerweile erfannt, wohin die Fahrt PVilleneuves gegangen
war, und ebenfalls die Antillen aufgeſucht, infolge deſſen trat der Yranzofe
am 10. Juni die Heimreife an. Er gedachte, den Vorfprung an Zeit, der ihm
blieb, dazu zu verwenden, Ferrol, Rochefort und Breft zu deblodieren und ſich mit
den in diefen Häfen ftationterten Geſchwadern zu vereinigen; dann vermochte er,
mit der enormen Zahl von 56 Schiffen im Kanal aufzutreten. Blieb die Heimfehr
Billeneuves verborgen, lonnte der Plan in der Tat glüden, denn England batte im
Augenblid ſchwerlich eine Seemacht zur Stelle, die ſtark genug war, der franzöfifch-
ſpaniſchen Flotte mit Erfolg zu begegnen. Aber Nelfon, der bald von dem
Verſchwinden feines Feindes hörte und deffen Abficht, Napoleon die Überfahrt
nad) England zu ermöglichen, abnte, fchidte feiner nun ebenfalls die europäifchen
Grenzösten II 1915 10
146 Napoleons Plan einer Invaſion Englands 1805— 1805
Gewäſſer aufſuchenden Streitmadt eine fchnellfegelnde Brigg voraus, um bie
englifhe Admiralität zu warnen. ‘Man vermutete in London fehr richtig, daß
die Fahrt Villeneuves auf Yerrol gehe, und fand Zeit, ihm fünfzehn unter
Admiral Calder ftehende Linienfhiffe entgegenzumerfen, denen er ſich plößlich
gegenüberfah, als fein Geſchwader am 22. Juli bei Kap Finisterre in bie
Nähe der ſpaniſchen Küfte gelangte. Es kam bier zu einer Schladt, die ument«
Ichieden blieb. Wielleicht hätte der franzöfiihe Admiral nun immer noch den
alten Plan ausführen und die ihn ſehnſüchtig erwartende Landungsarmee
konvoyieren lönnen; aber er mußte natürlih, da feine urſprüngliche Abficht
augenjcheinlih vom Gegner erraten war, gewärtig fein, bei einer Yahrt nad
Norden eine ftärlere feindliche Streitmadt, eventuell Nelfon und Calder ver-
eint, fi gegenüber zu finden, und mit einer foldhen bei der zweifellojen
Überlegenheit der gegnerifhen Schiffe und Mannfchaften den Kampf aufzunehmen,
war in ber Tot ein fehr gewagtes Beginnen. So verzichtete er darauf, nad)
dem Kanal zu fegeln, und begab ſich Mitte Auguft in den woblbefeftigten
Hafen von Cadiz.
Napoleon, deffen Vorbereitungen ſoweit gediehen waren, daß er ficher
glaubte, die Überfahrt im Augujt unternehmen zu können, erfuhr am 20. Juli
in Paris aus engliiden Zeitungen, Billeneuve fei auf der Heimkehr von
Amerika begriffen, und begab fi, das Herz von Hoffnung geſchwellt — und
um fo mehr, als er Neljon noch in Weftindien wähnte — Anfang Auguft
nad) Boulogne; jeden Augenblid, meinte er, würden feine Schiffe vor dem
Hafen erfheinen. Dan kann fid) die Unruhe vorjtellen, mit der der Hoffnung?»
freudige wartete, was die nädjite Zukunft bringen würde; von einem erhöhten
Punkte des Geftades fchaute er ab und zu nach der britiſchen Küfte hinüber,
wie einft Mofes’ Auge vom Berge Nebo aus das Land feines Sehnens fuchte,
das er nie betreten ſollte, und täglich fchritt er die Klippen ab oder ritt rube,
108 den Strand entlang, den Blid, der die Armada erjpähen follte, geipannt
auf das Meer gerichtet. Aber die Segel PVilleneuves wollten fih nicht am
Horizonte zeigen. Nach drei Wochen vergeblihen Harrens erkannte der Saifer
ſchweren Herzens, daß er auf feine Flotte nicht mehr rechnen dürfe; nun mußte
die antifranzöfifde Koalition nicht an der Themfe, fondern an der Donau
gefprengt werden. Über Villeneuve aber goß Napoleon die volle Schale feines
Zornes aus und legte ihm das Scheitern des ganzen Planes, eines ber
bedeutendften feines Lebens, zur Laft. Doch ift es ihm damit ſchwerlich Ernſt
geweſen; war er von der Berechtigung feiner Vorwürfe wirklich überzeugt —
warum fette er den unfähigen Admiral nit ab? Deſſen Rückzug lieferle dem
Raifer, der die Schwierigkeit der Erpedition gegen England mit jedem Jahre
deutlicher erfannte, vielmehr einen höchſt willlommenen Vorwand, davon abzu-
fteben, ohne daß er jelbit fi in den Augen der Welt blamierte, für die _
Villeneuve der Sündenbod blieb. Man Tann kaum zweifeln: der Eontinentale
Feldzug, in dem der Kriegsfürft bei feiner eigenen Genialität und der Befchaffen-
Uapoleons Plan einer Invaſion Englands 1803— 1805 147
beit feines Heeres feinen Mikerfolg zu fürchten hatte, erſchien ihm als ein
erwünſchter Ausweg, ſich von dem verfehlten Unternehmen loszumachen; er war
der zweite Pfeil, den der Verfchlagene im Köcher trug. |
Es bleibt noch die viel erörterte Frage zu beantworten: bat Napoleon
im Ernſt den Übergang nad) England geplant. oder wollte er feine Feinde
aur in fteter Angjt vor einer Invaſion halten? Für beide Auffaffungen laſſen
fi in feinen eigenen Äußerungen Stützen finden, und die Anſichten wohlunter⸗
rihteter Zeitgenofjen des großen Mannes gingen darüber fo gut auseinander,
wie heute noch die Meinungen fompetenter Beurtetler. Aber follten alle die
gewaltigen Vorkehrungen wirklih nur ein Gaufelfpiel und der ganze mächtige
Apparat nichts als ein Popanz zur Irritation englifher Narren. geweſen fein?
Sollte der Kaifer die enormen Koften, die die Seerüftung verurfadhte — fie
beliefen fi auf viele Millionen — bewußtermaßen für nichts und wieder
nichts aufgewendet und das ganze Lager von Boulogne von vornherein nur
errichtet haben, um eine feftländifche Operation zu maslieren? Iſt es denkbar,
daß die umfangreichen Aftenftüde, die wir in dem. mit wahrem Bienenfleike
julammengetragenen, Ddidleibige Bände umfafienden Merle Desbrieres
(Projets et tentatives de debarquement aux iles britanniques) gefammelt
finden, nur eines Phantasmas megen gefchrieben und die unausgefehten
Änderungen und vermeintlichen Verbefferungen des Landungsplanes vorgenommen
fein allein einer Spiegelfedhterei zuliebe? Nein, das Projekt war ficherlich
feine inte; es handelt ſich vielmehr um ein fehr ernfthaft ins Auge gefaßtes
urd jahrelang mit wahrer Leidenſchaft verfolgtes Beginnen; äußerte der hart⸗
nädige Imperator doch, als er feinen Plan aufgeben mußte, Taleyrand gegen-
über: „Habe ich den Kontinent zur Ruhe gebradt, werde ih an den Dean
zurüdlehren, um auf3 neue an dem Frieden zur See zu arbeiten]”
Und auch die Engländer haben die Drohung des ruhmgefrönten, an ber
Spige von anderthalbmal Hunderttaufend Mann ftehenden Feldherrn ernft genug
genommen; das bemweifen ihre Vorkehrungen zur Abwehr. 20000 Seeleute
und Filcher bielten die Küſtenwacht hinter der vorgefchobenen Linie der Brigas,
Korvetten und Fregatten, die von der Scelde bis zur Somme, Schiff bei
Schiff, Ausſchau hielten und fid) fogar nachts durch Signale verftändigten.
Aber obgleih die Briten mit Recht in erfter Linie Wind und Wellen für die
Schusgötter ihrer Heimat anfahen und fid, wie einft die Bürger Athens auf
die „hölzernen Mauern“ verließen — zur Sicherheit wurden doch auch im
Innern wohlerwogene Vorbereitungen getroffen; es ftanden” die Franzofen zu
empfangen, 100000 Dann Reguläre bereit, dazu 80000 Milizen und angeblich
400000 Freimillige — diefe freilihd ohne genügende Ausbildung und unter
mittelmäßigen Dffizieren. Die britifhe Nation, gewohnt, Kriege zwar mit
eigenem Golde, aber mit fremdem Blute zu führen, ſah fi nun plößlich
gezwungen, felbft die Waffen zu ergreifen. Doh man improvifiert feine
Soldaten und noch weniger Männer, die fie zu führen verjtehen.
10*
148 Xapoleons Plan einer Invafion Englands 18053— 1805
Endlich muß man fragen: Tonnte der Plan einer Invaſion Englands
überhaupt gelingen? Und da darf man allerdings von vornherein zugeftehen:
das ganze Projelt hatte etwas Phantaftifches; es war ein Abentener, freilich
ein gigantifches, etwa wie fpäter der Zug nad) Rußland. Aber damit ift nicht
gefagt, daß es geradezu als Schimäre anzufehen fei; im Gegenteil, e8 ließ fich
fo gewiß verwirklichen, wie es forgfältig vorbereitet war; nur etwas mehr
Glüd mußte der Kaiſer haben. Ohne Zweifel konnte der neue Pharao in den
Fluten verfinten, ehe er Britannien erreichte; war er aber einmal gelandet,
wer wollte ihm widerftehen? Die engliſche Armee war bei der Länge ber von
ihr zu ſchützenden Küfte arg zeriplittert und aud wohl den Truppen nicht
gleichwertig, die bald bei Aufterlig und bei “Jena bie tüchtigften Heere Europas
zu Boden warfen.
„Ringsum den Erdball ftedft du in Brand, um zu plündern im Wirriwarr,
Ahnlich dem gierigen Hai ftreichft du dahin durch die See“,
- jo ſchildert der belannte ſchwediſche Dichter Eſaias Tegner die maritime
Taãtigleit Englands, aber er propbezeit auch:
„Do an dem Strande einmal fteigt dir der Räder empor”,
und es fehlte nicht viel, fo übernahm Napoleon diefe Rolle eines Erekutivbeamten
der feefahrenden Menſchheit. Denkbar ift ja allerdings, daß Nelfon nad) des
Kaiſers Übergang möglichft viele englifche Schiffe fammelte, fi) mit dieſen
in den Kanal legte und fo die Franzoſen von ihrer Heimat abſchnitt; dann
wäre Rapoleon in dem von ihm eroberten nfelreiche gewiffermaßen gefangen
gewejen. Aber einer fiegreihen Armee gegenüber, die auf britiidem Boden
ftand, würden bie Engländer aud dann wahrſcheinlich zum Frieden geneigt
geweſen fein.
Dod das wogenumgürtete Land, das fie bedrohten, haben bie franzöftfchen
Krieger nie gejehen; Nelfons Steg bei Trafalgar, faum hoch genug zu bewerten,
befreite e8 definitiv von der Beforgnis vor napoleonifhen Landungsplänen: der
Dreizad blieb den Briten, und der Union Jack beherrfchte nach wie vor fraglos
die Meere.
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— 2 | ff
Wehrkraft und Siedlung
Don Walther Elaffen
in recht falſches Bild machen fi) die meiften von den Zuftänden
in Berlin Dft, indem fie fih einbilden, daß ein guter Zeil ber
Männer im Kriege ift. Leider trifft das für Berlin durchaus
nicht zu. Nicht einmal ein Drittel der jungen Männer wirb bei
I der Mufterung militärtauglich befunden. Natürlich ift bier ein
ziemlich bober Prozentiag von Gebildeten und Kaufleuten zu zählen. Aber
gerade auch bei den ungelernten Arbeitern ift der Prozentfab der Untauglichen
fehr groß. Die Statiftil ergibt, daß eine in die Großftadt verpflanzte Arbeiter-
familie durchſchnittlich in der vierten Generation ausftirbt. Diejenigen, die der
Arbeitslofigleit ober der Vergnügungsfucht zum Opfer fallen, find bald zufunftslos.
Unter diefen Umftänden fällt im Dften Berlins beinahe noch mehr als im
Weiten und im Zentrum die Zahl der Männer auf. Zatfählih ift da kaum
ein Unterſchied gegenüber Friedenszeiten feftzuftellen, ganz anders als auf dem
Lande und in den Heinen Städten, mo zumeilen 70, ja 80 Prozent der jungen
Männer im Felde ftehen.“
Diefen Sägen aus einem Bericht der Sozialen Arbeitsgemeinfchaft in
Dft-Berlin muß man gegenüberftellen, daß in Hamburg, auch in einem fo un-
gefunden Stadtteil wie in Hammerbroof, die Milttärtauglichleit eine viel größere
it. Schon im Auguft madte fi) das Fehlen der Männer bemerkbar, und
foweit meine Beobachtungen reichen, waren die Nefrutenjahrgänge der lebten
jahre weit beffer als vor etwa zwölf Jahren.
Was mag der Grund fo abweichender Erſcheinungen fein? Zunädft ift
Berlin noch viel größer. Daher find eben noch viel größere Maſſen ſchon an-
gefränlelter Menſchen vorhanden, und ſchieben fi in gewiſſen Stadtteilen
zufammen. Hamburg aber hat gewifje Vorzüge. Im ganzen aber bin id)
auch der Meinung, daß der jehige Zuftand des großſtädtiſchen Lebens rettungslos
zum Untergange führt. Was find die Gründe, daß im Augenblid trogbem
Hamburg außerordentlich viel militärfähige Männer geftel!t hat? Erſtlich: die
Hafenarbeit und der Handel überhaupt mit feinen vielen Kutfchern und dem
bewegten Leben auf der Straße hält viele Männer gefund. Zweitens: Hamburg
hat einen größeren Kern homogener Bevölferung als Berlin. Die Niederfachien
aus Holftein, Medlenburg und Hannover herrſchen vor, und aus den breiten,
150 Wehrfraft und Siedlung
bäuerlichen Gebieten bringen fie eine fehr wieberftandsfähige Yamilienfitte mit.
Im bäuerlichen Gebiet ift auch die Arbeiterfamilie im Befl einer ganz er-
beblihen alten Kultur. Es ift Zucht in diefen Yamilien, und damit fommen
wir zu zwei Gefichtspunften, welche bisher bei den Erörterungen über die
Wehrfähigkeit der Jugend viel zu wenig beachtet worden find.
Eins der ſchwierigſten Probleme bei den Jugendkompagnien ift die Disziplin.
Wirkliche Zuverläfftgleit und fittliche Willenskraft find ohne Disziplin gar nicht
berauszubilden. Hier muß man fi) aber Har werden, daß man unmöglid
in einer Gruppe Menfhen Zucht erzeugen kann, wenn die Umwelt durdaus
zudtlos if. Wil man die Jugend militärifch ertüchtigen, fo muß man von
vornherein dorthin feinen Blick richten, wo im bürgerliden und Familienleben
die Gefahr am größten if. Das ift aber unmittelbar nad) der Schulentlafjung.
Wir werden gut tun, nad) einem Zeitalter allzugroßer Weichheit auch in dem
Schulen die Zügel wieder ftraffer anzuziehen, doch nübt das nichts, wenn man
hernach die Jugend völlig ihren Launen und Leidenfhaften überläft. Die
freimillige SJugenppflege ift heute an den Grenzen des Möglichen angelangt.
Auch ftaatliche Unterftügung hilft ihr nicht weiter. Wo die Kinder nad) den
Schuljahren ins Scidfal der jugendlichen Lohnarbeiterſchaft bineingeftoßen
werben, da ift feine Hoffnung für Selbftzudt und Selbfterziehung der Jugend
unter freiwilligen Führern. Die freiwillige Jugendpflege aller Richtungen greift
über die an Zahl lleiner werdenden Kreife der gelernten Berufe faum hinaus,
bat viele Landgebiete faum erreiht. Je mehr wir aber Kinder ſchon uner-
zogener Eltern befommen, um fo fchwieriger wird die Lage. Darum muß die
ſchulentlaſſene Jugend unter die Disziplin des Staates geftellt werden. Der
Drt für diefe Arbeit ift die Fortbildungs und höhere Schule. Denn neben
biefen beiden noch eine die ganze Jugend umfafjende Drganifation zu fchaffen,
ift unmöglih. Woher follte für die Jugend die Zeit, für den Staat Geld und
Erzieherftand fommen? Die Fortbildungsſchule allein kann uns diefe Disziplin
bringen. Die Ausbildung des Lehrerſtandes ift eine der mwichtigften Aufgaben
für. die Zulunft, auch für die Wehrhaftigfeit unferer Nation. Ein Zeil diefer
Lehrer wird die förperliche Ausbildung diefer “Jugend übernehmen.
Anderjeits foll der Sonntag geſetzlich von allen Schulpflichten befreit
werden. Das ift eine foztale Forderung. Aber auch wichtig für die Wehr-
fraft, denn auch für jene Gebiete, aus welcher die legten fittliden Kräfte des
Volles ftammen, muß Raum fein, nämli für daS Leben der Familie und
au für jene freiwilligen Vereine, melde die für das fpätere Familienleben
wertvollen Kräfte de8 Gemüt pflegen. Weltanfhauung, Religion, Poefie,
Kunſt, Wanderluft gedeihen nur im Bereich der Freiheit. Nimmt die Fort-
bildungsjchule die Jugend in Zucht, fo werden erft die Früchte der freiwilligen
Arbeit unter der Jugend recht eigentlich reifen.
Bor allen Dingen aber wird das Alter zwifchen ftebzehn und zwanzig Jahren,
welches wirtſchaftlich felbititändig wird, für die Arbeit in Turnvereinen, Jugende
\
Wehrkraft und Siedlung oe 151
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kompanien oder religiöſen Vereinen eine ganz andere Tüchtigkeit mitbringen.
Der Reichtum deutſchen Weſens und deutſcher Begabung bedarf auch einmal
der Entfaltung in mannigfacher freier Weiſe. Man kann nicht den Weg vom
vierzehnten bis zum einundzwanzigſten Jahre bis in alle Einzelheiten vorzeichnen.
Und damit kommen wir zu dem bis jetzt in der öffentlichen Erörterung
völlig unberührten Geſichtspunkt: die Wehrfähigkeit eines Volles hängt non
ſeiner Zucht ab, und die Zucht letzten Grundes von den Müttern. Die
außerordentliche körperliche Tüchtigkeit und ſittliche Energie vieler großſtädtiſcher
Rekruten danken wir den Turnvereinen und vielen Jugendvereinen. Aber
dieſer Erfolg-war nur möglich, weil wir noch die Söhne tüchtiger Mütter
hatten. Ein feiner Beobachter ſah ſchon die Abnahme der Erfolge voraus, je
mehr Kinder ſchon unerzogener Mütter heranwachſen.
Darum muß die förperlihe wie hausmwirtfchaftliche Erziehung eingeführt
werden für die gefamte weibliche Jugend. Um aber die rechten Wege zu
finden bei den verfchiedenen gewerblichen und örtlichen Vorbedingungen, muß
jeßt ohne Säumen und umfaffend noch viel gründliche Vorarbeit geleiftet werben.
Für eine erfolgreiche Erziehung der Mädchen muß jedenfalls in manchen
gewerblichen Betrieben die weibliche Arbeitszeit verfürzt werden.
Aber niemand glaube, daß diefe Erziehung der Mädchen in der Fort-
bildungsfchule einfach ebenfo gut und volllommen geleijtet werden könne wie die
der ungen. Bei diefen ergänzt die Schule die Erziehung durch die berufliche
Arbeit. Und felbft, wo diefe Arbeit einförmig in kaufmänniſchen und induftriellen
Betrieben geichieht, wird doch in der Kameradſchaft der Arbeit der Junge
anders gehoben und geftählt als das Mädchen. Zu viele der neueren Berufe
genügen nicht, um die natürlichen Kräfte und Fähigkeiten des Mädchens zu
entwideln. So bleibt es babet, daß mit der Auflöfung der Familie als Arbeits»
gemeinfchaft, Müttern und Töchtern das natürliche Feld zu geiftigem und fitt-
lichem Wachstum, und damit auch zur vollen Blüte der Gefundheit genommen ift.
Kiefe Beengung des weiblichen Lebens bebroht die Volls- und Wehrkraft
induftriel arbeitender Nationen. Nur eines hilft: Verbreiterung für das
Leben der Familie. Zu eng ift die ftädtifhe Etagenwohnung, wenn aud)
hygieniſch und künſtleriſch freundlich geftaltet, für eine geſunde Lebensgemein-
ſchaft. Dieſe braudt mehr Raum und mehr einander dienende und tragende
Perſönlichkeiten. Darum muß ein Teil der ftädtifchen und induftriellen Be—
völferung mit Garten und Gemüfeland angefiedelt und die Zahl der wirtſchaft⸗
lich jelbftändigen Heinen und mittleren Stellen muß vermehrt werden. Nur
aus dieſem Arbeitsgrunde können Töchter und Mütter in rechter Kraft der
Nation erwachfen, und alsdann auch wirflich wertvollen neuen weiblichen Be—
rufen ſeeliſch und leiblich tüchtig und felbftändig fild zumenden. Und erit dann
wird großer Segen über der weibliden Fortbildungsſchule fein.
Alle unfere Beitrebungen für Yugend und Wehrkraft find alſo noch nicht
auf dem rechten Boden angelommen, folange wir nicht den Boden unter Die
152 ” Krieg und Schule
fleißige Hand der felbitändigen Familie geben. England tft uns an geiftigen
und fittlihen Kräften unterlegen, weil es den Urquell germanticher Vollskraft
zeritört bat: das Dorf, fo gründlich, daß es im Englifhen für Dorf gar kein
richtiges Wort mehr gibt.
Aus dem Dorf iſt die Urform unferer Familie erwachſen, die Familie
muß wieder breitern Raum haben, dann werden uns auch wieder rechte Mütter
erzogen. Jeder aus dem Felde heimlehrende Mann fol ein heiliges Gelübde
tun, für des deutſchen Volkes Zukunft zu fämpfen, indem er hilft, den beutfchen
Familien den Boden wieder zu erobern.
Hrieg und Schule
Don Dr. R. Shadt
I er Krieg bat auf allen Gebieten des öffentlihen wie privaten
eLebens fo mannigfache Ummälzungen gebracht, daß es wunber-
ARE I nehmen müßte, wenn er nicht auch in dem großen Bereich der
APädagogil nachhaltig eingegriffen hätte. Es war aljo ein nicht
x = freudig genug zu begrüßender Gedanke, das neu geſchaffene und
proviforiih an der Potsdamer Straße eingerichtete Zentralinftitut für Erziehung
und Unterricht, defien Zwede und Ziele die Tagespreſſe hinreichend auseinander-
geſetzt hat, außer mit einer ausgezeichneten und fehr fehenswerten Ausitellung
„Biologiſche Schularbeit" mit einer Sonderausftelung „Schule und Krieg“
zu eröffnen. Diefe Ausftelung will nad den Worten des Führers „an
ausgewählten anfchaulichen Beifpielen zeigen, welde Wirkung der Krieg auf
die Arbeit der Schule und darüber hinaus auf die Erziehung, Bildung umd
Betätigung der Jugend überhaupt ausgeübt hat und vorausfichtlich weiter ausüben
wird.” Sie gibt alfo im mwefentlichen auf folgende Fragen Antwort: Welches Bild
maden fih die Kinder vom Krieg? Wie kann ihre Teilnahme erhalten und
vertieft werden? Inwiefern kann die Schule Kriegsarbeit leilten? und endlich:
wie fann der Krieg erzieberifchen Zwecken dienftbar gemacht werben?
Für den auf Piychologie gerichteten Sinn ift namentlih das die erite
Trage beantwortende Material von allergrößtem Intereſſe. Alle Alter und
Klaſſen find vertreten: von den Kleinften, die nur erjt mit ängftliden Augen
zu ftammeln wiſſen: „Der Krieg ift ſehr groß”, „wir beten, daß der Krieg
nicht zu uns kommt“, oder am Schluffe ihres Heinen, wenige Zeilen langen
Geſchreibſels noch in fchönfter Ehrlichkeit verfihern: „Ich mag nicht in den
Krieg“; den etwas größeren, die fi an ſtark bervortretende zugleich
Krieg und Schule 153
laͤcherlich und fchaudernd empfundene Einzelheiten hängen wie: „Die Rufen
haben Leif“ (Läufe), „Die Franzofen und die Nuffen effen zum Bier
das Bierfilzl auch dazu und die Ruſſen die Schmierfeife auf das Brot“ (aus
der Umgegend eines füddeutihen Gefangenenlagers), wie eine Zehnjährige
ernfthaft belehren: „Und wenn ein Mann bei der Infanterie ift, hat er nichts
zu laden, denn da pfeift gar oft eine Kugel dur das Regiment“, und
tapfere neunjährige Jungen, die im Lapidarftil die offenbar höchſt perfönlich
empfundene Verficherung abgeben: „Der Hindenburg ift ein Mann (nehmt alles
nur in allem!), er bat fon viele taufend Feinde gefangen“, oder folgenden
beldenhaften Traum erzählen: „Ich habe auch in den Krieg gemüßt. Da habe
id vom bin gemüßt. Dann habe ich zwei Negimentern den Kopf berunter-
geihlagen, dann habe ich das Eiferne Kreuz gekriegt“ (adhteinhalb Jahre); bis
zu den größten, die ſchon zufammenhängende Erlebniffe und Beobachtungen
niederjchreiben und mit allerliebften Zeichnungen zu illuftrieren wiſſen, ben
Primanern und Selundanern, die, was fie über die neueften Waffen ober
das Flugweſen gelernt haben, wiedergeben oder, freilich meift allzu fchematifch,
die Urſachen des Krieges erörtern und in an den Vater gerichteten Brief-
auffägen verfiddern, daß keinerlei Abenteuerluft fie treibt, ſich freiwillig zu melden.
Lehrreicher noch als dieſe mit zunehmendem Alter faft durchweg unperjönlicher
und farblofer werdenden Auffäge find unvermutet angeordnete, beitimmte
Fragen beantwortende Niederfchriften, die am beften zeigen, was den Kindern
vom Krieg gegenwärtig ift, welche Einrichtungen, Heerführer, Waffentaten den
meiften Eindrud auf fie gemacht haben. Bor allem aber die freiwillig geführten
Zagebücher Hamburger und Berliner Gemeindefchüler und -Schülerinnen. Hier
ift den Kindern volle Freiheit gelaffen, ſich auszufprechen, viel oder wenig ein-
zutragen, gelegentlich nach freier Wahl in der Schule daraus vorzulefen. Das
Refultat ift geradezu glänzend, man merlt den Kindern förmlid die Freude
an der Schilderung an. Kleine Familienbilder von zartem Reiz oder unfreimilliger
Komik, Straßenerlebniffe, Petroleumnot und Kriegsbrot, Lebensmittelpanif,
Eintreffen der Siegesnachrichten und im Tialelt geführte Geſpräche find mit
naiver Kunft in al ihrer typiſchen Lebendigkeit feitgehalten und wenn es
geihehen könnte, daß die Schreiber nicht8 von einer Veröffentlihdung erführen,
jo wäre e8 dringend erwünſcht, eine Auswahl des Gelungenjten zur großen
Freude des Pſychologen, Erziehers und Hiftorifers zufammenzuftellen und durch
den Drud allgemein zugänglid zu maden. Sehr aufihlußreih find auch
mandje der Tleinen Gedichte. Allerdings ift auch ſchon mander angelejene
Schwulft darunter und viel Phrafe, hier und da aber doch auch ein rührender
oder die Seele warm durchleuchtender unmittelbar ergreifender Naturlaut. So
wenn ein Duintaner einen „Abend in Dftpreußen“ ſchildert:
„Es ſchläft ſchon das Kindlein
Dort hinten in der Hütte
Die Mutter bat, daß Gott den Frieden ausſchütte.“ (1)
154 Krieg und Schule
Oder das ſchlichte Bild von einem zebnjährigen Mädchen:
(2. Strophe) „Und wenn fie abends fchlafen gehn,
Bleibt die Mutter vor der Haußtür ftehn.
Liebe Mutter, auf wen warteſt du?
Ah liebes Kind,
Ah weiß nicht, ob uns Vater wiederfind’t.”
Anderfeits fehlen auch burſchikoſe Verfe nicht, wie das Gedicht einer elf-
jährigen Heinen Berlinerin auf Hindenburg beweilt, defjen dritte Strophe lautet
„Er belam da8 Kreuz der eriten Klaflen
Und ſprach: ich Tann nidt laflen,
Ich muß die Ruſſen hauen,
Sonft werden fie und alles klauen.“
Dder ein fchlagender Klapperreim wie der folgende:
„Hindenburg der feine
Macht ganz Oſtpreußen reine.”
Mehr erreichen ſchließlich die meisten Erwachſenen auch nicht, und meilt
bleiben fie dahinter zurüd, weil die angewandte Mühe dem Effekt nicht ent-
ſpricht. Zu warnen ift entjchieden vor allen Veröffentlihdungen von Kinder
gebichten, die auf die Kinderpſyche einen geradezu verheerenden Einfluß aus-
zuüben pflegen.
Überaus lehrreich ift ferner die große Maffe von Kinderzeihnungen mit
friegerifhen Vorwürfen. Am beliebteften feheinen bombenmerfende Zeppeline
und Stürme auf Schügengräben zu fein, aber auch behaglich oder ſchalkhaft er-
zäblende Blätter von der Ankunft der Liebesgabenautos und ähnliches fehlen
nicht. Beſonders intereffant ift es dabei, die mit größerem Alter allmählich)
bewußt oder unbemwußt auftretende Einwirkung bildliher Vorlagen zu ftudieren,
die übrigens meiltens ſehr frei benußt oder Doch zum mindeſten durch befonders
bervorgehobene oder ergänzte Einzelheiten ſtark belebt werden. Nur Vereinzelte
haben den Drang, wirflih Bilder zu malen, der Mehrzahl ift es nur um die
ſtets Start empfundene Sache zu tun, was natürlich, vor allem bei den ſo⸗
genannten Wapierbildern (aus aufgellebten bunten Papierfilhouetten) ſtarle de-
forative Wirkung nicht ausschließt. Wer fich im einzelnen mit der Piychologie
der Kinderzeichnung beichäftigt, findet bier reichliches, durch die ftoffliche Ein-
beitlichfeit und die verhältnismäßig leicht Tontrollierbaren Vorſtellungen des
Dargeftellten befonders wertvolle8 Material. Auch interefjante plaftifche Dar-
ftelungen, wie die Heldentat von „U 9“ find bier zu feben.
Wie die Empfindung und das Intereſſe für den Strieg und das Wiſſen
von ihm vertieft werden können, dafür gibt die Ausftellung Beifpiele in Hülle
und Fülle. Die Hauptſache iſt Selbjtbetätigung: man ftellt ganz einfach ganze
Zweige der Schultätigleit in den Dienft des Krieges, fo wie e die “Jugend
wehrbewegung, die ebenfall® vertreten ift, mit den ſonſt auf Sport gerichteten
Kräften tut. Dahin gehören Elternabende zugunften des Noten Kreuzes mit
Dellamation und Meinen Vorführungen, Lazarettbefuche mit Chorgefängen, Liebes-
Krieg und Schule | 155
gabenverfand, Goldſammlung, Stridarbeiten, Selbftanfertigung von illuftrierten
Boftlarten, Ausſchnitiſammlungen für VBermundete, Anfertigung von Spielſachen
(aus Zigarrenkiſtenholz au&gefägte, felbitbemalte Tiere ufm.) für unbemittelte
Kinder; al das ift lehrreich und, wenn es gründlicd gemacht wird, vertiefend
zugleich.
Endlich ift der Krieg, wie für die Erwachlenen, fo au für die Jugend
ein Erzieher geworden. Alle Dinge, alle Wiſſenſchaften, alle geübten Fäbig-
feiten belommen mit einem Male eine ganz andere Wichtigkeit, einen ganz
neuen, unmittelbaren Wert. Welche Beziehungen zum Leben gemwinnen jeßt
unter der Hand eines nur einigermaßen geſchickten Lehrers Geſchichte und
Geographie, Mathematil, Phyſik und Chemie, wel anderes Echo ermweden
jegt die Nibelungen, und fogar der ſonſt mühſelig präparierte Cäſar kann ein
bobes Anfehen gewinnen. Wie kann das Unbedeutende wichtig gemacht werden,
wie bedeutfiam wird Nealientunde. Db man in einer Rechenftunde die Ge-
fangenen zufammenzählen läßt oder unter Anwendung der Prozentredinung die
Brotverforgung erörtert, ob man im Franzöſiſchen oder Engliſchen fremdſprach⸗
liche Zeitungen: vorlieft, ob man Flugbahnen der Geſchoſſe oder die Geſchwindigkeit
von Eifenbahnen und Automobilen berechnen läßt, ob man elementare Nahrungs»
mittelchdemie treibt oder die ſchlechte Wärmeleitung von Papier demonftriert —
für all dies findet man eine Fülle von Beilpielen in der Austellung —
überall trägt die Schulftunde doppelte Früchte: das Willen vom Krieg, von
unfrer Stellung in der Welt und unſrer Leijtungsfähigfeit wird erweitert, und
die geleiftete Arbeit wird als notwendig und gewinnbringend erwieſen. Ver⸗
ttefung .und Belebung auf allen Gebieten der Schule, daS hat der Krieg, der
Zerftörende, der Pädagogik gebracht und fih damit wiederum erwieſen als
„Ein Teil don jener Kraft, |
Die ftetd das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft.“
Wer immer die Ausftellung beſucht, wird fie reih an nützlichen Ein-
drüden verlaffen.
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Reiters Morgenruf
Brauner, wach' auf!
Schon gleißt von Oſten gelb und fahl
Der gold'nen Sonne erſter Strahl.
Schon regt's fi rings in Buſch und Strauch.
Schon weht vom Berg mit fühlen Hauch
Der Morgenwind das Tal herauf.
Brauner, wach' auf!
Brauner, wach' auf!
Haft lang genug im Stall geträumt!
Jetzt beißt e8 handeln ungejäumt!
Der Würfel rollt, e8 reift die Saat.
Jetzt gilt das Eifen, gilt die Tat,
Kanonenrohr und Flintenlauf!
Brauner, wach' auf!
Brauner, wach' auf!
Den Sattel ber, und Gurt und Zaum!
Schon blitzt's am fernen Waldesfaum,
Schon bebt der Grund vom Roßgeftampf,
Schon raucht das Land im Pulverdampf,
Schon liegt die Fauft am Degentnauf!
Brauner, wach' auf!
Brauner, wach' auf!
Zum Himmel gellt Trompetentuf.
Nun brauch’, mein Braver, Herz und Huf,
Bis Lanzenftoß und Pallaſchhieb
Die Feinde auseinander trieb.
Attadel Vorwärts! Spring’ und lauf’!
Galopp und draufl! — — —
Brauner, Brauner, wa auf!!
Roderich Key
Uriegstagebuch
17. April 1915. Ein britiſches Unterſeeboot in der Nordſee verſenkt.
18. April 1915. Abgewieſene engliiche Angriffe läng® der Bahn
Hpern—Somines, franzöfiihe Angriffe in den Bogefen zurüdgeichlagen.
18. April 1915. Feldmarſchall v. d. Golg wird zum Ober
tommandierenden der 1. türkiſchen Armee ernannt.
18. April 1915. Rumänien verlängert da® Moratorium um vier
Monate.
18. April 1915. Das engliihde Transportſchiff „Manitou“ von
einem türliihen Zorpedoboot an der Tleinafiatiihen Küfte torpebdiert.
19. April 1915. Abgeſchlagene franzöfiihe Angriffe in den Ars
gonnen, bei Flirey und auf den Sillader Höhen in den Bogefen. Erfolg»
reihe Angriffe unferfeit® am Croix des Carmes, wo wir in die feindliche
Sauptftellung eindringen, weftlid) Avricourt, wo das Dorf Embermenil im
Sturm genommen wird und am Hartmannsweilerkopf.
20. April 1915. Offene Städte im füdlichen Baden von feindlichen
Zliegern bombarbdiert.
20. April 1915. Franzöſiſche Angriffe bei Ze Your de Paris, bei
Megeral und Sondernach abgewieſen.
20. April 1915. Bialyſtok in Vergeltung für ruffiihe Flieger⸗
angriffe auf Anfterburg und Gumbinnen mit 150 Bomben belegt.
20. April 1915. In den Waldlarpathen im obern Ezirofatal
beftige ruffifhe Angriffe unter fchiveren Verluften für den Feind zurüd-
geihlagen, über 38000 Gefangene gemadit.
20. April 1915. Für die Türken erfolgreiches Gefecht gegen die
Engländer bei Ahvaz.
21. April 1915. Abgeſchlagene franzöfiihe Angriffe im Prieſter⸗
wald und am Hartmannsweilerfopf.
21. April 1915. Bei abgewiejenen ruffiiden Angriffen am Uzſoker
Paß in den Karpatben 1200 Mann gefangen.
22. April 1915. Bei Ypern die Orte Langemard, GSteenftraate,
Set Sa und Pilkem im Sturm genommen, den Übergang über den Yern⸗
fanal erzwungen, 1600 ranzofen und Engländer gefangen, 30 Geſchütze,
darunter vier ſchwere engliihe, erobert. Zwiſchen Milly und Apremont
Infanterienahkämpfe.
22. April 1915. Die deutſche Nordſeeflotte unternimmt Kreuz⸗
fahrten in der Rordſee bis in die engliſchen Gewäſſer und ſtellt feſt, daß
die Nordſee frei von feindlichen Schiffen iſt.
28. April 1915. Franzöſiſche und engliſche Angriffe nördlich und
nordöftlih bon Ypern unter ſchweren Berluften zurüdgewiejen, Lizerne
158
Kriegstagebud;
weitlih de Kanals erftürmt. Die Zahl der Gefangenen bat fih auf
2400 Franzoſen, Engländer und Belgier erhöht, der Geſchütze auf 35, eine
große Anzahl Mafchinengewehre, viele Gewehre und fonftige® Material
erbeutet. Bei Beau Sejour einen feindlihen Schüßengraben gejprengt.
Am Aillywalde für und erfolgreider Bajonettlampf.
24. April 1915. Bei Hpern die Orte St. Julien und Kerfielaere
geftürmt, 1000 Engländer gefangen, mehrere Maſchinengewehre erbeutet.
Ein engliiher Gegenangriff weftlih St. Julien unter ſchwerſten Verluften
geicheitert. — Auf den Maashöhen füdweftlihd Combres mehrere hinter⸗
einanderliegende franzöfiiche Linien im Sturm durchbrochen, 1600 Franzoſen
gefangen, 17 Geſchütze erbeutet.
24. April 1915. Schwaͤchliche ruſſiſche Angriffe weſtlich Ciechanow
abgewieſen. Bialyſtok in Vergeltung gegen einen ruſſiſchen Fliegerangriff
auf Neidenburg mit 20 Bomben belegt.
24. April 1915. Im Orawatal in den Karpathen die Ruſſen im
Sturm von der Höhe Oftry geworfen, 662 Mann gefangen. |
24. April 1915. Frankreich verlängert das Moratorium auf
Wechſel ufw. bis 28. Juli.
25. April 1915. Nordweſtlich Zonnebeke 1000 Kanadier gefangen,
die Geſamtzahl der Gefangenen bei Ypern erhöht ſich danach auf 5000 —
Senegalneger, Engländer, Turkos, Inder, Franzoſen, Kanadier, Zuaven,
Algerier —, die Zahl der genommenen Geſchütze auf 45. — Auf den
Maashöhen mehrere Bergrüden weitlih Led Eparges im Sturm ge
nommen und mehrere bundert Gefangene gemadt, in den Bogefen den
Sartmanndweilerfopf wiedergenommen und hierbei 7860 Frangofen ge»
fangen, ſechs Minenwerfer, vier Majchinengewehre erbeutet.
25. April 1915. Heftige Kämpfe in den Sarpathen, öſtlich des
Usfoler Paſſes. Ruſſiſche Angriffe zur Wiedereroberung der Höhe Oſtry
unter ſchwerſten Berluften der Angreifer zurüdgeichlagen, in der Verfolgung
26 ruſſiſche Schüßengräben genommen. Bei Koziowa einen neuen Stütz⸗
punlt des Feindes genommen, über 1000 Dann gefangen.
26. April 1915. Starle Angriffe auf unfere eroberten Stellungen
bei Ypern unter außergewöhnlich ſchweren Verluſten abgewieſen; bisher
bei Ypern 50 Maſchinengewehre erbeutet. Franzöſiſche Angriffe in den
Argonnen, auf den Maashöhen und am Hartmannsweilerkopf gefceitert.
26. April 1915. Allgemeiner Angriff der englifhen Flotte und
Armee gegen die Dardanellen, die engliihen Landungstruppen dur bie
Türken geihlagen, ein Xorpedoboot verjentt, mehrere andere Schiffe be»
ſchädigt.
26. April 1915. Der deutſche Hilfskreuzer „Kronprinz Wilhelm“
wird in Newport New3 interniert.
26. April 1915. Der franzöfiihe Panzerfreuger „Leon Gambetta“
beim Kap Santa Maria di Leuca an der Straße von Otranto durch ein
öfterreichifche® Unterfeeboot verfentt.
27. April 1915. Heftige Angriffe der Engländer bei Ypern, einen
franzöfiihen Angriff im Priefterwald zurüdgeichlagen, &efangene gemacht,
vier Maſchinengewehre, 18 Minenwerfer erbeutet.
27. April 1915. Rordöftlich und öſtlich von Suwalki auf 20 Kilometer
Breite ruſſiſche Stellungen genommen, nördlich Praſzuyſz 470 Ruſſen
gefangen, drei Maſchinengewehre erbeutet. |
Kriegstagebudh 159
— —
— —— — — — ——— — — — —— — — ——— — —— —— —— —— re
28. April 1915. Schwere feindliche Angriffe auf unſere neuen
Stellungen bei Ypern unter jehr ftarfen Berluften für die Feinde abgewieſen,
bieber in den Pperntämpfen 63 Gefhüge erobert. Franzöſiſche Angriffe
bei 2a Baſſée — Bethune und nördlih von Le Mesnil abgeichlagen.
28. April 1915. Einen ruſſiſchen Stügpunlt bei Dachowo ſüdlich
Sodarzew erobert, dad Dorf Kowale bei Kalwarja und die Höhe jüdlich
davon genommen. — Sn den Slarpatden im Oportal einen ruſſiſchen
Angriff abgeichlagen.
29. April 1915. Deutihe Luftihiffe bombardieren die englifche
Dftküfte.
29. April 1915. Abgeſchlagene feindliche Angriffe: bei Ypern, bei
Ze Meznil, auf den Maathöhen. Bei den Kämpfen auf den Maashöhen
bom 24. bis 28. April über 4000 Franzoſen gefangen.
29. April 1915. Im nordwelitliden Rußland erreichten unfere
Vortruppen in breiter Front die Eijenbahnlinie Dünaburg—Libau. Bei
Kalwarja größere ruffiihe Angriffe abgewiefen, 5600 Mann gefangen. .
80. April 1915. Dünlirchen dur deutihe Artillerie erfolgreich
bombardiert. Rerluftreiche abgeichlagene feindliche Angriffe bei Ypern.
80. April 1915. Ein ruſſiſcher Dampfer an der Beftlüfte Irlands
durch ein deutiches Unterſeeboot verfentt.
80. April 1915. Die Türlen jchlagen die Engländer bei Kaba
Zepe und nehmen mehrere Maſchinengewehre. Ein englifch » auftralifches
Unterfeeboot „Ae Il“ in den Dardanellen zum Sinten gebradt.
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160 Kriegstagebud
80. April 1915. Szawle von ben Ruſſen in Brand geftedi, fie
ziehen fi auf Mitau zurüd; etwa 1000 Ruſſen gefangen, gehn Mafchinen-
gewwehre, große Mengen von Bagagen, Munitionswagen und bejonders viel
Munition erbeutet. Bei Kalwarja ruffiihe Angriffe abgefhlagen, 850 Ger
fangene gemadt. Südweitlih von Auguſtow eine unferer Borpoften-
kompagnien durch nädtlihen Überfall ſchwer gefchädigt.
80. April 1915. Ruſſiſche Angriffe auf die Höhen zwiſchen Orawa
und Oportal abgewiejen, 500 Gefangene gemacht.
80. April 1915. Hftlih Trebinje montenegriniide Kräfte durch
die Öfterreichifhe Artillerie zerftreut.
1. Mai 1915. Engliſche und frangöfiihe Angriffe bei Ypern ab⸗
gewieſen, drei Mafchinengewehre erbeutet. In den Argonnen nördlid Your
de Parid mehrere franzöfiihe Gräben erobert, 156 Gefangene gemadt, im
Brieftertvalde 90 Franzoſen gefangen.
1. Mai 1915. Bei Szawle weitere 400 Ruſſen gefangen, deutiche
Bortruppen ſüdweſtlich Mitau angelangt, bei Kalwarja 800 Gefangene
gemacht.
1. Mai 1915. Einen ſtarken ruſſiſchen Stüßpuntt auf einer Hohe
bei Oftry in den Karpathen erobert, mehrere hundert Ruſſen gefangen.
2. Mai 1915. An den Karpatben auf einer Front von 50 Kilo»
metern die Auffen vollftändig geſchlagen, 40000 Mann gefangen.
Allen Manuſkripten ift Borto hinzuzufügen, ba andernfalls bei Ablehnung eine Rückſendung
nicht verbärgt werden kann.
Nachbdruck fämtlidder Uuffäge nur mit ausbrücklicher Erlaubnis Des Berlags geſtattet.
rtlich: ber Serausgeber Beorg Cleinow in Berlin Lichterfelde Wei. — Manuſtriptſendungen und
Briete werden erbeten unter der Abrefle:
Un den Gerandgcher der Greuzboten in Berlin - Lichterfelde Welt, Sternſtraſe 56.
Bernipredder bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Verlags und der Schriftieitung: Amt Lüyomw 6610
Berlag: Berlag der Srenzboten G. m. b. H. in Berlin SW 11, Xempelhofer Ufer 85a.
Druck: „Der Reihäbote" G. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/37.
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Agents provocateurs
5 einer Einrichtung nicht vorübergehen, die eine große, für den
| AWeſteuropäer unheimliche Rolle fpielt: dem Syftem der Agents
—M provocateurs. Die Dohrana, die ruffiihe Geheimpolizei, deren
| = ſchrankenloſe Willkür in Rußland von jeher das Korrelat des
Abjolutismus war, bedient ſich diefer Einrichtung in einem Umfange und mit
einer Gemifjenlofigfeit, wie wir fie jonft in der Geſchichte nur in orientalifchen
Satrapenjtaaten fehen, wo Menfchenleben wertlos find. Die Dchrana fpielt
dabei um hohen Einſatz. Sie ſchützt den Zaren, jhüßt die hohen Würdenträger
des Reiches, die ausführenden Organe der abjoluten Madt. Ihr find die
Pläne der Terroriſten befannt, die gegen Zar und Minifter im Werke find,
aber die Ochrana ift auch unter Umftänden durch ihre Agenten ſelbſt — und
das ift das Unheimliche an ihrer Wirkfamleit — Miturheberin diefer Pläne.
Sie läßt die Attentate reifen, wenn es ihr gefällt, oder fie läßt die Sache
gehen und ... fommt zu fpät. Manchmal aber wird das Werkzeug, deſſen
fie fi bedient, ſtärler als der Meifter. Sie hat die Kontrolle über den agent
provocateur verloren, der als Leiter des Attentats feinen revolutionären
Freunden gegenüber vielleicht gerade im gegebenen Falle ein Intereſſe daran
bat, das Attentat zu Ende zu führen.
Der vollendetfte Typ der „provolagia“, wie der Ruſſe das ganze Syitem
nennt, war fiherlich Aſeff. Er hat beinahe feit feiner Kindheit im Dienfte der
Ochrana geftanden, jechzehn Jahre hindurch hielten ihn die Revolutionäre für
einen der ihren. Erſt Burtzeff, der befannte jetzt nad Sibirien verbannte
Herausgeber der ruffifchen revolutionären Zeitfchrift Byloje, fonnte ihn entlarven.
Was für eine Rolle Ajeff bei den Attentaten der jüngften ruſſiſchen Vergangenheit
gefpielt Hat, fieht man aus einer Zufammenftellung, die Frau Jarintzoff in
ihrem lejenswerten Buche über Rußland gibt. Cr bat mitgeholfen an der
Grengbsten M 1915 11
( N AD enn man das ruffifhe Leben bejchreiben will, fo darf man an
a
162 Agents provocateurs |
Drganifation der Attentate gegen ben Dberften Min, gegen ben Petersburger
Stadthauptman von der Launitz, gegen den belannten Staatsanwalt Pawloff,
ber vom Petersburger Publikum der „Henker“ genannt wurde. Die Revolutionäre
vertrauten ihm blind. Wie follten fie auch einem Manne feinen Kredit geben,
der die Pläne zur Ermordung von Plehwe und vom Großfürften Sergjei
entworfen battel Dazu kam feine Teilnahme an den Attentaten gegen Trepoff,
Kleigels, Unterberger, Durbafloff, Durnowo und andere, von denen jeder feinen
reichlichen Anteil an der Errichtung der mehr als fiebentaufend Schafotte gehabt
batte, die Rußland während der Regierung Nikolaus des Zweiten gejehen bat.
Aſeff hatte fih alfo an der Nahe der Revolutionäre an der Regierung
wirlfam beteiligt. Aber er hatte anderfeitS Hunderte von Nevolutionären in
die Hand der Dohrana geliefert, „die Partei Hatte durch ihm ihre Arbeiter
verloren, wie ein Wald im Herbit feine Blätter verliert.” Wir kennen den
fchließlihden Ausgang von Afeffs Gefchichte; er wurde im Dezember 1908 in
Paris vor ein Tribunal feiner einftigen revolutionären Freunde geftellt und
entlarvt. „Man beichloß, ihn durch fchweigende Verachtung zu ftrafen.“
Auch Gapon war ein Provolateur. Zuerft vielleicht fledenlos, hatte er
ſchließlich den verlodenden Anerbietungen der Dchrana nicht widerftehen können.
Der Geſchichte wird es überlaffen bleiben, darüber zu urteilen, ob er bereits
ein Berräter war, als er an jenem denkwürbigen 9. Januar Taufende von
wehrlojen Arbeitern den Flintenläufen der Soldatesfa des Zaren entgegentrieb.
Die Arbeiter jedenfalls find es fpäter geweſen, die ihn verurteilt und hingerichtet
haben. „Das Tribunal der Arbeiter — fo heißt es in feinem Todesurteil —
Hat untrügliche Beweiſe folgender Tatſachen gefunden: Georg Gapon ftand in
heimlicher Berbindung mit dem Chef des Polizetvepartements Ratichlomfli und
mit dem Chef der politiiden Geheimpolizei Geraffimoff. Sie haben ihm die
Wiedereröffnung der elf Gruppen bes Arbeiterverbandes verfprocdhen, wenn er
ihnen alles berichte, was er über die Revolution wiffe. Er bat dies getan...
Gapon erhielt den Speztalauftrag von Ratſchkowſki, einen gewiſſen Revolutionär
für den Dienft der Gebeimpolizei zu gewinnen. Bei dem Verſuche, diefen
Auftrag auszuführen, fagte Gapon: ‚Man bietet Dir fünfundzwanzigtaufend
Nubel nur für ein Kleines Gefhäft — und wenn Du vier zuftande bringft,
verdienft Du bHunderttaufend Rubel — eine nette Summe Geldes‘ Das
Arbeitertribunal hat entſchieden: Georg Gapon verdient ben Tod als ein
verräterifher Provolateur, der die Ehre und das Andenlen des 9. Januar
befledt hat. Der Urteilsſpruch ift ausgeführt worden.”
Wir kennen Stolypins tragifhen Untergang an jenem 1. September im
Theater in Kiew, als er bei der Galavoritellung gegen die Baluftrade
gelehnt auf das feitliche Parkett herunterblidte und ſich plötzlich dem im Abend»
anzug feftlich gefleidveten Bogroff gegenüberfah, der ruhig — unter den Augen
des ganzen Theaters und des Zaren — die todbringenden Revolverſchüſſe auf
das verhaßte Haupt der Reaktion abfeuerte. „Es gibt einen Augenblid tm
Agents provocateurs 163
Leben eines jeden Menfchen, um befientwillen e8 ſich lohnt, gelebt zu haben,“
fo hatte Bogroff no ein paar Zage vor dem Attentate gefagt — und als er
jeinen Plan ausführte, war er ein aufrichtiger Revoluttonär. Aber, wenn aud)
die Alten über den Prozeß Bogroffs nie veröffentlicht worden find, fo wiſſen
wir doch, daß er die Eintrittsfarte zu dem Theater von dem Chef der Ochrana
in Kiew, dem Oberften Kuljablo, erbalten hatte. Auch er bat im Dienfte der
Dchrana geftanden, und die Ochrana ift e8 geweſen, deren unbeilvollem
Birken Stolypin, ihr Begünftiger und Befchüger, im Grunde zum Opfer ge-
fallen ift.
Die Tragik diefer Stunde fommt uns nadträgli bei der Lekiüre eines
hochintereſſanten Briefwechſels zwiſchen Witte und Stolypin, der in der März-
nummer der Rußkaja Mysl veröffentlicht worden ift, noch Harer zum Bewußtſein.
Der Anlaß diejes Briefmechjels waren die Attentate auf Witte, die im Februar
und Juni 1907 von. Alerander Kafanzeff, Waſſili Fiodoroff und Alexei
Etepanoff unternommen wurden, ohne ihr Ziel, die Ermordung des Grafen,
zu erreihen. Das erite Mal wurde die Höllenmafchine in dem Rauchabzug
des Wittefhen Hauſes noch rechtzeitig entdedt, das andere Mal konnte der
Bombenanfhlag auf das Automobil des Grafen deshalb nicht zur Ausführung
fommen, weil diefer einen anderen Weg zum Reichsrat einſchlug und teilweife
zu Fuß ging Die Briefe, die Witte an Stolypin drei Jahre nad) dem
Attentate fchrieb, find aber nicht wegen dieſes taıfächlichen Materials intereffant,
fondern wegen der Motive der Mordanfchläge, und der dabei im Dunteln
wirlenden Kräfte. Auch bier treffen wir wieder auf die Dchrana und auf den
agent provocateur. Safanzeff, der die zum Morde des Grafen auserfrhenen
beiden Leuten geleitet und beauftragt bat, war bezahlter Agent der Kchrana.
Er war von einem Beamten der Mosfauer Dchrana, dem Grafen Buxhöpden,
in Sold genommen, um hohe Würdenträger gegen Attentate zu ſchützen; —
oder hatte er vieleiht den Auftrag, diefe hohen Beamten zu töten, weil es
das Intereſſe des Staates gebieterifch verlangte? Graf Witte, der drei Jahre
nad dem Tage des Aitentats die Unterfuchhungsalten mit dem Einftellungs-
defchluß vorgelegt erhält, neigt diefer Anficht zu, und jeder, der unbefangen
Wittes Ankllagebrief und Stolypins ſchwächliche Antwort darauf lieft, wird ihm
darin beiftimmen, daß die ganze Art der Ausführung des Verbrechens dieſen
Schluß zuläßt. SKafanzeff begnügte fih, wie Graf Witte wörtlich fagt, nicht
mit der Rolle eines Provofateurs, er ging weiter. Ihm war e8 nicht darum
.zu tun, den oder jenen Marimaliften abzufangen — er benupte ihre Dienſte,
um ein wirkliches Verbrechen zu begehen. Ver Graf weiſt an ber Hand ber
Unterfuchungsalten nad, wie im einzelnen das Verhalten von Kafanzeff, das
Berhalten der Polizei, der Verlauf der Unterfuhung darauf hindeutet, daß man
feinen Mord unter allen Umftänden wollte, und als er nicht gelang, die Tat-
fadyen verfjchleierte, die die Wahrheit Hätten ans Licht bringen können. Die
Bolizei ift „bewußt untätig geweſen“, die Unterſuchung ift „Ihüchtern geführt“
11”
164 j Agents provocateurs
worden, weil die Aufflärung der Sache „vielleicht ſchlechte Folgen für die
Karriere des betreffenden Beamten hätte haben können.“
Weshalb aber wollten gerade Kafanzeff, Stepanoff und Petroff den Grafen
Witte töten? Kafanzeff war eifriges Mitglied des „Verbandes der Ruſſiſchen
Leute”, deilen dunkle Wirkfamleit zugunften der Reaktion allgemein befannt
ift. Die von dem Verband organifierten Attentate auf Herzenftein und Jollos
fallen ungefähr in diefelbe Zeit wie die Anſchläge auf Witte SKafanzeff war
der Mörder des Abgeordneten Jollos. Er ftand mit dem den äußerften rechten
Parteien angebörigen Buxthöpden in nahen Beziehungen, empfing von ihm
Geld und einen falfhen Paß. ALS Kafanzeff nah dem mißglüdten Attentat
auf Graf Witte fi) das Leben genommen hatte, ſchickte Burhönden einen Ver-
trauten unter falſchem Namen nad) Petersburg, um die Sachen des Kafanzeff
holen zu laffen. Wenn aud, wie der Unterfuhungsrichter feftftellte, alle dieſe
Tatjachen nicht ausreichen, um den Grafen Burhönden als an dem Morde des
Abgeordneten Jollos beteiligt erfcheinen zu laſſen, jo geben fie doch Anbalts-
punkte dafür, von welden Milieus aus die Tätigleit des SKafanzeff bei dem
Morde des Jollos und bei dem Attentat auf Witte beeinflußt geweſen fein
kann. Daß Kafanzeff für die letzte Tat den Petroff ausmwählte, war jehr ge-
ſchickt. Petroff war ein Mitglied desjelben Arbeiterrats, gegen den Witte als
PVremierminifter im Jahre 1905 vorgegangen war, fein Attentat mußte alſo
nad außen bin als Rache der Arbeiter erjcheinen. Auf ihn mußte die ganze
Schwere der Tat fallen, denn Stepanoff war ein Mann, ber für ein paar
Groſchen auf jede beliebige Perfon eine Bombe geworfen hätte, und Kafanzeff
felbft mußte als Mitglied der Dchrana (er hatte eine von deren Chef
Geraffimoff felbft ausgeftellte Legitimation in der Taſche) jedem Verdachte bei
der Mordtat beteiligt zu fein entgehen. Witte kommt deshalb zu dem Schluffe,
daß in Wahrheit der Mordanſchlag gegen ihn — ummittelbar vor der Auf-
löfung der zweiten Duma und der Ausgabe des neuen Wahlgejegeg — von
den rechten Parteien infpiriert war. Sein ausfchließliddes Ziel war, nad
Wittes Anficht, die äffentlicde Meinung des Landes gegen die linfen Parteien
aufzureizen, Die als Urheber des Mordes gelten mußten, und Nepreffalien der
Regierung nad) dem Herzen der Reaktion bervorzurufen. Außerdem war die
Zat natürlich ein politifher Radealt gegen Witte und, was die Hauptfadhe
war, der fo vielen unbeqgueme Staatsmann, „der Feind des Vaterlandes“
wäre durch fie für immer aus dem Wege geräumt worden.
Die Briefe, die Witte an Stolypin gefchrieben bat, um ihn mit dieſen
Tatſachen befannt zu machen, atmen tiefe Empörung, beftigiten Unmwillen. Ich
wünſche nicht für einen Dummlopf gehalten zu werden, mir mangelt e8 nidt
an Mut, offen darauf binzumweifen, wo diejenigen Leute fihen, die meinen Tod
wollten, die aber ftraflo8 geblieben find, nicht etwa, weil man fie nicht hat
finden können, fondern . . ., den Schluß dieſes Satzes zu ergänzen, überläßt
der Graf feinem Nachfolger, den er zugleich dringend bittet, Maßregeln zu
Die Nachfolge Bismards 165
ergreifen, um der terroriftifchen und provolatoriichen Tätigkeit jener heimlichen
Drganifationen ein Ende zu machen, die zugleih der Regierung und den
politifden Parteien dienen, an deren Spite Leute ftehen, die ih Im Staats
dienfte. befinden und die über dunkle Gelder verfügen. „Bewahren Sie dadurch“,
fo ruft er Stolypin zu, „auch andere Staatsmänner vor ber gleichen ſchweren
Lage, in der ich mich befunden habe.“ Stolypin hat e8 vorgezogen, auf die
Briefe des Grafen Witte Hin nichts zu tun. Er braudte wohl die Leute nod),
deren Befeitigung fein Vorgänger bier verlangte. Nicht Lange danach iſt er
dem graufigen Schidfal, das Witte zugedacht war, felbit anheim gefallen. Das
Syftem aber, das Witte fo tapfer und energifch befämpft bat, befteht noch
biS heute.
Die Nachfolge Bismards
Don Maximilian von Hagen
en 08 Schidjal hat es gefügt, daß wir den Tag der Reichſsgründung
—— G und ven hundertiten Geburtstag ihres Vollbringers, Dtto von
RL | Bismard, nicht als Tage nationaler Aufrättelung zu feiern
Po brauchten, daß wir fie vielmehr begehen durften als Qage ber
—_ = Grmutigung und der Erinnerung an ähnlich ſchwere Zeiten, aus
denen wir zu herrlichen Zielen binausgeführt wurden. Denn der große Krieg,
der eine angemefjene Feier diefer Gedenktage verbot, hat felbjt die Fühnften
Hoffnungen übertroffen, die der Baumeiſter unferes Staates in die Lebens-
fähigkeit feines Werkes zu ſetzen wagte. Wie ein Mann bat fi) Deutichland
erhoben, um das Erbe feines größten Staatsmannes zu ſchützen und in feinem
Geifte weiterzuführen. Ohnegleichen ift die Einigkeit, die wir folange entbehren
mußten und bie auch Bismard oft fo bitter vermißte, nachdem er mit der
Neihsgründung feine eigentliche Lebensaufgabe erfüllt hatte. Der Geiſt der
Freibeitsfriege und ihres Vollenders lebt wieder in unferem ganzen Bolt, das
dem Rufe zu den Fahnen mit nie erhörter Hingabe gefolgt iſt und in allen
Schichten und Generationen an Opferwilligkeit feine Grenzen kennt. Nirgends
ift Raum für Furt und Sorgen, allgemein nur das Ahnen einer jchöneren
Zukunft. Vergeſſen find darum die Tage, da wir in Bitterleit über Partet-
hader und Yeindesbosheit der Vergangenheit gedachten, da wir uns an den
Taten unferer Vorfahren aufrichteten, wenn der Yriede faul zu werden drohte.
Nachdem wir uns aber würdig gezeigt ihrer raftlofen Arbeit am Werke der
deutſchen Zukunft, durften wir auch Markfteine unferer Geſchichte, wie es ber
166 Die Nachfolge Bismards
hundertite Geburtstag des größten beutichen Kanzlers war, nicht ungenubt
Iaffen: nicht zu einer finnlofen Vergötterung feiner unfterblichen Berdienfte, die
nur ablenfen könnte von den großen Zielen, auf die unfer Blid jetzt allein
gerichtet fein muß; wohl aber zur Selbftbefinnung über eine wahre, produltive
Nachfolge, wie fie ſolchen Herven allein geziemt und wie fie au) uns Epigonen
allein förderlich tft.
Und ba tft es fein Zweifel, daß wir auch hier umzulernen haben, wenn
wir nit Sklaven der Vergangenheit bleiben wollen. Schon Fürſt Bülow
Hagte einmal in einer ebenfo bedeutfamen wie unbeachteten Reichstagsrede Über
die dogmatifierende Kanonifierung eines mißverftandenen Bismard, durch Die
der große Kanzler in echt deutfcher Ideologie je nach der Parteirihtung in ein
Syſtem oder ein Schema gebradt würde, an dem man dann die Gegenwart
zu meſſen ſuche. Daß eine ſolche Nachfolge Bismards unhiſtoriſch ift, wird
fih durch ein paar methodiſche Gedanken mit Leichtigfeit erweifen laffen.
Es ift Mar, daß man Bismard nad einer foldden Praxis an der Hand
feiner Hinterlaffenfchaften oder gar mit Hilfe von Nachſchlagewerken, bie dieſe
nach beftimmten Gefihhtspunften „ausgezogen” und ihres Zuſammenhanges
beraubt haben, ebenfofehr als Kriegsmann mit Küraß und Pallaſch, wie als
Friedenspolitifer und ehrlichen Makler mit Palme und Wage darjtellen könnte;
ebenfo auch als überzeugten Imperialiſten wie als „rüditändigen“ Sontinental-
politifer, als Sozialiften oder als Realtionär, als Gegner Roms und als
Kanoflagänger, als Freund der Stonfervativen, Nationalliberalen und des
Zentrums und fo fort. Und doch mürde man mit allem, ſelbſt für den be-
fchränfteften Zeitraum feiner Amtszeit, niemals das richtige treffen, da Bismard
fih in feinem ftändigen Kampf mit Parteien und Prinzipien nie anders als
im Rahmen der Entwidlung erfaffen läßt.
Trogdem kann eine willenfchaftliche, das ganze Material kritiſch⸗vor⸗
ausfegungslo8 verarbeitende, von Haß und Liebe freie, gefhichtliche Darftellung
eines politiiden Problems, unter dem Sefichtöpunfte feiner Beziehungen zu
Bismard betrachtet, auch der Politik manch brauchbare Anregung geben, wenn
man dabei niemals bie conditio mutatis mutandis et cum grano salis außer
acht läßt. Immer aber wird eine Darftellung, die Bismards Politik zugunften
einer Parteidoltrin vergewaltigt, wegen diefer Tendenz von vornherein abzu-
lehnen jein, weil fie von dem ſowohl wifjenfhaftli wie fünftlerif allein be-
rechtigten “deal hiſtoriſcher Objektivität weit entfernt ift, einem “deal, das einer
geſchichtspolitiſchen Unterfuchung allein Wert verleihen fann. Dahingegen verlodt
jede finngemäße Übertragung hiſtoriſcher Ausfprüche ſowohl taltiſch wie fattifch immer
zur Verallgemeinerung, felbjt wenn diefe vom Berfaffer nicht einmal beabfichtigt
wird. Denn das ODdium aller Zitate, fofern fie nicht genau lofaltfiert werben,
bringt e8 mit fi, daß felbft die, welche ſich der kritiſchen Schwierigkeiten ihrer
Benugung bewußt find, ihrem Zwange vielfach verfallen. Die Worte der
Bibel find auf dieſe Weife mißbraucht worden zu allen Zeiten. Das Fragen
Die Nachfolge Bismards 167
nad Bismard, das Belegen mit Bismard aber bat zu einer Ähnlichen Gefahr
geführt. Wird nämlich diefes fcheinbar Hiftorifche Bedürfnis unferer öffentlichen
Meinung zum „praftifch » agitatorifchen Werbrehungsmittel”, fo beginnt biefe
„Kalamität” (um Fürft Bülows Worte zu wiederholen) unerträglich zu werden,
gerade weil alle, die e8 anwenden, fi) mit einem naiven Hinweis auf bie
biftorifhen Belege ihrer Anficht immer zu rechtfertigen verfuchen werden.
Wenn e8 aber ſchon mißlich ift, aus Bismards Politik, die fi unter
ganz anderen al3 den heutigen Verhältniſſen entwidelte, feine Stellung in ber
jevesmaligen gegenwärtigen Situation erraten zu wollen, fo tft es noch viel
bedenflicher, aus den Ergebniſſen folder Rätfellöfungen die wahre Politik der
Gegenwart zu fonftruieren. Nun will zwar Tein Bismardpolitifer bismard-
orthodor beißen, weil er als denfender Menſch unmöglich wünjchen könnte, daß
die Lehren und Mittel der Vergangenheit als Normalloder für alle künftigen
Situationen aufgeftellt und befolgt werben follten; er müßte denn den Ent-
willungsgedanfen ftreihen wollen, den doch Bismard bei allem PVerftändnis
für die Tradition niemals außer acht gelaffen wiffen wollte, denn „Rom warb
nit an einem Tage erbaut und fehen auch nicht alle Häufer gleich darin aus,
jo wenig wie die Einwohner, die dennod alle Römer find”. Auch dürfte er
es politifh oft recht unpraltiſch finden, die Bahn foldyer Bismardromantit
fonjequent zu verfolgen. Dennoch) bleibt er dem Gößendienft verfallen, ſo⸗
lange er feine Augen „zurüd zu Bismarck“ wendet, um bier die allein gültige
Antwort auf ein Problem der Gegenwart zu erhalten. Greift er nämlich in
folder Abficht zu Bismard, fo nimmt e8 bei dem Mangel an organijchem
Sehvermögen, das bis zu einem gewiflen Grade alle Theoretiker auszeichnet,
auch nicht wunder, wenn ſich unter feinen Bismardbelegen, die die jedesmalige
Lage grell beleuchten follen, tendenziös gewählte Worte aus Bismardd langer
Kanzlerſchaft in trautem Vereine neben Ausſprüchen des Alten vom Sachſen⸗
walde einfinden, mit dem Erfolge, duß fie fchiefe Vorftelungen ermeden von
einer Einheit des politifchen Denkens des amtlichen und nachamtlichen Bismarck.
Und doch läßt fih nicht leugnen, daß die Zeit feiner inoffiziöfen Politik in den
Hamburger Nachrichten abhängig war von ber jedesmaligen Stimmung des
grollenden Achill von Friedrichsruh und feinen jedesmaligen Beziehungen zum
Berliner Hofe; fie darf darum nit als gleichwertiger Mapftab für feine
politifde Gefinnung genommen werden, die die Bismardpolitifer freilich als unver-
änderlich empfinden, wird vielmehr ftet3, auch vom Hiftorifer, nur mit Vorficht,
ja mit Mißtrauen zu Rate zu ziehen fein. Im Grunde tft fie nur für den
Biographen pſychologiſch intereffant, für den Politiler aber bleibt fie eine ge-
fährliche, weil gefchichtlich nicht einwandfreie Duelle. Yreilih hat man gerade
von feiten der Bismardpolititer die Annahme mit fittlicder Enträftung zurück⸗
gewiefen, als ob die Prinzipien ihres politifchen Heiligen jemals ernſtlich zu
trüben geweſen wären. Allein gerade bei Bismard, aus deſſen dämoniſchem
Bilde wohl niemand Zorn und Haß bejeitigen könnte oder möchte, war die
168 Die Nachfolge Bismarcks
Oppoſition gegen die Politik des „neuen Kurſes“ nur allzu begreiflich, weil
„allzu menſchlich“. Wer daher feine Außerungen aus jener Zeit mit unbe-
fangenem Auge lieft, wird fie für einfeitiger halten müffen, als die früheren.
Daß Bismard in der Politif die Kunft des Möglichen ſah und darum ſchon
frübzeitig dem Prinzip der Prinziplofigleit huldigte, indem er an Grundfägen
nur feitzubalten wünfchte, „Tolange fie nicht auf die Probe geftellt werden" —
ſchon diefe Tatſache allein Tennzeichnet hinlänglich die Yährniffe einer gedanken⸗
Iofen Nachfolge des großen Kanzlers.
Gegen eine ſolche hat fi denn aud niemand mehr al8 Bismard ſelbſt
gewandt. Denn er wußte, daß e8 niemals zwei ganz gleiche Lagen gibt, und
daß „nichts In der Welt dauernd tft“, daß man fih daher nicht einmal felbit
fopteren follte. Jeder, der die „Gedanken und Erinnerungen” zu lejen verfteht,
weiß, wie fehr er bei dem fortwährenden MWechfel der Situationen und ragen,
mit denen er fih zu beſchäftigen hatte, von der Vergänglichleit politiſcher
Marime überzeugt war und wie weit er davon entfernt blieb, mit feinen
Memoiren ein Dogma für Deutfchlands künftige Politik feitlegen zu wollen.
Vielmehr war feine damit befolgte Abſicht feine andere, als durch das „Ver⸗
ftändnis der Vergangenheit” die Wege für die Zufunftspolitit eriennen zu
lehren. Denn er fah in der Geſchichte in ihrer Totalität ein Mittel zur Be⸗
fämpfung einer allzu boftrinären Betraddtung der Politik, die an Schlagwörter
gebunden tft. Über diefe aber war er alle Zeit erhaben und darum warnte
er immer davor, feine Worte zu verallgemeinern und als Evangelium oder
nur als feine feitftehende Meinung auf den Schild zu beben oder gar aus
gelegentlichen Außerungen Schlüffe auf eine vermutetete Gefamtanfhauung zu
ziehen. Das Crfcheinen von Buſchs Tagebuchblättern veranlaßte ihn gegen
jede derartige temdenziöfe Zitatenausbeute einzufchreiten und feitbem bat er
fi offenbar auch mit dem biographiſchen Problem erft intenfiver befaßt.
Aus der Fülle derartiger Gedanken mag eine Anzahl dharalteriftifcher
Beifpiele aus feinen Briefen und Geſprächen zur Illuſtration des Gefagten
dienen. Denn fie haben zum Zeil die Schlagfraft von Aphorismen und
find aud darum intereffant, weil fie den Willensheros als bewußten Geiſtes⸗
menjchen erſcheinen laſſen.
Schon die Braut machte Bismarck des öfteren aufmerkſam, daß die
augenblickliche Stimmung, die einem Worte die charakteriſtiſche Färbung und
damit die befte Prägung der Wahrheit gibt, für die Auslegung entſcheidend
fein muß, und daß dabei vor allem die Grundmelodie zu beachten ift, bie
„nicht immer deutlih durch die Variationen ber Oberfläche Klingt“; daß das
geſchriebene Wort dagegen etwas Schwerfälliges und Ungzerftörbares an ſich hat,
weil ihm der erflärende Ton fehlt, und daß e8 darum wieder leicht zu viel
fagt, weiter gedeutet ober mißverftanden werden kann; daß ihm endlich nicht
anzufeben tft, „ob die Tinte, als fie naß war, ein nedendes Auge oder die
Halten befümmerten Ernftes gefpiegelt bat“. Und an Leopold von Gerlad
Die Nachfolge Bismard's 169
ſchrieb er die nachdenklihen Worte, daß es uns überhaupt nicht gegeben fei
„den ganzen Menſchen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und baß
wir die Bruchftüde, die wir zutage fördern, andere nicht fo wahrnehmen laſſen
fönnen, wie wir fie felbft empfinden, teils wegen der Inferiorität der Sprache
gegen den Gedanken, teils meil die äußeren Tatſachen, auf die wir Bezug
nehmen, ſich felten unter dem gleichen Lichte darftellen, fobald der eine nicht
die Anſchauungen des anderen auf Glauben und ohne eigenes Urteil annimmt“.
Bei diefer tiefen Auffaflung ift e8 erflärlich, daß er mit der oberflächlichen
Ausnußung beliebiger Zitate für die Darftelung feines Charafter8 oder feiner
Anſchauungen, wie fie Moritz Buf betrieb, wenig einverftanden war. Des
öfteren bielt er ihm deshalb entgegen, daß die Art, feinen „inneren Menſchen
aus fragmentariihden Beobachtungen zu entziffern, zu gänzlich verfehlter Auf-
faſſung“ führen müſſe, wenn anders er ſich nicht durch feine Pedanterie, bie
abgerifiene Bruchſtücke von SKonverfationen verwerte, als ob fie „mit der
Gewifjenhaftigkeit eines vereideten Zeugen vor Gericht“ geführt worden wären,
veranlaßt fühlen folle, in feinem Augenblid die fchriftlihe Form und ben
amtlichen Kothurn zu verlaffen! Und von Bofchinger kennen wir den Bismardichen
Ausſpruch: „Jedes in bemegter Zeit unter vier Augen geſprochene Wort
gewinnt eine ganz andere Bedeutung, wenn e3, aus dem Zufammenhang gelöft,
nah Fahren vor das Bublilum gebracht wird, welches die Situation nicht
felbft erlebt bat.” Bismard weigerte ſich daher mit Recht auch nach feiner
Entlaffung, für alle in zwangloſer politifcher Konverfation „ohne Zeugen und
ohne Stenogramm” ausgeſprochenen Anfichten, die feinem „gewohnheitsmäßigen
Bedürfnis nad) politiiher Ausſprache“ entiprangen und nie den „Charalter einer
fyftematifden Manifeftation“ batten, die volle Verantwortung zu übernehmen.
Nach feiner treffenden Beobachtung verfchieben fi) derartige Äußerungen in ber
Zat im Gedächtnis des Zuhörer und bringen daher, vervollitändigt und
unterftrichen, auch bei ehrlicher Anfnüpfung an wirklich Geſprochenes doch einen
dem Urheber fremden und fernliegenden Gedanken zum Ausdrud. — Wieviel
mehr follten alfo erft wir Epigonen uns hüten, Bismarckſche Worte, die nur
in ihrer Zeit veritändlich find, auf die Gegenwart anzumenden und auszumüngen!
Natürlid Haben auch unfere Bismardpolitifer eine Vorftelung von ben
ſchon vom Altreihsfanzler gerügten Folgen tendenzidfer Geſchichtſchreibung in
politifher Abfiht. Aber fie würden ihren jedesmaligen Zwed nicht mit dem-
felben Erfolg erreihen, wenn fie jene prophetiſchen Warnungen im Be—
mwußtfein ihres Ioyalen, tro allen Kampfes gegen den „neuen Kurs” doch
auch wieder auf eine Erleichterung der NRegierungspolitif gerichteten Charalters
beberzigt und befolgt hätten. Darum arbeiten fie lieber, wennſchon vielfach
unbemwußt, auch weiterhin mit Fleiß an der Mobdernifierung des Bismardbildes,
das ja politifch immer mweniger in unfere Zeit zu paflen fcheint. Zweifellos
ift dieſes aber nicht nur mit Nüdfiht auf die hiſtoriſche Objektivität viel zu
groß, als daß es irgendwelche Übermalung oder Renovierung vertragen könnte
170 Die Nachfolge Bismards
Denn fiherlich bedarf Bismard nicht der Ehrenrettung, wenn eine Frage von
heute in feiner Gefchichte feine Antwort findet. Auch würde er fi mit Recht
eine Identifizierung feiner Staatsfunft mit der Politik derer, die auf feine Fahne
ſchwören, beftimmt verbeten haben, da fie oft eine Antizipierung von Gedanken
darftellt, die feinem Zeitalter fernlagen und fernliegen mußten. Nun aber ift
jeder, auch der größte Geiſt, ein Kind feiner Zeit, und es ift unerfindlid, wie
in der Konftatierung diefer hiftorifhen Grundtatfadhe eine Überhebung gefehen
werden fann. Bismards Genie aber war es, daß er die Sehnſucht feines
Jahrhunderts erlannte und fo erfüllte, daß alles, was darüber hinaus noch zu
tun blieb, den kommenden Geſchlechtern überlaffen werden fonnte. Wer zu
ihm zurüd will, denkt daher nicht in feinem Geifte, der Vergangenheit und
Zukunft fo wunderbar zu verknüpfen verftand. Unübertrefflih bat dies Fürſt
Bülow mit folgenden Worten ausgedrüdt, die diefe Gedanken befchließen mögen:
„Aud der größte Mann bleibt ein Sohn feiner Zeit, und die nad ihm
fommenden Gefchlechter können fi) nicht darauf beichränfen, feine Urteile, feine
Auffaffung, oder nun gar feine Alüren blind nachzuahmen und nachzumachen,
fondern fie müffen mit der Entwidlung der Dinge geben, die nie ftille ftebt,
die auch das größte Genie nicht vorberfehen, gejchweige denn vorzeichnen
faın .... Wenn die Entwidlung der Dinge es verlangt, daß wir über
Bismardie Ziele hinausgehen, fo müflen wir es tun, jelbjt wenn Fürft
Bismard feinerzeit unter fcheinbar ähnlichen Verhältniſſen anders geurteilt
bat... . Die Nachfolge eines großen Mannes befteht nicht in der fHlavifchen
Nahahmung, fondern in der Fortbildung, ſelbſt wenn fie auch bier und da
zu einem Gegenfage führt. Und als praftifche Politiler, als Männer, welche
die Aufgaben des Tages zu löfen haben, müſſen wir uns mit der Tatſache
abfinden, daß wir feinen Fürften Bismard mehr haben.
Der Name des Fürften Bismard, die Erinnerung an das, was Yürft
Bismard uns war, wird für alle Zeiten als Yeuerfäule berziehen vor dem
deutihen Volle... . Sein Name bleibt ein dauernder Befig, eine Mahnung,
ein Vorbild, ein Wahrzeichen, ein Stolz für unfer Voll, eine Gewähr der
Zukunft, ein Zroft in forgenvollen oder matten Tagen. Aber die Nation muß
die Kraft in fich finden, auch ohne einen ſolchen Titanen auszulommen, wie
ihn die Götter nur fehr felten ... . einem Volle ſchenken. Denn wenn der
einzelne und auch der größte Genius fterblich ift, jo ift doch die Nation un-
fterblih. Ahr Dafein hat mit dem Tode des großen Kanzlers nicht geendet.
Und als Batrioten müſſen wir, jeder an feinem Zeile, darauf hinwirken, daß
das Wert des großen Kanzlerd erhalten bleibt.“
Der Rückgang der englifhen Kohlenausfuhr
und ihre Solgen
Don Dr. Richard Hennig
Jer große Weltfrieg hat nah und nad ſchon ſoviel Unmahr-
fcheinlichfte8 wahr gemacht, daß alte Anſchauungen, die ftetS wie
Selbftverftänblichkeiten, wie Dogmen betrachtet wurden, in immer
größerer Zahl ins Wanken geraten und zujammenbredhen. Zu den
größten Überraſchungen gehört fiherlich die von weiteiten Kreifen
freilich unbeadhtet gebliebene und nicht annähernd genug gemürdigte Tatſache,
daß England, das Kohlenland par excellence, das alle Welt mit Kohlen zu
verforgen pflegte und insbefondere die Weltſeeſchiffahrt mit dem Toftbaren
Brennmaterial verfab, jebt aus Nordamerila Kohlen einzuführen und ein von
vielen Zeitungen ſchon dringend geforbertes Kohlenausfuhrverbot demnächſt
wabrfcheinli zu erlaffen gezwungen: ift.
Nichts kann einwandfreier als diefer Umſtand bemeijen, wie gründlich irrig
Englands forgfältige Berechnungen waren, als fi die Asquith - Greyiche
Regierung auf den Krieg gegen Deutichland einließ und zuverſichtlich wähnte,
damit ein gutes Gefchäft, Churchills „business as usual“, zu machen. Nichts
fann aber auch klarer veranfchaulichen, wie außerordentlich die Wirkungen
ber beutfchen Unterfeeboot-Sriegführung find, deren ganzer Erfolg ſicher erſt in
fpäterer Zeit befannt werden wird. Denn die Unſicherheit der Schiffahrt hat
einen Hauptanteil an biefen nie für möglich gehaltenen wirtfchaftlichen Tatſachen;
daneben wirken freilih noch einige andere Einfläffe ausfchlaggebend mit, fo
insbefondere die mangelhafte DOrganifation des meiſt in privatem Beſitz befind-
Iihen Eiſenbahnweſens und die jehr große Schwierigkeit, den englifhen Kohlen⸗
bergwerlen das nötige Grubenbolz zu befchaffen, das man ehedem faſt vollſtändig
aus Deutichland bezog. Alle fonft dabei in Betracht fommenden Umftände, die
Lohnbewegungen und Streifprohungen der Kohlen«, Eifenbahn- und Hafenarbeiter,
die Schwierigkeiten der Reedereien, der Mangel an Schiffsraum, die hohen Ver⸗
ſicherungsgebühren, die famt und fonders die englifche KRohlenausfuhr empfindlich
erſchweren, find erft von felundärer Bedeutung und ihrerſeits erſt Folgen jener
erftgenannten primären Faltoren.
Wie ftarl die englifhe Ausfuhr zurüdgegangen ift, erhellt au dem
Umftand, daß ſchon im Januar 1915, alfo nod vor Beginn des beutjchen
Unterfeeboot-Handelskrieges, die Kohlenausfuhr um nahezu zwei Fünftel, nämlid)
172 Der Rückgang der englifchen Kohlenausfuhr und ihre Solgen
um 372/, Prozent, geringer als im gleihen Monat des Borjahres war
(3613000 gegen 5795000 Tonnen). Das Ungeheuerlichſte aber ift, daß
England jelbit an empfindlicher Koblenfnappheit leidet, daß ſchon im September
die Londoner Gaspreife erhöht werden mußten und daß dieſe abfonderlichen
Verhältniſſe ſich immer weiter zugeipist haben, bis jet England, wie gejagt,
gezwungen ift, nach dem Zeugnis des Nemwcaftle Daily Journal große Kohlen⸗
mengen in Nordamerifa zu faufen und fi langſam mit dem Gedanken des
Kohlenausfuhrverhot8 vertraut zu machen!
Daß damit der Kohlenknappheit in England ſelbſt gefteuert werden wird,
ift wohl faum zu bezweifeln. Biel bedeutfamer aber für Deutichlands Intereſſen
an diefen Vorgängen ift einmal die tiefgehende Wirkung auf das englifche
Wirtſchaftsleben, wie fie ein Kohlenausfuhrverbot durh den Yortfall der
bedeutenden Einnahmen aus den Kohlenlieferungen zur Folge haben muß, und
anderfeit3 die geradezu unerträglicde Lage, in die zahlreihe neutrale Länder,
fowie Englands Verbündete und nahezu die gefamte nichtengliide Schiffahrt
dur) die ftet3 ftärlere Erſchwerung und baldige völlige Unterbindung der
Kohlenzufuhr gebracht werden müſſen. Schon heut haben die Dinge vielfad
einen fehr fritifchen Charakter angenommen. England muß wohl oder übel
darauf bedacht fein, in erfter Linie feinen Bundesgenoſſen Frankreich und (nad)
Wiedereröffnung des Schiffsverfehrs mit Archangelſt) Rußland in ihrer nod
weit ſchwereren Kohlennot beizujtehen. Frankreichs normale Kohlenprodultion
ift ja feit September zu 72 Prozent in deutſchen Händen, und in feinen übrig-
gebliebenen Koblengruben ift die Förderung, zumal im Pas de Calais, durch
Männermangel und teilmeife Bedrohung dur die Sriegsporgänge ftarl
beeinträchtigt. Frankreich, das ſchon im Frieden mehr Kohlen verbraudt als
erzeugt, und dem nun die eigenen Kohlen zu rund drei Viertel, dazu bie
gefamten belgifhen und deutfchen Kohlen abgejchnitten find, muß daher von
Amerila und England Kohlen beziehen, um wenigſtens den dringenditen Bedarf
zu deden, und England erlennt, daß es dem Bundesgenoffen, der ohnehin feine
Haut für britifche Intereſſen zu Markte trägt, in feiner ſchweren Kohlennot bei-
ipringen muß, teil aus Anftandsgefühl, mehr aber noch um wenigitens die
franzöfifchen Eifenbahnen und Kriegsſchiffe Ieiftungsfähig zu erhalten. So liefert
denn England, troß feiner eigenen Schwierigkeiten, mehr Kohlen als in Friedens-
zeiten nad) Frankreich; die ſtark verringerte englifche Gejamtlohlenausfuhr ging
im Januar 1915 zu mehr als einem Drittel nad Frankreich (1384000 von
3613000 Tonnen), während im rieden (Januar 1914) nur etwas mehr als
ein Fünftel (1236000 von 5795000 Tonnen) Frankreich zufloß. Daß Frankreichs
Koblendunger durch die Vermehrung der engliiden Einfuhr um nur etwa 10
Prozent unter den obmwaltenden Umftänden nicht annähernd geftillt werden kann,
bedarf feiner weiteren Erörterung.
Daß das Fohlenarme und von der Einfuhr abgefchnittene Rußland in
vielfader Hinfiht noch übler daran ift als Frankreich, tft bekannt. Auch
Der Rückgang der englifhen Kohlenausfuhr und ihre Folgen 173
eines feiner Kohlenreviere, das (1912) über 22 Prozent der ganzen Kohlen-
erzeugung des europäiſchen Rußland dedte, das Dombroma-Beden an der
Dreilaifer-Ede, ift feit Anfang Auguft dauernd in deutſcher und öäfterreichifcher
Hand. Wenn nun au Rußland vielfach die Kohle dur Holz, Torf und
Naphthaprodukte erfegen Tann, fo leidet es doch unter einer ausgefprochenen
Kohlennot, um fo mehr als auch im Donez-Beden, Rußlands wichtigſtem
Kohlengebiet, die Produktion infolge Mangels an Arbeitsfräften um 30 Prozent
gegenüber der normalen Leitung (1912 21300000 Tonnen) gefallen ift.
Neuerdings iſt fie noch geringer geworden und betrug im März 80000000
gegen 135000000 Bud im Vorjahr. Zu diefem Ausfall von mindeftens etwa
7000000 Zonnen im Jahr kommt aber ein weiterer von mindeftens der
doppelten Höhe durch Fortfall der deutſchen und öfterreichifcden ſowie eines
geoßen Zeile8 der engliihen Kohleneinfuhr. Im November 1914, im letzten
Monat, wo der Hafen Archangelſt noch offen war, erhielt Rußland von
England nur 2000 Tonnen Kohlen gegenüber 379000 Tonnen im November
1913. Später bat auch diefe lebte befcheidene Zufuhr aufgehört; mas Amerila,
Japan, China über Wladiwoftot oder Yufan nad) dem europäiſchen Rußland
zu bringen vermodten, war wegen ber ungeheuer hoben Bahnfracht nicht der
Rede wert, und auch die ruffiihe Kohlenzufuhr vom Donez-Beden floß nur
ſehr ſpärlich, da verringerte Erzeugung, überlaftete Bahnen, empfindlichfter
Wagenmangel die Berforgung erſchwerten, außerdem auch die Haltung der
Bergwerksbeſitzer, die aus der Kohlenteuerung reihen Gewinn ziehen und alles
tun, um bie vorhandene Koblennot zu erhalten und, wenn möglich, noch zu
fteigern. Petersburg erhielt im Yebruar 1915 ftatt der 1300 Waggons
Kohlen, deren es durchſchnittlich im Monat bedarf, nur 96. Die Straßen»
bahnen in Petersburg und Moskau mußten im März wegen Kohlenmangels
der eleftrifhen Zentralen den Betrieb einjtellen, und die vorhandenen Kohlen
waren unverhältnismäßig teuer: in Moskau koſtet Anthrazit unter Mittelforte
5681/, Mark die Tonne, in Petersburg Kol 75 Mark gegen 431/, Mark
im Borjahr. Anfangs April fah fi die Regierung genötigt, alle privaten
Koblenvorräte zu beſchlagnahmen. Natürlich hoffte nun alles auf Erleichterung
ber Kohlennot nad) Eintritt des Frühlings und Wiedereröffnung des Hafens
Archangelſt. Diefer Hafen ift zwar ſchon Anfang April, infolge der Tätigkeit
der großen Eisbrecher, wieder benupbar geworden, aber die erfehnte Erleichte-
tung wird trogdem ausbleiben, weil eben England gar Feine Neigung baben
wird, die jeßt doppelt und dreifach wertwollen Kohlen in fehr großen Mengen
einem Bundesgenofjen zuzumenden, deſſen Freundfchaft nur fo lange von Wert
war, als man noch militärifde Hoffnungen auf feine Millionenheere ſetzen
konnte. Wie fol man da in England große Luft verjpüren, das koſtbare
Brennmaterial, da8 man im Lande felbit ſchon hier und da doppelt fo teuer
wie im Frieden bezahlt, in ſehr großen Mengen nad dem entlegenen und
unmwirtlihden Archangelſt zu jchaffen, zumal auch die verfügbaren Schiffsränme
174 Der Rüdgang der englifhen Kohlenausfuhr und ihre Solgen
jegt viel wertvoller als in anderen Zeiten find? Das militäriihe Bedürfnis,
die ruſſiſchen Eifenbahnen, Kriegsſchiffe und Kriegsinduftrien möglichſt leiſtungs⸗
fähig zu erhalten, mag ja England nötigen, auch den ruffifchen Kohlenhunger
nit ganz ungeftillt zu laffen; aber allen Wünfchen gerecht zu werden, ' wird
Bier noch fehr viel fchwerer fein als in Frankreich.
Mit Englands Bundesgenofien leiden aber auch die mehr oder weniger
unſchuldigen neutralen Staaten Europa mehr und mehr unter den Hemmniſſen
der engliihen Koblenausfuhr. Sie erhalten ſämtlich viel weniger Kohlen, als
fie brauchen, und müſſen das wenige, was ihnen zugeführt wird, ungebührlich
teuer bezahlen. So belief fih zum Beiſpiel im Januar 1915 die englifche
Kohleneinfuhr in Italien auf 470000 Tonnen gegenüber 791000 im Vorjahr,
in Spanien auf 159000 gegen 346000, in Ägypten auf 150000 gegen
315000, in Südamerifa auf 259000 gegen 565000 Tonnen ujw. Gelbft
die Stüßpunfte der englifhen Flotte erhielten (mas beſonders bezeichnend ift)
nicht mehr fondern weniger Kohle als im Frieden, fo zum Beifpiel im November
1914 Gibraltar nur 20000 Tonnen gegen 41000 Tonnen im November 1918,
Malta nur 10000 gegen 73000 Tonnen uſw. Dabei mußten die neutralen
Staaten nicht nur die ſtark geftiegenen Nettopreife der Kohlen bezahlen, fondern
auch die gewaltig erhöhten Unkoſten der Beförderung tragen. Wie groß bdiefe
find, mögen zwei Tatſachen Harlegen: die Schiffsfrachten zwiſchen England und
Spanien waren im März viermal fo hoch wie vor dem Sriege, und die Ge-
famtmeizeneinfuhr eines Monats war in England der Menge nad) um 11 Prozent
geringer, dem Werte nach aber um 40 Prozent höher als im gleichen Monat
des Vorjahrsl Die Rũückwirkung auf die Koblenverforgung neutraler Länder
tft ſehr beträchtlich. Dies zeigt ſich befonders Mar in Italien, das angeſichts
der fehr hoben Preife der engliihen und amerilanifhen Kohle in fteigendem
Maße fein Heizmaterial aus Deutichland bezieht, obwohl feine Yabrilen zum
Teil eigentli nur auf die Verfeuerung englifher Kohle eingerichtet find. Es
ift übrigens bisher nicht genügend beachtet worden, daß das Kohlenproblem
auf Italien einen ftarfen Drud ausüben müßte, alle Sriegsgelüjte fahren zu
laſſen und feine Neutralität bis zum Ende des Krieges zu bewahren, denn
fobald Deutſchland dem kohlenarmen talien nicht mehr Liefert, würde fogleich
Italiens Kohlennot no ſchlimmer als die Frankreichs werden, und bie
ttalienifhe Handelsihiffahrt, die für das Wohl des Landes von befonderer
Bedeutung ift, würde ſogleich nahezu lahmgelegt fein, da von England eher
ein empfindlicher weiterer Nüdgang der Kohlenausfuhr nad Italien als eine
Steigerung in abfehbarer Zeit zu erwarten ift. Schweizer Zeitungen meldeten,
daß allein für die italieniſche Negierung täglich acht Güterzüge mit Kohlen aus
dem Nubrgebiet über die Gotthard» und die Lötichbergbahn nad Italien
geleitet würden; dazu lommt noch die Verforgung der privaten Induſtrie
Italiens. Gin Eingreifen Italiens in den Krieg als Gegner feiner einftigen
Bundesgenofjen würde diefe Quelle natürlich fogleich verftopfen, und der „welfchen
Der Rüdgang der engliſchen Kohlenausfuhr und ihre Folgen 175
Vertragstreue” würde in Geftalt einer gewaltigen Koblenteuerung und Koblen-
nappheit und außerdem mit der erzmungenen Sperrung des Suezlanals, von
der die Türken bisher nur SYtalien zuliebe abgejehen haben, eine höchſt
empfindliche Strafe fogleih auf dem Fuße folgen.
Alle diefe Folgen der erfchwerten Kohlenverforgung einzelner Länder durch
England haben immerhin in der Haupiſache nur Bedeutung für die jeweilig
betroffenen Zänder felbit. Bon allgemeinerer und weitertragender Wirkung muß
aber die ausnehmend hohe Erſchwerung fein, welche die Verſorgung der fried-
Iihen Handelshäfen und der in ihnen verlehrenden Schiffe mit den benötigten
Kohlenmengen bereitet. Ein großer Zeil der Weltichiffahrt ift nun einmal an
die englifche Kohle gewöhnt, deren Heizwert ja unerreicht ift und die daher mit
einem Minimum an Quantität die jeweilig gewünſchten Leiftungen zu voll»
dringen geftuttet. Wird die befte engliſche Kohle der Schiffahrt in den
europäilchen, afrifanifchen, aflatifchen und anderen Häfen auch nur zum großen
Zeil entzogen, fo werden unabjehbare Folgeerfcheinungen zu verzeichnen
fein. Someit in den Häfen nicht ein ausnehmend großer Kohlenvorrat
lagert, wird die Verforgung vielfach geradezu unmöylich fein, und die Kohle,
die in ungenügenden Mengen noch angeliefert werden fann, wird ſich fo teuer
fielen, daß alle für normale Friedenszeiten geltenden Rentabilitätsberechnungen
der Reedereien über den Haufen geworden werden. Wollen fi die Dampfer
aber für die Dauer des Krieges von der allzujehr verteuertin und nur ſpärlich
zu beichaffenden englifhen Kohle freimadhen und fi mit geringwertiger Kohle
begnügen, fo find die Verhältniffe auch um nicht viel gebeffert. Die leichter erhältliche,
von den Kriegsmwirren nicht berührte andere Kohle, meinetwegen japaniiche oder
amerifanifhe Kohle, mag viel billiger fein als die englifche, aber fie muß an
Quantität erfegen, was ihr an Dualität abgeht. Zrogdem mag es bei ber
gewaltigen Preisipannung zwiſchen engliicher und überfeeiicher Kohle für viele
Fahrten zweckmäßig fein, auf die engliſche Kohle zuguniten der fremden zu
verzichten. PVorausfegung freilich ift dabei, daß die Kohlenräume der Schiffe
darauf eingerichtet find, die ftark erhöhte Kohlenquantität aufzunehmen und daß
die Fahrzeuge nicht gezwungen werden, vom nubbringenden Frachtenraum
abzugeben, um nur die ausreichende Koblenverforgung zu ermöglichen. Die-
jenigen Schiffe aber, die in der Zage find, fi von der engliihen Kohle zu
emanzipieren, ohne die Rentabilität ihrer Fahrten zu gefährden, könnten ſich
dann leicht im Kriege derart an die billigere nichtengliihe Kohle gewöhnen,
daß fie au im Frieden zu ihrer alten Liebe nicht wieder zurüdfehbren. Im
einen wie im anderen Falle ift das engliihe Wirtſchaftsleben der leidtragende
Teil — und damit wäre wieder ein bedeutender Erfolg in dem uns auf-
gezwungenen Wirtichaftsfrieg für Deutfchland errungen!
Kriegswirtfchaftslehre
Don Dr. sc. pol. Ernft Oberfohren
ei einer Durchficht der gangbaren wirtſchaftswiſſenſchaftlichen Nach ⸗
ichlagewerfe und Lehrbücher fucht man vergeblih nad) einer
Behandlung der akuten pathologifchen Erfcheinungen des Wirtſchafts⸗
a lebens, die der Krieg hervorruft. Während fonft ſoziale Geſichts⸗
| 2 punkte allgemeinfter Art in der bisherigen wirtſchaftswiſſenſchaftlichen
Forfhung und Lehre nichts Seltenes waren, wurde der Krieg ftarl vernach⸗
läffigt, mochte es fich nun um Erſcheinungen handeln, die den Krieg
modifizieren, oder um foldhe, die durch ihn modifiziert werden. Etwa bie
Kriegstrifiß den immer wieder auftretenden, für unſere Wirtſchaftsordnung
charakteriſtiſchen Krifen unterzuordnen, geht nit an; und zwar fon deshalb
nicht, weil die Kriegskriſis meift plößlich eintritt und alle Zeile der Wirtſchaft
. gleichzeitig trifft, während die „normale“ Wirtſchaftskriſe einen langſamen
Verlauf nimmt, indem fie von einer beitimmten Stelle beginnend fi auf die
anderen Gebiete ausdehnt. Nun ift zwar, wie befannt, in den legten Jahren
vor dem gegenwärtigen Weltkriege eine ganze Reihe von Schriften über einzelne
finanzielle Fragen, über die Wirkungen des Kriege8 auf den Aderbau, ben
Handel einzelner Länder, über den Zufammenhang zwiſchen den Produlktions⸗
formen, welche dur den Krieg einerjeits, den Frieden anderjeitS bedingt
werden, erfehienen; auch find einzelne kriegswirtſchaftliche Unterſuchungen durch
die verhältnismäßig zablreihen kurz aufeinanderfolgenden Kriege der legten
Jahrzehnte, die bedeutſames Erfahrungsmaterial geliefert haben (fo der ſpaniſch⸗
amerikaniſche Krieg, der Burenfrieg, der ruſſiſch⸗japaniſche Krieg, der italienifch-
türkiſche Krieg, der Balfanfrieg), veranlakt worden. Wenn man indeflen die
an fi) vielfach fehr wertvollen Arbeiten durchmuftert, fält einem ein offenbarer
Mangel an Syftematif auf: die einzelnen Fragen find wohl in der mannig-
faltigften Weife angefaßt, es fehlt indefien an zielbewußter Zufammenarbeit,
bie für den wiſſenſchaftlichen Fortfchritt von größter Bedeutung ift.
Vielleicht hat die hier angedeutete Tatfache darin ihren Grund, daß die
theoretiihe Nationalöfonomie vielfach, veranlaßt durch naturwiſſenſchaftliche
Analogien, danach trachtete, eine einzige Wirtſchaftsordnung als „die“ Wirt-
ſchaftsordnung zu konſtruieren und die verſchiedenen erfahrungsmäßig vor⸗
gefundenen als unweſentliche Variationen anzuſehen. Unter dem Eindruck der
Ariegswirtſchafts lehre 177
gewaltigen eigenartigen Erſcheinungen des Wirtſchaftslebens, die der gegenwärtige
Weltkrieg veranlaßt bat und noch veranlaſſen wird, dürfte fich für die Wirt⸗
ſchaftswiſſenſchaft infofern ein neues Forichungsgebiet eröffnen, als ihre Träger
angeregt werden, nicht nur dem Strieg und den mit ihm zufammenhängenden
Erſcheinungen größere Aufmerkfamleit zu widmen, fondern auch marlante Gruppen
von Fragen fchärfer zu prägifieren und deren inneren Zufammenhang aufzuzeigen.
Auf die Notwendigkeit einer ſolchen ſyſtematiſchen Unterfuchung des
geſamten fpezifiihen Kompleres von Erſcheinungen und Tatſachen, die der
Krieg hervorruft, hat ganz kurz vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Welt-
frieges der dfterreichifcehe Nationalölonom Dtto Neurath bingewiefen, der im
Sabre 1913 in der Tübinger Zeitfchrift für die geſamte Staatswifjenichaft über
„Probleme der Kriegswirtichaftslehre” und im Weltwirtfchaftlichen Archiv über
„Die Kriegswirtichaftslehre als Sonderdisziplin“ Auffäge veröffentlichte. Neurath
verjteht unter dem Begriff Kriegswirtfchaftsiehre die ſyſtematiſche Erörterung
der Bor- und Nachteile des Krieges. Diele Begriffsbeftimmung dürfte indefjen
erheblich zu eng fein. Es ift von vornherein Mar, daß die Kriegsmwirtichafts-
lehre ſich nicht erichöpfen kann in eines wirtichaftlichen Schlußbilanz der Aktiva
und Paſſiva des Kriegserfolges, das heißt in einer Betrachtung des wirtfchaftlich
geſchäftlichen Erfolges und Mißerfolges, den das NKriegsunternehmen für
die beteiligten kriegführenden Böller hat. Im Hinblid auf ihre ſpezifiſche
Aufgabe, den gefamten Kompler von Erſcheinungen, Zatfahen und SKaufal-
zaulammenhängen, wie fie durch den Krieg hervorgebracht werden, ſyſtematiſch
zu unterjuchen, müßte fie eine bejondere Nationalölonomie des Krieges werden,
der als Forſchungsgebiet die Sefamtheit der mit dem Kriege zufammenhängenden
wirtſchaftlichen Tatbeitände zufiele. Geht man fo daran, die Kriegswirtichafts-
lehrte in dem Sinne zu betreiben, daß höheren Anfprühen in bezug auf
ſyſtematiſche und theoretifhe Durchdringung genügt wird, dürfte fild allerdings
bald herausftellen, daß das Unterfuhungsgebiet begrifflih nur ſehr roh ab-
zugrenzen if. Manches, was bei fchärferer Analyſe zu eliminieren wäre, wird
vorläufig einbezogen werden; aud wird der Berfud, ein Syftem zu jchaffen,
von vornberein mit erheblichen Mängeln behaftet fein. Immerhin fann man
ganz allgemein jagen, daß die Kriegswirtichaftslehre als eine jpezielle National-
öfonomie des Kriege in der nämlichen Weife aufgebaut werden müßte wie
die Wirtichaftswifienihaft überhaupt: zerfallend in eine theoretifche und eine
praktiſche Kriegswirtichaftsiehre würde fie fih als eine Geſamtlehre von den
eigenartigen wirtſchaftlichen Zuftänden und Erſcheinungen darftellen, die der
Krieg bervorbringt, von den Vorbereitungen auf den Krieg bis zu den nachher
verbleibenden wirtichaftlichen Folgewirkungen.
Die augenblidliche Situation ift für die Entfaltung der neuen wiflenjchaft-
lichen Disziplin überaus günſtig. Nicht nur ift der Sinn für allgemeinere
theoretiſche Zufammenfafiungen gewachſen, gerade unfere Zeit hat auch überaus
bedeutfames empirifches Material geliefert und liefert e8 in unerjhöpflicher
Grenzboten II 1915 | 12
178 Kriegswirtfchaftslehre
Fülle weiter. Allerdings wird man fi) nicht der Hoffnung hingeben dürfen,
daß die Ergebnifle diefer Sunderdisziplin rafh gefunden und in wenigen Sätzen
formuliert werden könnten. Gerade der Balkankrieg bat noch auf das Ddeutlichfte
gezeigt, wie mannigfultig die Folgen fein können, die der Krieg in den beute
empirisch vorliegenden Vollswiriſchaften hervorzurufen vermag. Wir fahen, wie
er bier fchwerfte Störungen, dort nur geringfügige Veränderungen berporrief,
an anderen Stellen g-radezu anregend wirkte. Die Kriegswirtichaftslehre wird
die Staaten in Gruppen teilen und überdies auch darauf Rückſicht nehmen
müffen, in welchem Staatenigitem ſich ein beftimmter Staat befindet. Sie wird
einen Unterichted zu machen haben zwiſchen ſolchen Gebieten, die im mefentlichen
die Eiyentümlichleiten der Geldmirtichaft aufmeilen, welche vor allem durch die
Häufung leicht kündbarer oder furzfriftiger Verträge charalteriftert ift, und
zwiſchen jenen Gebieten, in denen die Naturalwiriſchaft überwiegt und das
überfommene Zufammengebörigfeitsgefühl auftaucddende Schäden leichter über-
winden läßt. Es wird von großer Bedeutung fein, ob in einem Gtaate bie
Örundbefigverteilung eine aleihmäßige oder ungleihmäßige tft, ob man es mit
Heeren der allgemeinen Wehrpflicht oder mit Sölonerheeren zu tun bat uſw.
Schon dieſe flüchtige Überficht zeigt, welche reiche Gliederung die neue
Disziplin notwendigermeife befigen muß und mwelde Fülle von Problemen der
Löſung harrt. Darüber darf man fi allerdings nicht täuſchen, daß troß aller
günftigen Vorausfegungen noch geraume Zeit vergehen dürfte, His ein voll-
ftändiges Syitem der Kriegswiriſchaftslehre zuftande fommt. Auf der anderen
Seite darf abır doch auch gejagt werden, daß ein Ausbau der Kriegsmwirtichafts-
lehre zu einer geſchloſſenen Theorie die Enifaltung der Volkswirtſchaftslehre
überhaupt weſentlich fördern würde. Abgefehen davon, daß die Kriegsmwirtichafts-
Iehre die Erforfchung der konkreten Wirklichkeit intvnfioer als bisher ermöglichen
wird Tann durch ihre Anerlennung als Sonderdiszplin aud der Einficht
Vorſchub geleiftet werden, daß die volkswirtſchaftliche Theorie in der Lage ift,
vielerlei Komplere von Ericheinungen zu bejchreiben, die verſchiedene Ver⸗
ſchiebungsregeln für ihre Elemente aufweilen. Wären wir in der Volkswirtſchafts⸗
lehre foweit fortgefchritten, daß wir ganz allgemein alle möglihen Wirtichafts-
formen ftudierten und uns die Frage ftellten, wie fi) gegebene Formen verändern,
wenn dauernd beftimmte Regeln gelten, wie dagegen, wenn eine Negeländerung
eintritt, dann brauchten wir feine eigene Theorie für den Krieg, da diefelbe als
Sonderfall ſchon vorgeiehen wäre. Da wir uns aber im allgemeinen nur
wenig von den vorgefundenen Kombinationen entfernen und es nur felten wagen,
empirifh gemonnenes Material zu neuen Yormen zu verbinden, fo erſcheint es
dem jegigen Stande der Vollsmwirtichaftslehre angemefjen, wenn man im engen
Anſchluſſe an die vorhandenen Gebilde fhrittweife zu Generalifierungen übergeht.
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Deutſche Hriegsdichtung heut und vor hundert Jahren
Don Dr. W. Woarftat
„Was zum Siege uns erforen,
Bar der Freiheitskriege Geift,
Der aus tieffter Roi geboren,
Feſter und zuſammenſchweißt.“
Eeeſes Geftändnis finden wir in einer ber Kriegsdichtungen bon
* heute. Es iſt das Gedicht „Deutſche Kunde“ von Richard May in
der Sammlung „Deutſchlands Kriegsgeſänge“ von C. Peter.
(Oldenburg i. Gr. Verlag Gerhard Stalling.) Und blättert man
die außerordentlich große Zahl von Gedichtfanmlungen und
jelbftändigen Gedichtbüchern einzelner Dichter durch, die mit der Zahl 1914 an ber
Stirn unter dem Zeichen des Weltkrieges erfchienen find, fo findet man überrafchend
oft da8 Beitreben, innerli und auch äußerlich an die Zeit vor Bundert Jahren,
an den Geift der Befreiungsfriege und an den Ausdrud dieſes Geiltes, bie
fogenannte „Sreiheitsdichtung“, anzuknüpfen.
Bon ben Bemühungen, in Außerlidfeiten ſich an jene Zeit und ihre
Dichtung anzulehnen, fei nur erwähnt, daß in Erinnerung an Rückerts „Geharnifchte
Sonette” die Sonettform wieder zu Ehren gefommen iſt. Ja, einzelne Dichter
‚gehen jo weit, jenen berühmten Titel für ihren Bedarf abzumandeln und feine
allgemeine Belanntheit wenigfteng im Abglanz für fih auszunügen. Richard
Schaukal, der öfterreihiihe Dichter, Ihmiedet „Eherne Sonette“ (Georg Müller
in Münden) und zwingt dadurd) den Leſer zu einem Bergleihe zwiſchen diefem
fogenannten „Erz“ von heute und der „geharniſchten Poefie“ Rückerts, nicht zu
feinem eigenen Borteil. Denn was dem Schwaben 1813/14 gelungen ift, das ift
bem Oſterreicher 1914 nicht geglüdt. Iener griff mit geharnifchter Hand in bie
Herzen feiner Zeitgenofien und rüttelte fie auf durch die monumentale Wucht
feines Wortes: „Was fchmiedft du, Schmied?" „Wir fchmieden Ketten, Ketten!“
„Ad, in die Ketten feid ihr felbft geichlagen.” Es ift ihm gelungen, die gewaltigen
Ereignifje von 1812 und 1813 in Bilder und Symbole zu faffen, die ihrer wert find.
Schaufal dagegen begnügt ſich vielfach damit, impreffioniftifch und durchaus geſchickt
geſehene Einzeleindrüde uns in Verſe und Reime zu leiden. Aber das erfcheint ung
heute als Spielerei für Sriedensgeiten. Er madt kleine Gloſſen zum großen Gefcheben.
12”
180 Deutfde Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren
Man vergleiche zum Beilpiel die Sonette „Nation“, „An meine Bücher”, „Schön-
Brunn“, „Die Fremde” u.a. Er jchließt ein Einleitungsfonett „An Friebrich Rüdert“:
„Roh find wir Eurer würdig, tapfre Ahnen,
Bir grüßen Euch, Ihr alten Freiheitshelden,
Und wandeln treu auf Euren alien Bahnen.”
Mit mehr Glück tritt Hermann Kienzl, der in feinem Gedichtbande „Auf bebender
Erde” (Schleſiſche Verlagsanftalt von G. Schottländer, Breslau, 1914) eine Anzahl
‚von Sonetten unter den Gejamttitel „Sonette im Harniſch“ ftellt, in die Fuß⸗
tapfen feines Dichterifchen Ahnen. Mit Kraft und Gefchid in der Auswahl feiner
dichteriſchen Bilder, nicht immer mit Geſchmack im Ausdrud, hält er jo mander
Schwäche des deutihen Volkscharakters den Spiegel vor und zeigt fie ung, be-
leuchtet vom Lichte des Weltbrandes, um ung zu ermabnen:
„Auf, Deutihel Tragt an Deutihlands jungen Morgen
Die legten Scheite eurer Not zuſammen!
Laßt alle Bögen, die die Herzen trennen,
Am reinigenden euer prafielnd brennen!
Ein Bhönir ſchwebt zum Hochwald der Ardennen.”
In die Bahnen Rüderts lenkt bewußt, auch in der Bevorzugung ber Sonettform,
Seinrih Molenaar mit feinen „Kriegsgedichten“. (Leipzig. 1914. Friedrich Ianfa.)
Aber auch abgejehen von dieſem etwas aufs Außerliche gerichtete Beſtreben
einzelner Dichter haben wir durchaus die Berechtigung, die Kriegsdichtung von
heute in Beziehung zu fegen zu der vor Hundert Jahren, fie fih von jenem
biftorifhen Hintergrunde gewiflermaßen abheben zu lafien. In ber Tat ift ja bie
Volksftimmung von Heute viel mehr mit der von 1813 und 1814 verwandt als
etwa mit der von 1870. Nicht nur, dak eine ähnlich große Not, eine ähnlich
gewaltige Aufgabe den tiefften Ernft und die mädhtigfte Willensanfpannung, das
Bewußtſein im Volke hervorgerufen bat, e8 handele fich jegt für ung, genau fo
wie 18183, um Sieg oder lUintergang, Sein oder Nichtfein! Bor allem ift unfer
Bolt fih Heute in ähnlicher Weile bewußt, unter der erzieheriihen Wirkung
des Krieges zu ſtehen, dem Sriege eine ſittliche Läuterung und Erhöhung zu ver-
danken, wie e8 auch 1813 und 1814 der Fall war. Wenn Rüdert fang:
„Geprieſen fei der Herr in feinem Zorne,
Der ausgeſendet hat ein frefiend euer
an’ über mich, der ich ein ungetreuer
Saatader, wuderte mit taubem Sorne.
Set will ich wieder tücdhtig fein und wacker,
Ein gutes Feld, und tragen gute Saaten,
Denn du, o Herr, ſollſt felber mid) befamen . . . .“,
fo fingt heute Richard Dehmel:
„Sei gejegnet, ernftie Stunde,
Die uns endlich ftählern eint;
Frieden war in aller Munde,
Argwohn lähmte Freund wie Feind —
Jetzt fommt der Krieg,
Der edrlihe Krieg
Deutfde Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 181
Dumpfe Gier mit ftumpfer Kralle
Feilſchte um Genuß und Pracht;
‘est auf einmal fühlen alle,
Was und einzig felig macht —
Jetzt Tommt die Not,
Die beilige Rotl... ."*)
Das legte Ziel, nad) dem jene erzieheriihe Wirkung Binftrebt, das Ideal,
unter dem jene fittlihe Erhöhung fich vollzieht, ift ein und dasſsſelbe damals wie
beute: es ift die Einigung und Verſchmelzung aller perjönlich - indivibualiftiichen
Interefien in der Unterordnung unter da8 Intereſſe des Ganzen, nämlich be
Baterlandes, es beiteht in der unbejchräntten Hingabe des einzelnen für das
Baterland. Unter der Einwirkung des Krieges entfteht eine eigentümliche Ver⸗
ſchmelzung perfönlich - fittliher und nationaler Gefühle. Wir nennen dieſe Er-
weiterung des perjönlidy- individuellen Gefühlskreiſes zum nationalen Semeinfchafts-
gefühl kurzweg Baterlandsgefühl oder „Rationalbewußifein“.
Diefed Nationalbemußtfein, welches zugleih ein Gefühl der nationalen
Gemeinſchaft und Einheit ift, ſpricht fih in der Kriegsdichtung von 1813/14 und
der von 1914 in gleicher Weife aus. Aber 1813/14 war diefes Gefühl eine eben
erblübte Knoſpe, die ihr Erblüben nicht allein der Gewalt verbantte, mit der das
napoleonifhe Unglüd den Ader in den Herzen der Deutichen für fie bereitei Batte,
jondern auch der Mühe und Wartung, welche die nationalen Erzieher, die Männer
wie Stein, Arndt, Fichte, Schleiermadher ihr Hatten angedeihen lafien. Daber ift
der Freiheitsdichtung vor allem ber national-erzieherifche Ton eigentümlid. Er
findet fih in Rückerts Sonetten, vornehmlih aber in Arndt Gedichten. Der
grimmige Franzofenbaffer läßt es an Tadel und Ermahnungen nicht fehlen, um
feine Deutfchen ihrer „Hohen Ahnen“, der alten @ermanen, wert und zu einem
feines Wertes und feiner Pflicht bewußten Volke zu machen.
Diefer erzieheriiche Ton tritt in ber Kriegsdichtung von heute nicht fo ftarf
hervor, braucht nicht fo ſtark Kervorzutreten; denn daß, was damals Knospe ober
junge Ylüte war, das füllt ung heute als köſtliche Frucht in den Schoß, für ung
felhft eine Uberraſchung, die das Glücksgefühl über den köftlichen Befig noch erhößt.
Dieſes Glücksgefühl über die nationale Einheit, über das Verſchwinden der Gegen-
füge von Rang und Stand, Partei und Weltanſchauung gegenüber der ringsum
gewaltig und tüdiih drohenden Gefahr, die Wolluft, mit der der einzelne im
Ganzen verfinkt, findet auch in der Kriegsdichtung immer wieder Ausdrud. Am
Bäufigfien fchlägt diefen Zon Albert Sergel an:
„Vereint in Liedern und Gebet An aller Augen ftrahlt ein Licht,
ein ganzes Bolt zum Simmel fleht. Das fündet Trug und Yuperfict.
Des Feindes Lift an dir vergeht, Mit ſolchem Bolt erliegft du nicht,
mein Baterland! mein Baterland!
„Der heilige Krieg”, Gedichte auß dem Beginn des Kampfes. Taibücher für bie
veldpoft. Heft 1. Jena, Diederihd. Preis 60 Pf. Dieſes reihe Heftchen fpiegelt ebenfo
wie da8 Heft „Der Kampf“ [Tatbücher, Heft 4] derfelben Sammlung den Gedanken⸗ und
Gefühlsgehalt der Kriegsdichtung von heute vielleiht am überfichtlichften wieder. Man ver.
gleihe auch unten Albert Sergeld ſchönes Gediht „Eiferne Saat” in dem gleichnamigen
Gedichtbuche dieſes ehrlichen Dichter. Verlag €. I. €. Volkmann Nadif., Berlin-Eharlotten-
burg. 1916.) |
182 Deutſche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren
Biel Hände reden fi empor,
fein Herz, das dir nit Treue ſchwor.
Run brich zum Krieg, zum Sieg hervor
fürs Vaterland,
mein Bolt!”
Selten hat ein Kaiferwort in fo glüdlicher Weife die Volksftimmung wieber-
gegeben wie jenes: „Ich kenne feine Barteien mehr, ich fenne nur noch Deutichel”
Aus der Dichtung Hallt dieſes Wort in hundertfachen Abwandlungen wieder.
Will Vesper fingt in dem Gedicht „Die drei Kumpane“ in der Sammlung „Bom
großen Krieg 1914" (Münden 1915. ©. H. Bedihe Verlagsbuchhandlung Oskar
Bed):
a ....„Da war kein Lärm, da war kein Geſchrei,
ſtand Bruder an Bruder gereibt.
Nicht Nord, niht Süd und feine Bartei.
Alleinig dem Tode geweiht.
Du heilige Burg, du beiliges Reich,
Dad die Väter gemauert mit Blut,
Bor dir ift Kaifer und Bettler gleich,
Dir gehört all Xeben und But." ....
Immer wieder befruchtet im Zufammenhange damit dann ber gewaltige
Eindrud die Phantaſie der Dichter, wie das deutfche Volt mitten in ber Arbeit
bei der Mobilmahung aufbordt, wie ihm einen Augenblid ber Atem ftodt und
wie dann Mann für Mann von der Arbeit, von der Ernte zu den Waffen
eilt. Gerhard Hauptmann beginnt eines feiner Kriegslieder, das in viele
Sammlungen übergegangen ift, mit ben Berfen:
| „D mein Vaterland, heilige Heimatland,
Wie erbleichteft du mit einemmal?
Banger Atem ging dur Feld und Tal,
Bleiern wuchs ringsum der Wollen Band.“
Eine anſchauliche dichterifhe Seftaltung erfährt die Mobilmahung aud in
Guftav Schülers Gedicht: „Mobil.“ (In Waffen und Wahrbeit. Leipzig. Verlag
Arwed Strauch. 1914.)
„Und alle ſprangen zornfunkelnd vor
Aus Werkſtatt und Haus und Tür und Tor.
Aus den rußigen, rauchenden Hammerwerken
Mit wilden, brechenden Armesſtärken.
Es haben die hinter den Schreiberstiſchen
Nicht Zeit, die Federn auszuwiſchen.
Fort! fortll Die Läden werden leer,
Und feiner fprit und redet mehr. —
Alldeutihland fprang aus Tür und Tor
Sornfuntelnd vor!”
Ein befondere8 Blatt wird Hierbei ftet3 den Sriegöfreiwilligen gewibmet.
Dem Körnerfchen:
„Pfui über di Buben hinter dem Ofen,
Unter den Schrangen und unter den ofen!
Biſt doch ein ehrloß erbärmlicher Wicht!“
Deutfhe Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 133
ſteht aber Beute die Schilderung gegenüber, wie ein ungeftümer Drang, eine
jelftvergefiene Begeifterung unjere Jugend zu den Waffen treibt. Man vergleiche
Albert Sergeld „&ebet der Kriegsfreiwilligen” in der oben erwähnten Sammlung,
ferner Kurt Münger „Der Junge“ in „Taten und Stränge“, Lieder zum Kriege
1914 (Arel Sunder Verlag Berlin- Charlottenburg, Orplid-Bücer Bd. 13) u. v. a. m.
Kleine Anekdoten und Ausfprüche bieten den Dichtern willtommenen Stoff. Der
Kriegsfreimillige bringt fein Pferd glei mit, er beruft fi, wegen zu fchmaler
Bruft zurüdgewiefen, darauf, feine Bruft fei für eine Kugel und fürs Eijerne
Kreuz breit genug. Hierher gehört Herbert Eulenbergs Gedicht „Begebenheit“ in
der Sammlung „Der Heilige Krieg“, Scite 53.
Den Schmerz des Abſchiedes überwindet der Heilige Zorn gegen bie
Zeinde, die das Baterland umftelt haben wie die Meute da8 edle Jagdtier.
Diefer Zorn, der 1813 fi natürlich gegen den nationalen Unterdrüder Napoleon
rihtete, wenbet ſich heute wunderbarerweife viel weniger gegen Frankreich, als
vielmehr gegen das barbarifhe Rußland, das Binterliftige Iapan und vor
allem das verräterifche, lügenhafte und rechtbrecheriihe England. Die Zahl der
Streit- und Kampflieder gegen unſere Feinde ift groß, die Zahl der Haßlieder
gegen England aber ift unendlih in unferer Kriegsdichtung. Der klaſſiſche
Vertreter all diefer Zorn- und Kampflieder gegen England ift der jo Tchnell
überall voltstümlic gewordene „Haßgejang gegen England“ von Ernſt Lifjauer
(„Borte in die Zeit.“ Otto Hapke Verlag, Göttingen und Berlin W 8) mit
dem Leitmotiv: |
„Wir lieben vereint, wir baflen vereint,
Wir haben alle nur einen Feind:
England.“
Was heute diefen Zorn, diefen Haß gegen unfere Feinde und gegen
England im befonberen fo ſchwer und fo tief macht, das ift wohl der fittliche Gehalt
darin. Immer wieder bringt e8 unfere Kriegsdichtung zum Ausdrud, wie ſchwer
fh unfer Bolt in feinem Rechtsempfinden und in feinem fittliden Empfinden
durch den Friedensbruch feiner Feinde verlegt fühlt. Daß man die Nibelungen-
treue, die der deutſche Hagen feinem öfterreihifchen Bruder Volfer — ein Vergleich,
den neben Schaufal nody mehrere andere Dichter gebrauchen — gehalten bat, zum
Kriegsvorwande genommen bat, daß man die verbündeten Völker zwang, mitten
aus der typifchen Arbeit des Friedens, der Ernte, heraus fi) der blutigen Ernte
des Krieges zuzuwenden (befonders viele folder Erntelieder find. zum Beiſpiel
in der fchon erwähnten Sammlung „Der Heilige Krieg“ [Tatbücher Heft 1]
enthalten, Seite 30 fj.), da8 macht die Erbitterung fo tief. Damit im Zufammen-
bang entwidelt fi) dann aber das Bewußtſein, für daß gute Net, für bie
fittlide Sache zu kämpfen, und das feſte Vertrauen auf die Hilfe Gottes. Deutich-
land, das „Herz der Welt“, kann nicht untergehen, e8 muß feine Sendung erfüllen:
am deutſchen Weſen ſoll die arge und kranke Welt genejen:
„Geneſen foll die kranke Welt,
Bird jegt ihr’ Sad’ auf Recht geftellt —
- Kommt deutihe Zeit!” F
(Karl Rosner, „Kommt deutſche Zeit” bei C. Peter „Deutſchlands SKriegsgefänge“
Seite 53 ff.) |
184 Deutſche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren
Das Bewußtfein und die Zuverficht göttlicher Hilfe in biefem Kampfe um
das Recht, für das deutfche Wefen bildet in der Kriegsbichtung von Beute einen
ebenfo ftarfen, wenn nicht noch ftärferen Klang als in der ver hundert Jahren.
Auf dein Bewußtſein des guten Rechts und ber Gotteszuverſicht baut fi
dann die freudige Entichloffenheit zum Kampf und die feſte Siegeszuverſicht auf.
Für die deutfchen Dichter ift ein Zweifel am glüdlihen Ausgang bes Kampfes,
an der Kraft des Baterlandes nicht möglid.
„Deutihland kämpft um fein Leben.
Es wird nicht untergehn,“
fagt Alfred Kerr.
Es fcheint fo, als ob dieſe aweifelfreie, unbefümmerte, faft felbftverftänblidhe
Gewißheit und Zuverfiht auf die Stärke und den Erfolg des Vaterlandes in
Ofterreich nicht in demfelben Make vorhanden ift oder bei Ausbruch des Krieges
war wie bei ung. Die Ofterreicher Haben anfcheinend eine derartige Wiedergeburt,
eine derartige Einigung ihres vielzerflüfteten Vaterlandes, wie fie unter dem
Drude der Not tatfächlich ftattgefunden bat, felbft nicht erhoftt. Richard Schaufal
ruft in den „Chernen Sonetten“ den „Nörglem“ zu:
„Wenn wir uns freu'n verheißungsvoller Taten,
bon läftigern Zweifel gar zu'gern befreit,
fälſchen fie Schatten von Verlegenheit
fogleih zu Mißwachs Hoffnungsreifer Saaten.“
Und Hermann Kiengl fchildert in der Sammlung „Auf bebender Erbe” jene
Einigung und Wiedergeburt unter dem Drud der Rot:
„D, du mein Öfterreih! Nah flotten Weiſen
Am Walzertatt, wie ritteft du fo Yeiter,
In alten Schlendriansd gewohnten SKreifen |
Längft im hiſtor'ſchen Alter eines Greifen,
Triebft du die Spiele deiner Jugend weiter;
Zum Ernſte fehlte dir der ernſte Leiter.
Doch Eifen bricht die Rot, wie Rot bricht Eifen!
Segt kam der Führer... . .“
Erft allmählich bricht die Freude, das Glück über diefe Wiedergeburt durd).
Da jubelt Schaufal, der in dieſen öfterreihifchen Liedern (Kriegslieder aus Dfter-
reich 1914. Erfteß Heft. Münden 1914 bei Georg Müller) fein Beſtes ge-
leiftet bat:
„Haſt du dich endlich deiner Kraft befonnen,
mein altes, oft gefcholtenes Oſterreich?
In deinen Adern ftrömen frifche Bronnen,
verfüngt bift du bir felber wieder gleich.
Das ift das Hfterreih der großen Seiten,
nad) dem wir und in Träumen oft gelehnt . . .“
Und biefes Einheitsgefühl fchafft dann auch in Hfterreich Kraftgefühl und
Siegeszuverficht, den Willen zum Kampf bis auf äußerſte, es greift fogar hinüber
bis zu dem beutfchen Blutsbruder im Rei. Die beiden Adler, die vereint den
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Deutfche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 185
Anſturm der Feinde abwehren und die Grenzen hüten, find ein beliebte Symbol
für dieſes Einigfeitsgefühl zwiſchen Deutfchland und Ofterreich, ebenfo wie das
Ihon erwähnte Bild vom Bruberfampf Volkers und Hagens gegen die Hunnen.
Die eigentlihe Kampflyrit findet 1813 ihren beften und befannteften Ber-
treter in Theodor Körner. Seine aus der Blut bes Gefühls Heraus entitandenen
Kampfeshymnen Ieben noch heute und tauchen daher in einer ganzen Anzahl
heutiger Liederfammlungen wieder auf, zum Beifpiel in der Sammlung „Soldaten-
lieder”, neu gedbrudt im Kriegsjahr 1914 (Arel Junder Verlag, Berlin-Eharlotten-
burg, Orplidbücder, Band 11). Die Töne, bie auß ihnen flingen, die Kampfes⸗
freude und die reiheitöbegeifterung, vor allem die Todesahnung, wirken noch
heute echt und ſtark. Aber im Vergleich zu ihnen erfcheint ung die Kampfesiyrif
von heute viel reicher, reicher an Geftalten und reicher differenziert im Gefühls-
gehalt. Es ift Hier unmöglich, die große Anzahl älterer und jüngerer, befanuter
und bisher unbefannter Dichter aufzugählen, die zu den Fahnen geeilt find und fo
Gelegenheit haben, unmittelbar unter dem Eindrud des Geſchehens bichterifch zu
geitalten. Wir gedenten bier nur ftill einiger von denen, die gleih Körner dem
Baterlande mit dem Leben zahblten: des Seibedichter8 Hermann Löns, der zu
unferer heutigen Kriegsdichtung einige der zarteften Lieder von Soldatenluft und
Soldatenlied im Volkston beigefteuert Bat, des Ofterreicher8 Zudermann, beffen
„Dfterreichifches Neiterlied“ mit Volfsliedfraft überallhin gedrungen ift*), und
endlich des jungen Oftpreußen Walter Heymann.
Roh aber klingt ung die Leyer Richard Dehmels, Rudolf Herzogs, Fritz
von Unrubs, des jungen begabten Holiteiner8 H. Friedrich Blund und vieler
anderer. Ein Lied wie F. von Unruhs „An der Marne“ zwingt unwillkürlich zum
Bergleich mit Körner, e8 liegt Körnerfher Rhythmus darin:
„Die Sonne fteigt glühend aus Nebeln auf,
Kanonen donnern und fradıen;
Wir fpringen auf unfere Gäule binauf,
Mit dem Schwerte, dem Schwerte zu waden.
Das lieblihe Tal voller Morgenglanz
Empfängt unfere fehnenden Herzen:
Wir wollen den grünenden Giegerfrang
Bei rauchenden Schladtenterzen.
Und ftellt fi der Tod von Feld zu Feld
Dem Stürmen und Drängen entgegen,
Und fält von Scholle zu Scholle ein Held:
Bir ſchlürfen des Himmels Segen . . .”
(„Der Heilige Krieg“, Gedichte a. d. Beginn des Kampfes. Jena, Diederichs,
Seite 59f.)
Bemerkenswert ald ein unterfcheidender Zug gegenüber der ibealiftifchen
Gedankenlyrik Körners ift jedoch das innige Naturgefühl, daß in dem angeführten
*) Bertonungen für eine Reihe folder volkstümlicher Lieder oder Lieder im Bolston
die erwähnten find darunter) gibt unter anderen Eugen Diederih8 Verlag in Jena heraus:
„Kriegslieder fürs deutihe Bolt mit Roten” und „Kriegöflugblätter für eine Singftimme
wit Slavierbegleitung“.
186 Deutfche Kriegsdidhtung heut und vor hundert Jahren
Liede ſchon anklingt, das bei anderen Dichtern fogar eine beherrſchende Stellung
einnimmt, zum Beijpiel bei 9. F. Blund und Walter Fler. Sener =. fein
Lied „Batrouille”:
„Nebel füllt die Yennen.
Bie Infeln an einem grauen Meer
Magen die Höhen, budlig und ſchwer;
Die Kiefern tropfen, feucht ift das Feld,
Ein ferner Schuß, den der Tannicht hält, —
Wo blieb der Feind?“
(Diefes und ähnliche Beifpiele in großer Zahl ftehen in der Sammlung „Der
Kampf“ bei Diederich8 in Jena.)
Was den größten Zeil diefer Kampfeslyrik aber von der Th. Körners und
ihrem Schillerihden Pathos unterfheidet, daß ift der überall zutage tretende Drang
nah dem Volksmäßigen, dem Bollstümliden und infolgedefien dem Liedbaften
und Sangbaren. Der Stil des Volksliedes und des Soldatenliedes herricht vor
in biefer Lyrik, wenn fie auch von SKünftler - Dichtern herrührt. Den Ton des
Soldatenliebes trifft zum Beifpiel fehr glücklich Klabund in feinen „Soldaten-
liedern“ (Gelber Verlag, Dachau bei Münden). Ia, man kann noch mehr jagen:
die dichteriſche Tätigkeit, da8 Dichten felbft, ift wieder volkstümlich geworden.
Es jcheint in der Tat jo, als wenn wir auch während dieſes Krieges ein kraft⸗
volles Auffladern der Volksdichtung erleben follten.
Und aud der Inhalt diefer neuen Volksdichtung ift typiſch; die Lieber find
flott rhythmiſche Kampf- und Dlarjchlieder oder Reiterlieder. Man vergleihe das
Neiterlied „Mit ſtolz gebauſchten Fahnen“ eines unbelannten Verfaſſers in ber
Sammlung „Der Kampf“, Seite 74. Bielfach gebt dur fie jener ſchwermütige
Zon, der da8 Bolfglied jo bang und ſüß madt: der Abfchied, der Zod, die Heimat
und ihre Lieben, der treue Kamerad und fein Sterben, daß find die Gegenſtände,
die diefer Kriegslyrik auch Heute wieder ihren Gehalt geben. Beifpiele für ſolche
Bolkslieder find in den erwähnten Sammlungen, namentlih in denen des
Diederihsihen Verlages, mehrfadh vorhanden. Die Vorliebe für den Tod und
die Trauer des Krieges beherrſcht auch jehr merklich Kurt Münzers Liederbüdjlein:
„Raten und Kränze“. (Arel Juncker Berlag, Berlin-Charlottenburg, Orplid-Bücher,
Band 13. In der gleihen etwas gejucht wirlenden Ausftattung der Orplid-Bücher
find zwei SKriegßliederfammlungen erſchienen: „Neue SriegSlieder” und „Saferne
und Schügengraben”. Die Sammlung „Soldatenlieder” wurde ſchon erwähnt).
Daneben aber fehlt auch nit der Humor, der ſich an dieſes oder jenes kleine
Erlebnis anfchließt oder die eigene Lage verjpottet. Biel durch die Zeitungen
und — durch die Zeldpoftdriefe ift das famoje Lehmlied gegangen:
„Bol Lehm find unjere Beine, So geht es Woch' um Wochen,
Bol Lehm aud dad Gelicht, Rur Lehm und Lehm und Lehm,
Bol Lehm aud alle andre, Es geht bis auf die Knochen
Was man man zu jeben kriegt. Der ewige Lehm, Lehm, Lehm.
Bol Lehm der Schütengraben, Da plöglih eine Wandlung,
Boll Lehm das Nachtquartier, Es gebt in einem Hupp,
Bol Lehm die ganze Gegend, Jetzt regnet? grad zwei Tage:
Und alle ringsum bier. Statt Lehm iſts Erbienjupp.”
Deutfhe Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 187
Für Sammler fei noch da8 Liebesgabenlied mit dem Stoßfeufzer: „So viel
Liebe — und fein Mädel!“ und das Rheumatismuslied mit dem Schluß erwähnt:
„Uns zieht der Rheumatismus fürs Vaterland durchs Kreuz!”
Neben dieſe Kriegslyrik tritt nun die Kriegsepik, zu der einerſeits die funft-
gemäße oder volksgemäße Ballade, anderſeits daB formlofe biftorifche Volkslied
gehört. An beiden Battungen ift unfere Kriegsdichtung überrafhend reih. Es
gibt Beute kaum einen Sieg, faum eine Tat unfered Heeres ober der Zlotte,
kaum einen lleinen oder großen Helden, der nicht mebrfach befungen worden wäre.
Am wmeiften Lieder vereinigen ſich wohl auf bie Eroberung Lüttichs und die Taten
des „U 9“ und der „Emden“ und auf bie Männer, an deren Namen biefe Taten
gefnüupft find. Bon den großen führern wird der Kaiſer und dann natürlich
Hindenburg gefeiert. Die Geftalt des Kaiſers bat unter dem Einfluß des Krieges
in der bildenden Kunft und in der Dichtung in gleiher Weile eine Verklärung
erfahren. Weshalb? Darauf antwortet und Mar Bewer in feinem fnappen, aber
tiefen Gedicht „Dem Kaiſer!“
„Wenn einer wert ift,
Daß des Ruhmes Krone,
Des Krieged Lorbeer
Sintet auf fein Haupt,
Bift du es, Kaifer,
Der von allen Herrſchern
Am längften an den Frieden hat geglaubt.“
Hindenburg aber ift nicht bloß im Kampf, fondern au in der Dichtung der
Blücher von 1914 geworden. In Hymnen und im Dialelt, in Igrifhen und
epiihen Ergüflen, in Balladen und fomifchen Gedichten wird er und feine Zaten
gefeiert. Als Probe eines Volksliedes mögen bier zwei Strophen aus einem Liede
ftehen, da8 Landwehrmänner nach der Weiſe des Tannenbaumliebes am 22. Dezember
auf dem Bahnhof in Sosnotwice gejungen haben:
„D Hindenburg! o Hindenburg! wie fhön find deine Siegel
Du madft nit nur im Breußenland, nein aud in Polen dich bekannt.
D Hindenburg! o Hindenburg! wie ſchön find deine Siegel...
Bei Orteldburg, bei Anfterburg, bei Soldau und bei Wlozlau
Haft du die Ruſſen angelodt und ihnen did dann eingebrodt.
Bei Orteldburg, bei Infterburg, bei Soldau und bei Wlozlaul ...“
Zum Schluffe dürfen in ber Kriegsdichtung von heute auch nicht ſolche
Stimmen übergangen werden, bie einen anderen Unterton tragen als die bisher
geichilderte Dichtung der Kämpfenden, feien e8 nun geiftige Kämpfer oder jolche,
bie mit der Waffe vorm Feind ftehen. Auch ber Gefühle derer muß bier gedacht
werden, die das Schidfal nicht zum fröhlich - begeifternden Kampf, fondern zum
geduldigen Warten auf das Leid, auf den Sammer des Krieges beftimmt Bat,
und bie ihr Heldentum daheim, im ftillen ſich erringen müflen durd) die Art, wie
fie ihren Schmerz auf fi nehmen und fih mit ihm abfinden. Aud ihre
Gefühle finden in ber heutigen Kriegsdichtung gelegentlih Dolmetſcher. Kurt
Münger findet zum Beifpiel für fie gelegentlich padenden Ausdruck („Zaten und
Kränze“), vor allem aber verjuht Hermann Claudius (Hörft du nicht den Eijen-
ſchritt? Zeitgedichte. Alfe. Janflen Verlag, Hamburg, 1914) fi mit dem Welt⸗
188 Deutfche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren
frieg nicht bloß vom nationalen, fondern auch vom allgemein⸗menſchlichen Stand-
punft außeinandergufegen. Er findet dabei für die Hilflofigfeit des einzelnen
gegenüber dem Weltgeſchehen, für das Entjegen vor dem Sraufigen des Krieges,
für die rein menfchlihe Tragik des Sterbens und des Todes ebenfo echte Töne
wie für die ehrliche Vaterlandsliebe und den opferbereiten Kampfesmut.
Er und fein Verleger verzichten auch mutig und felbfibewußt auf eine Art
bon — nun jagen wir — Entſchuldigung, die heute faft zu Häufig in Gedicht⸗
büchern zu finden if. Dichter und Berleger verſprechen einen Zeil des Neinertrags
dem Roten Kreuz. Da ift natürlich die Abſicht nur zu loben. Es Bat aber faft
den Anichein, als wollten die Dichter ihren Werfen in diefer eifernen Zeit dadurch
etwa8 mehr Dafeinsberechtigung verfchaffen. Aud) vor hundert Jahren haben zum
Beifpiel Uhland ähnliche Gedanken gequält. Wir möchten aber all unjeren Dichten
Beute daS frobe Selbitvertrauen und das Bemußtfein eigenen Wertes wünfchen, wie es
Will Vesper ſich bewahrt bat. Denen, die da „mit blutigem Schwert Weltgeſchichte
fchreiben“, gefellt er fich ebenbürtig bei und ruft ihnen zu:
„Durch den Ader der morfchen Zeit
reißt ihr breit
Den eifernen Pflug und wendet daß Land.
Aber Hinter euch geht
mit jegnender Hand
der Sänger und fät
beilige Saat,
daß nod in ferniten zukünftigen Tagen
eure Tat
‚euren Enteln joll Ernten tragen.”
WMaßgebliches und Unmaßgebliches
Theologie
Kirhengeihichtlihes Seſebuch. Heraus-
gegeben von Brof. Dr. H. Rinn in Hamburg
und Pfarrer lic. theol. Yüngft in Gtettin.
Große Ausgabe. Dritte vermehrte und ber-
befierte Auflage. Tübingen, Verlag von
% € B. Mohr. 1915. Preis M. 6.—,
geb. M. 7.—. 480 Seiten.
Mit der Herausgabe diefes kirchengeſchicht⸗
Iihen Leſebuchs, als deſſen ausſchließlichen
Verfaſſer man wohl nur Rinn in Anſpruch
nehmen darf, bat fich der Verfaſſer ein wirk⸗
liches Verdienſt um das Studium der Theologie
und um die Vertiefung des Religionsunter⸗
richts an unſeren höheren Schulen erworben.
Das Buch iſt von der richtigen Voraus⸗
fegung aus geſchrieben, daß der religiöfen
Gewißheit um fo beſſer gedient wird, je ge
wiflenbafter die Arbeit ift, die über die Ent-
ftehung und den Werdegang des Ehriftentums
bon feinen erften Anfängen an quellemnäßige
Klarheit und Wahrheit verſchafft. Einen
überreich quellenden Stoff, der fi auf beinahe
zwei Jahrtauſende erftredt, auf einen ver⸗
bältnigmäßig engen Raum zufammenzu-
drängen, war nur möglich bei der ficheren
Beberrihung des Material® dur den Be⸗
arbeiter, der den Leſer auf möglichft geradem
und geebnetem Wege dem Ziele der Gegen-
wart zuführt.
Dad Buch zerfällt in fünf Adfchnitte. Die
beiden legten Abſchnitte ded Buches Halten
wir für die vortrefflihften Teile des ganzen
Werlkes, obſchon auch die drei erften Abfchnitte
eine QUuellenfammlung von grundlegender
Bedeutung find und in wiſſenſchaftlichen
latboliihen Kreifen ebenjo günftiger Auf⸗
nahme begegnen werden wie die beiden
legten Abſchnitte in proteftantifhen. Zu dem
Snierefie an der Sade gefellt fih das
Intereſſe an den Berfönlichleiten. Auch von
der Kirchengeſchichte gilt das von der profanen
Geſchichte geprägte Wort: PBerfönlichkeiten
maden die Geſchichte. So ſucht denn auch Rinn
den Hauptwert feine® Buches in dem quellen»
mäßig belegten Werdegang ber Männer,
die Kirchengeſchichte gemacht haben. Wir
empfangen höchſt wertvolle Auszüge aus dem
Leben der religiöfen Helden ded Mittelalter
bon Auguftin an bis herab zu Erasmus
Diefe Namen allein berühren bei aller Kürze
der Erwähnung fo vieles, daß man gar
nidt daran denten Tann, au nur eine
fnappe Darftellung gu verfuhen.. Um fo
wichtiger ift die Perfönlichkeit, die nun der
ganzen Kirchengeſchichte in der Folgezeit ihr
dauerndes Gepräge aufdrädt, Martin Luther.
Trotz der feit dem Jahre 1883 gewaltig an-
geſchwollenen Lutherliteratur ift das Urteil
über ihn noch nicht zur Ruhe gekommen.
Sn leidenſchaftsloſer Einfachheit laßt Rinn
den großen, gewaltigen Eindrud vor uns
erftehen, den diefe religiöfe Heldengeftalt auf
Mite und Nachwelt allezeit gemacht bat; er
verförpert den jungen Gottesfucher, den un«
geftümen Beter und Rufer im Gtreit um
jein Gewiffen und feiner Seele Seligleit,
die ungeſchlachte Derbheit des in der Notwehr
um fi fchlagenden Kämpferd, den aus«
barrenden Mut des ungebeugten Titanen,
der eine Belt aus den Angeln hebt und doch
in allem, was er tut, fih beugt unter die
gewaltige Sand des allmäditigen Gottes.
Hier Führt und Rinn zu den Höhen der
Menſchheit, in das Neih des Großen, Er-
190
Habenen, Heroiſchen. Luther verfolgt un?
nun dur das ganze Bud. Im Verlaufe
der fpäteren Geichichte des Proieftantiämus
erfheinen lange Zeit feine Perfonen von
genialer Überlegenheit, bis die neuefle Zeit
mit dem Pietißmus, der Aufklärung über.
leitet zu Auguſt Hermann Franle, Zinzen⸗
dorf, Reimarus, Leffing, Kant, Schleiermadıer,
Albrecht Ritſchl, dem legten Kirchenvater.
Hier mödten wir einmal einen Augenblid
Halt madhen. Hat die Überfülle dee Stoffes
den Verfaffer gezwungen, Goethes Religiofität
fo kurz zu charafterifieren und die Bedeutung
der Fauftdihtung für das religiöſe Leben der
Gegenwart beijeite zu jegen? VBiemards
Religiofität hören wir voll außtönen in feinem
Berbebrief an Herrn von Puttlamer und
in der fozialen Botſchaft vom 17. November
1881. Über diefen Tlaffifhen Helden des
modernen deutfhen Chriftentums vergißt Rinn
nit das weitausſchauende, freie, kirchliche
Vereinsweſen der Gegenwart, das die Rüſtung
darſtellt, mit der die Kirchen der Gegenwart
ihre Lebensaufgabe löſen und der Aus—⸗
einanderſetzung mit freundlichen und feind⸗
lichen Mächten des religiöſen Lebens ſich
widmen.
Ein Vergleich der zahlreichen kirchen⸗
geſchichtlichen Lehrbücher, die früher und teil⸗
weiſe noch heute dem lkirchengeſchichtlichen
Unterrichte an hoheren Lehranſtalten zur
Grundlage dienen, mit dem kirchengeſchicht⸗
Iihen Leſebuch Rinns madt jene nicht ganz
überfläjfig, zeigt aber, daß wir in dem Streben,
den Schüler an die Quellen zu führen und
ihn fein religiöfe® Urteil felbft finden zu
lafien, doch immer weiter fortichreiten müffen.
Sn gedrängter Zufammenjtellung und zweck⸗
mäßiger, überſichtlicher Gruppierung gibt das
Bud einen äußerſt umfangreichen geſchichtlichen
und biogrophiihen Stoff, deffen Benugung
und Ausführung dem lebendigen Bortrag
des Lehrers überlafien bleibt, dem Schüler
und Studenten aber ein Nachſchlagebuch
wird, aud dem er immer Wieder neue Ber
lehrung und Anregung ſchöpft. Das Ganze
ift in eine fpannende und fließende Dar»
ftelung gefleidet, für die alte und junge
Geſchichtsfreunde dem Verfaſſer dankbar find,
da fie die Durdarbeitung und Benugung
gefichtet.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
des Buches zu einem Vergnügen, nicht zu
einem Zwang macht. Mit unendlichem Fleiße,
den keine Mühe bleichte, iſt ein reiches Material
zuſammengetragen, kritiſch verarbeitet und
Daß der wohlverdiente Erfolg nicht
gefehlt hat, beweiſt die Tatſache einer dritten
Auflage, die raſch der erſten und zweiten
gefolgt iſt und aus dem Werke der erſten
Auflage in der vorliegenden Ausgabe ein
ganz neues Buch gemacht hat An der
kundigen Hand des Verfaſſers koſtet der Leſer
immer wieder die Freude am Werdegang
des Chriſtentums und erquickt fich gern an
der nationalen Bereicherung, die das deutſche
Bolt durch fein religiöſes Chriſtentum und
umgekehrt das Chriſtentum durch die
Religioſitãät des deutſchen Gemüts erfahren hat.
Heinrich Reuß
Julius Rupp: Geſammelte Werte.
Bd. J a/b. Aus der großen Fülle deſſen, was
Julius Rupp geichrieben hat, gibt der erfte
Band feiner bei Diederichs ericheinenden ges
fammelten Werke in zwei Teilen Rupps Auf⸗
füge zum Evangelium und zur Xheologie.
Während aber die im zweiten Zeil zuſammen⸗
geitellten Ausführungen zur Theologie größten«
teild Trisifche Beſprechungen bereits überholter
theologiſch⸗ wiſſenſchaftlicher Werte enthalten,
entwidelt Rupp im erſten Teil in ziemlicher
Ausführlichkeit feine und feiner Gemeinde
Stellung zu den LZebendfragen des Ghriften-
tums, alfo gu den Problemen, die aud) uns
Beute wieder am Herzen liegen.
Rupps Frömmigkeit ift durchaus männlich
und tatlräftig, denn fie tft Dur und durch
fittlih bejtimmt. Das Grundfaftum, durd
das ihm allererft Religion möylid wird, ift
die Exiſtens des, Geiltes im Menſchen; unter
Geiſt verfteht Rupp aber nit etwa den
Philoſophie, Wiſſenſchaft und Kunſt hervor⸗
bringenden Verſtand, ſondern dad Selbſtbe⸗
ſtimmungsrecht des Menſchen, das fich in der
Stimme des Gewiſſens offenbart, den vor
und über aller Urſächlichkeit wirfenden Willen,
dasfelbe aljo, was Kant Freiheit oder autor
nome Vernunft oder intelligibled Subjelt nennt.
Diefer Geift ift e8, der den Menſchen über
alle anderen Weſen erhebt und zum Teil-
nehmer des göttlihen Lebens macht; denn
Maßgeblihes und Unmaßgebliches
——
Gott iſt diefer Geiſt in feiner Geſamtheit,
das Geſetz der ewigen Ordnung. Glaube an
Gott ift alſo gleichbedeutend mit dem , Glauben
an den Geiſt und deſſen ewige Ideen der
Gerechtigkeit oder der Gleichheit und Freiheit“
(S. 127), und der Grad der Frömmigkeit
eines Menſchen hängt davon ab, wie weit die
durh eine freie Tat bed Beiftes beftimmte
Richtung feined Handelns im Einklang oder
im Widerfprud mit dem ewigen Geſetz der
Gerechtigkeit fteht. Nicht auf die einzelne
Handlung oder den fpeziellen Grundfag kommt
e8 an, fondern auf die vor allem Handeln
Itegende Unterfheidung von Gut und Böfe,
auf das allgemeinfte Werturteil, durch daB
fih der Menih für das Geiftige oder das
Ungeiftige entjcheidet. Hierbei darf fih der
Menſch auf niemanded Beiftand verlaffen,
auh nicht auf Gottes Hilfe, diefe Ur und
Grundentiheidung bleibt durchaus und ftetß
eine Tat feiner Freiheit.
Mit einer prachtvollen Unbejorgtheit gegen-
über allen Bedenken der hiſtoriſch⸗kritiſchen
Theologie erflärt Rupp diefe durchaus Kantiſch
gefärbte „Boiſchaft von dem Reiche der Er⸗
lenntnis und der freiheit” für den eigentlichen
Anhalt der Predigt Jeſu: „Daß die Be
friedigung aller Triebe des perjönlichen Daſeins
dem Leben ded Geiſtes unbedingt unlerzu-
ordnen fei, daß der Gehorfam gegen da8
Geſetz der Gerechtigkeit, die Aufnahme der
göttlichen Volllommenheit in den Willen des
Menihen als die wahre Beitimmung des
Menſchenlebens erkannt werde,“ das war der
neue Bedankte, den Jeſus in dad Bewußtfein
der Völker einführen wollte (S. 96). Es ift
überflüffig zu fragen, wie weit died mit den
biftorifhen Tatſachen übereinftimmt, um fo
mehr, als eine gültige Beantwortung diefer
Frage unmöglid) ift; denn angenommen, wir
mwüßten, welde Sprüde aus dem Neuen
Zeftament wirklihe Ausfprühe Jeſu find —
wa3 wir von feinem einzigen mit Sicherheit
behaupten konnen! — fo könnten wir nad
Rupps Meinung doch niemals mit Sicherheit
feftfiellen, welchen Sinn Jeſus mit feinen
Worten verfnüpft bat. Alſo überlaflen wir
mit Rupp diefe bei dem jegigen Beſtande
der Quellen boffnungslofe Unterfuhung den
gelshrien Theologen, fuhen wir das heraus,
191
was und in dem Fortfchritt unferer fittlich«
religiöjen Erkenntnis fördern kann und vor
unferm Wahrbeitsfinn ſtandhält! Es ift über»
haupt grundfäglic verfehrt — darin ftimmt
Rupp mit dem gejamten Nationalismus mit
Einſchluß Kantd überein —, die Wahrheit
eine® Satzes dur den Hinweis auf ein
hiſtoriſches Yaltum oder eine hiſtoriſche Berfon
zu beweifen; die Gefhichte kann niemals über
wahr oder unwahr entiheiden; vielmehr ift
‚die einzige Inſtanz, die bier gültige Ent-
fheidungen treffen kann, „der Wille Gottes,
das Geſetz in unferer Bruft, die Offenbarung
unſeres Gewiſſens“; dem Richterfpruch diefer
Inſtanz unterliegt alles, aud) Jeſus!
Dies ift Rupps ftolger und männlicher
Glaube, der Haupt⸗ und Grundgedante feiner
Bertündigung, das eigentliche Thema, das in
allen Auffägen in immer neuen Abwandlungen
und Bariationen wiederkehrt. Damit aber
rüdt Rupp durchaus in die Reihe der großen
Idealiſten, dor allem neben Fichte und
Schiller: mag bei Fichte das deal mehr
moraliſch, bei Schiller mehr äfthetiih, bei
Rupp mehr religiöß gefärbt fein, da8 dem
deal zugrunde liegende Welt⸗ und Lebens
gefühl haben die drei Männer gemeinfam.
Mit ihnen teilen auch wir jegt in der Zeit
des Weltkrieges den herzerhebenden Idealis⸗
mus, und ſo iſt Rupp für uns die Stimme
eines Predigers, die nicht ungehört verhallen
darf
Rechtsfragen
Dr. Ludwig Hatſchet, Univerfitätsprofejjor
in Göttingen: Das Barlamentsreht Bes
Deutſchen Reiches, im Auftrage des deutfchen
Neichstages dargeftellt. Eriter Teil. Berlin
und Leipzig. G. J. Göſchenſche Verlags⸗
buchhandlung ©. m. b. H. 1915. 628 ©.
Preis geh. 16 M.
Wie Ihon der Titel ſagt, ift das Wert
im Auftrage de Neichdtaged verfaßt und
den Neichdtagdabgeordneten Yund und Graf
Oppersdorff aud Dankbarkeit für mannigfache
Förderung gewidmet. Lagen au bisher
ſchon kleinere Vorarbeiten wie 3. B. von Perels
bor, fo fehlte e8 doch an einer umfaſſenden
Darftellung des gejamten Reichstagsrechtes,
192 Maßgebliches. und Unmaßgebliches
daB biöher nur in den Werken über Reichs⸗
ſtaatsrecht überhaupt Berüdfihtigung gefunden
Batte. Hatſchek als Berfafler eines „englifchen
Staatsrechtes“ hatte in diefem Wert gerade dem
Parlamente ald dem Mittelpunfte der eng-
liſchen Verfaſſung befondere Aufmerkfamteit
gewidmet. Wenn der beutihe Neichstag es
daher al3 feine Aufgabe betrachtet, eine
wiſſenſchaftliche Darftellung feine eigenen
Rechtes in? Leben zu rufen, fo war ber
Berfafler dazu fehr wohl geeignet.
Daß die Arbeit fehr müheroll war, muß
bon vornherein anerlannt werden. Denn es
handelte fi nit nur um die Beftimmungen
der Reichsverfaſſung, des Wahlgejege® und
der Geſchäftsordnung. Es mußten auch aus
zahllofen Bänden der Reichstagsdruckſachen
feit 1867 die Vorgänge feftgeitellt werden,
um daraus die beftehende Übung zu ent
iwideln.
Der Berfafier bat feine Aufgabe auf
breitefter Grundlage gu erfüllen verfudht.
Denn er bat nit nur die ſchwer zu er
mittelnden Quellen des deutichen Barlament&
rechts feitgeftellt, jondern rechtsvergleichend
auch die meilten ausländifchen Parlamente
berangegogen bis gu Griehenland und
Dänemark herab. Die ruffiide Duma fehlt
allerdingd. An anderen Stellen, wie bei der
Bablprüfung, find nur die. Barlamente her»
angezogen, die beſondere charakteriſtiſche
&igentümlichleiten darbieten. So wird daß
Buch in mander Hinſicht aus einem deutfchen
zu einem Parlamentsrechte überhaupt.
Am ganzen Iann man bon dem bisher
allein vorliegenden erften Teile fagen, daß
Berfafler feine Aufgabe in glänzender Weiſe
erfült bat. Daß man bei einem fo um⸗
faffenden Werte nit mit allen Ausführungen
des Berfaflers einverftanden fein Tann, if
felbftverftändlih. Ich möchte in diefer Be
ziehung nur die an englifche8 Parlamentsrecht
antnüpfenden Erörterungen über Barlamentse
brauch und SKonventionalregel bervorheben.
Ein weiteres Eingehen auf Einzelheiten ver
bietet fi von felbit.
Dem beutihen Reichſtage ifl jedenfalls
in dem Werke für alle fünftig auftauchenden
Streitfragen eine unerjhöpflide Fundgrube
geboten, deren Benugung er fi nicht ent⸗
geben lafien wird. Möge dem eriten Zeile,
der nad) einer Einleitung im wefentlichen die
Organe der Volksvertretung behandelt, bald
der zweite folgen, der ‚und vorausfichtlich
ihre Wirkſamkeit kennen lehren wird.
Prof. Dr. Eonrad Bornhak
Ulen Manuflripten ift Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nädfenbung
nicht verbürgt werben Tann,
Beraxntwertlid:
rag een füntlider Uuffäge nur mit ausbrädiidher Erlaubnis Des
ber Serausgeber Georg Cleinow in Berlin Lichterfelde En. - Banuitriptienbungen
Derlags geſtattet.
Briete werben erbeten unter ber Abrefſe:
Un den Herausgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde Weit, Sternſtraße 56.
Beruiprecher des Heransgeberb: Amt Lichterfelde 498, des Berlags und der Schriftleitung: Ant Lägew GEIO.
Berlag: Berlag der Grenzboten ©. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 35a.
Druck: „Der Reihsbote” ©. u. b. H. in Berlin SW 11, Defiauer Straße 86/87.
unb
1 —
.-
Der Swec in der Dolitif
Don Dr. Paul $eldfeller
ir wären übel beraten, wollten wir ung bei Amateuranthropologen
und Anhängern einer Rafjentheorie als Weltanfhauung Auskunft
4 holen, um mas es fich in diefem Kriege handelt. Hat man e3
N Doch fertig gebracht, aus intereffegeleiteter Liebhaberei, die immer
die wiſſenſchaftliche Unſchuld verunreinigt, den ftarfen germanifchen
Einſchlag Britannien zu leugnen. In ſchärfſtem Gegenfag zu dieſem
Naturalismus und Materialismus ftehen die politifhen Tatſachen. Gegen uns
lämpft verwandtes Blut, und nicht nur das englif he. Und wenn es wahr fein
jol, daß die Stimme des Blutes ein geheiligtes Naturgebot enthält, das fi)
nit übertönen läßt: wie fommt es, daß fie nicht in den Franzofen und
Ruſſen ſpricht, mit deren Blut fi) doch auch, wenn auch ſchwächer, das unfere
miſcht? Anderſeits Tämpfen an unferer Seite Polen, Litauer und Juden.
Sie haben auf das Ehrenprädifat „deutſch-völkiſch“‘“ a priori nicht in geringerem
Grade Anſpruch als die ſich unnachweislich von reinerer Rafle Dünfenden. Dazu
ftommt das ganze bunte Völfergemifch Öſterreichs, vom Galizier bis zum Tiroler
und iftrifhen Italiener. Sie alle eint das Bewußtſein einer gemeinfamen
großen Sache, die weit hinausgeht über eine einfache bloße Yamiltenfimpelei
im großen, welche die einfeitige Betonung der Völferverwandtichaft doch ift und
welde noch niemal3 in der Gefchichte das gegenfeitige Zerfleifchen verhindert hat.
Mit den germanifhen Stämmen, die zu Hermanns Zeiten daS heutige
Deutihland bewohnten, haben wir nicht viel mehr gemeinfam als das
Territorium. Mag für den Zufammenfhluß von Stämmen die VBerwandtichaft
den Ausſchlag geben, größere Volfsverbände pflegen fi nach) ganz anderen
Gefihtspunften zu gruppieren. Die Betonung des Blutbandes fteht anfangs
allerdings obenan. Sie ift der primitive Zwed einer primitiven Politif. Der
Stammesegoismus Tennt fein höheres Bedürfnis als die eigene politifche Sicher-
ftellung. Indem er diefe durch Unterwerfung feindlicher Stämme um fo beffer
zu erreichen glaubt, wird die Eroberung fremden Landes die erjte Konjequenz
Grenzboten II 1915 18
194 Der Swed in der Politik
diefer primitiven Bolitil. Deren Folge wiederum tft die Erweiterung der
GStaatsgrenzen. "
Kein Begriff diefer naiven Politik ift fo gweideutig wie der der „Unter
werfung“. Schauen wir doch auf das antile Rom. Die „unterworfenen“
italieniſchen Bundesgenoſſen erftreiten fi das Bürgerrecht und erlangen ent-
iheidenden Einfluß auf die römiide Staatsmaſchine. Die normannifchen
Eroberer laſſen fih von der „unterworfenen“ Bevölferung Englands auffaugen.
Denn zwar wird der Hafe vom Menſchen erlegt und verfpeift. Aber fein
Fleifh wird nach einem Umſchmelzungsprozeß Teil des fiegreihen Organismus;
Zeile von ihm können auf diefe Weife fogar das Gehirn erneuern und von bier
aus den gefamten Organismus Ienten. Das Individuum glaubt einen Alt ber
Feindſchaft vollzogen zu haben, wo in Wahrheit das folidarifhe Yüreinander
der organifhen Natur ihre höchften Triumphe feiert. So glaubt auch primitive
Politik ihren Zwed, die Macht des eigenen Bluts, der eigenen Raſſe zu ftärfen,
aufs befte zu erfüllen. In Wahrheit forgt die „Lift der Vernunft” dafür, daß
gerade das Gegenteil erzielt wird: die Raſſe vermifcht fih, und das fremde
Blut Tann nach vollzogener Eroberung und „Unterwerfung“ unter Umſtänden
befjer gedeihen und die urjprünglicden Elemente ganz verdrängen. |
Mas der Eroberer alfo legten Endes bezweckt hat, tft ihm nicht gelungen.
Statt deſſen aber erzielt er einen anderen, freilich unbeabfichtigten Sieg. Ehe
die Speife die Funktionen des neuen Organismus mit übernimmt, muß fie ſich
ihm affimilieren. Den gleihen Ummandlungsprozgeß beobachten wir an dem
befiegten und einverleibten Volle. Ehe es vom bloßen Dbjelt der Geſetzgebung
und Verwaltung zum Subjelt wird, muß e8 die oberften Zwede feiner ehemals
felbftändig gerichteten Politik aufgeben und fi den nationalen Gedanken des
neuen Volksorganismus aneignen. Unbeſchadet diefer neuen Richtlinie der
politiiden Zwede aber wird das anneltierte Volt dann die wertvollfte Mitarbeit
zur Weiterentwiclung des nationalen Lebens leiften können, wenn die Eigenart
feiner geiftigen Kultur nicht bloß mehr Dbjelt der Staatsfunft und eventuell
der Unterbrüdung bleibt, fondern wenn ihm die Lebenskraft gelaffen wird, als
mitbeftimmender Faltor den nationalen Gedanken bereichern zu helfen. Man
fieht, wie wenig die Vermandtichaftstheorie für die Staatenbildung bedeutet und
wie unberectigt Die Schlagworte „Slawismus“, „Romanismus“, „Germanismus“
dann find, wenn mit ihnen Gegenfäte der Abjtammung, ftatt der Kultur,
gemeint werden.
Um dieſen Vorgang der politiihen Motivverſchiebung richtig zu begreifen,
müſſen wir ihn aus den pſychologiſchen Grundtatfahen zu erflären ſuchen. In
der phyſikaliſchen Welt gilt das Geſetz der Konftanz und Erhaltung der Energie
(beziehungsweife das Aquivalenzprinzip). Auf das pſychiſche Geſchehen aber
kann dies Gefe nicht angewandt werden. Gerade im Gegenteil befteht bier
das „Prinzip des Wachstums geiftiger Energie”, wie Wundt es genannt hat.
Ein ausgeprägtes Beifpiel für die Geltung dieſes Prinzips haben wir im der
Der Zwed in der Politif | 195
fogenannten Heterogonie der Zwecke, welde das geſamte geiftesgefchichtliche
Werden durchzieht. Wer kennt nicht die vielen Fälle aus feinem eigenen Leben,
wo ber urjpränglid allein begehrte Zwed, der Grundmwille, gar bald unvor«
bergejehene, ja für den Fall, daß fie vorbergefehen wären, unerwünfchte
Wirkungen und Nebeneffelte zur Folge bat, die dann jpäter vom Willen bewußt
aufgenommen und zum Hauptzwed gemacht werden Tönnen? Der Schulbub,
der nur, um der Strafe zu entrinnen, in die Schule geht, weiß nicht, daß die
Borfehung der Eltern und Lehrer in ihm die Grundlage für ganz andere
Zwede legt, die fpäter in ihm auftauchen werden. Bald geht er zur Schule
mit dem ausgeſprochenen Zwed, fich dereinſt felbftändig ernähren zu können.
Und gerade die Beiten der mit diefer Abfiht die Univerfität auffuchenden
Studierenden geben auch diefen Zweck als oberſten Geſichtspunkt auf und ftellen
die felbftlofe Arbeit im Dienſt der Wiſſenſchaft obenan. Meiitens freilich fpielt
die Natur jene Art „Vorfehung”. Das junge Mädchen im Badfiichalter, deffen
feimende Liebesneigung keinen anderen Zwed als das perjönlide Glück fennt,
ahnt noch nichts von der Fülle von Zwedfegungen, die fih in Mutterforgen
und Familienpflichten dermaleinft aus jenem fimplen Grundwillen ergeben
werden und von weldhen aus — nicht umgelehrt! — erft diefer Grundwille,
die Vergangenheit, teleologiich zu deuten ift.
Was bier im Meinen gilt, fpielt fih in dem jahrtaufendelangen Werden
des Volles und des BVollögeijtes riefengroß ab. Wenn wir uns zu einer
idealiftifchen Weltanſchauung bekennen, fo werden wir das „Wefen“, das Wert⸗
volle eines Volkes nicht in feiner phyſiologiſchen Zufammenfegung, fondern in
feinem Geift ſuchen müſſen. Der Geift eines Volles aber offenbart fich in der
Fülle und Qualität feiner Kulturzwede. Haben wir nun erlannt, daß Die
feelifche Energie. ganz unverhältnismäßig wächſt, daß der Reichtum der Kultur-
zwede geſchichtlich aus dürftigen, jeder Geiftigleit baren Urmotiven, ja zulebt
und urſprünglich aus einem pſychiſchen Nichts hervorgegangen ift, dann wifjen
wir, daß der Volksgeiſt an dem relativen Ende der Entwidlung, nit an
ihrem Anfung, zu ſuchen ift. „Das Deutſchtum in phyfiologiicher Konftanz der
Raſſe zu ſuchen, ift grober materialiftiiher Naturdienft und Verachtung des
Geiſtes“ (Adolf Lafjon, Deutſche Art und deutſche Bildung Seite 19). Und
in der Tat bat die heutige deutſche Politik mit derjenigen zu Hermanns oder
Chlodwigs Zeiten jo menig gemeinfam mie die Zwede in der Lebensführung
des Mannes mit der feiner Kindheit. Ja es wäre eine jchlechte Anerkennung,
bier feine Disfrepanz, feine ſcharfen Gegenſätze zu erblidenl Die nadten
Raſſeninſtinlte, wenigftens innerhalb der europäifhen Menjchheit, find nur auf
primitiver Kulturftufe und im Naturzuitande wirkfam. Wenn wir heute vom
„deutihen Volk” ſprechen, jo meinen wir etwas anderes als die Summe der
blauäugigen, blondhaarigen ujm. Menſchen. Wir gebrauchen dann vielmehr
einen Begriff, von deſſen Gerüjt einiges jtehen geblieben it, der aber im Laufe
der Zeit feinen Inhalt gänzlich geändert bat.
18*
196 Der Swed in der Politik
„Deutſch“ ift eine beftimmte Geiftesrichtung, eine Gefinnung, ſo gut
„helleniſch“, „byzantinifch“, „chriftlich“, eine befiimmte Denkungsart, ein Kultur-
ideal bezeichnen, ohne daß wir hierbei an ein ganz beftimmtes Bolf im natur-
wiſſenſchaftlichen Sinne denken, in deſſen Mitte einmal die betreffende Kultur
ihren erften bejcheidenen Anfang nahm. Was uns in dem Begriffe vom
idealen deutſchen Vollsgeifte, vom Ewig ⸗Deutſchen, vorſchwebt, läßt fich höchſtens
an dem Sdealbilde des Emwig-Hellenifhen meſſen. Diefer Vollsgeiſt iſt im
Entftehen, und wehe uns, wenn wir ihn zurädichrauben wollen auf die Tierheit
brutaler Raſſeneiferſucht! Er fest fih Kulturzwede, von denen unfere böblen-
bemohnenden leiblihen Vorfahren ſich nichts träumen ließen. Er ſucht feine
wahren Vorfahren, außer bei den Großen der eigenen geſchichtlichen Ver⸗
gangendeit, vor allem in Hellas, dem ewig jungen Lande der Griechen, und
erlangt fo durch eine ununterbrochene Sette geichichtlicher Kontinuität eine
Bürgſchaft für die Stetigkeit und Legitimität unabläffig fortfchreitender Kultur.
In irgendeinem Snotenpunfte der Entwidlung beeinflußt dies Kultur⸗
bemußtfein die Zwede der Politik. Das großartigfte Beiipiel aus dem Altertum
ift die Eroberungspolitit Aleranders des Großen, die dem weltgeſchichtlichen
griechiſchen Geifte auch eine weltpolitiihe Bedeutung geben wollte. Hehre
Zwede eines idealen Kulturbemußtfeins juchte die Weltpolitif des ftaufifchen
Kaiſerreiches zu verwirkliden. Wir lieben heute diefen tdealen deutfchen Geift,
ohne uns ſtklaviſch an feine Dffenbarungen von damals Halten zu wollen.
Und wieder ift für unfer Voll eine Zeit gelommen, noch überfließender an
überſchüſſiger geiitiger Kraft, Großes veriprechend, mit ſtärkerer Einficht, wacherem
Bewußtſein höchſte Kulturzwede in fein politifches Denken aufnehmend. Denn
uns genügt heute feine Politik mehr, die nicht an großen Kulturzweden orientiert
ft. Die fi fortwährend ändernden Bedingungen der politiihen SKtonftellation,
vereint mit wachlender DBertiefung der Weltanfhauung, des fittlihen Ver⸗
antwortungsgefühls, des künſtleriſchen Genießens ſchufen fortgejegt neue Zweck⸗
ſetzungen des Volksgeiſtes, die umd deren Erreihung jamt den eigens dazu
beſchafften Mitteln nun wieder die Bedingungen für neue, höhere Zweckſetzungen
abgaben. Allmaͤhlich fehen wir diefe anfänglich ſcheinbar weltabgewandten,
rein geiftigen Zmwede auch mit dem politiihen Denken verwachſen. In Kants
praktiſcher Philojophie fängt das an. Ganz deutlich ift es bei Fichte zu fehen.
Hegel läßt das fittlihe Leben im ftantlihen aufgehen. Gerade die Befreiungs-
friege braten die Bedingungen für höhere geiftespolitifhe Bedürfniſſe und
Zwedfegungen, deren Erfüllung in den Berfafjungsfämpfen und der Gründung
des neuen Reiches abermals neue, unvorhergefehene Zwecke im Bemußtfein der
Nation erwachſen ließ. Stehen wir jett wiederum in einem folchen hochbedeut⸗
famen Knotenpunkt der politiihen Entwidlung, jo dürfen wir in der Stärkung
der fittlihen Kraft und der ganz neuartigen Böllergruppierung, die für ben
neuen deutſchen Geiſt Karakteriftiich ijt, die Bedingungen für Kulturzmede
jehen, die, dem demofratiihden Zug der Verfaffungen und der Zeit entiprechend,
Der Swed in der Politik 197
von jelbft auch zu politiiden Zmeden werden. Der Geift des beutichen, wie
jedes großen Volles läßt ſich nicht definieren, zumal er ftändig abmwirft und
fi) erneuert. Mit ein paar Begriffen tft da wenig getan. Aber etwas Neues
ift er, unvergleichbar mit Geweſenem, wie alles, was ber Geiſt ſchafft. Der
deutfche Geiſt hat bewußt die beengenden Fefjeln dhimärenhafter anthropologifcher
Erflufivität gefprengt. Das tft vielleicht der wichtigfte Gewinn biefes Krieges
und eröffnet weiteite Perfpeltiven. Denn wenn ein nationaler Gedanke der
Gegenwart für eine geiftige Weltkultur in Frage kommt, die ſich bermaleinft
ebenbürtig der belleniichen würde an die Seite ftellen können und dabei zugleich
auch eine reale politiſche Weltmacht darftellt (was fi von vornherein gegen-
feitig gar nicht ausfchließt), fo ift dies der deutfche Geift.
Durch diefe Erflärung der Motivverfgiebung verliert die fälfchlih als
„Dorjehung“ bezeichnete Erſcheinung ihr Geheimnisvolles. Da die Zwede immer
reiher und erhabener werden, der geiftige Fortſchritt ftetig zunimmt und bie
eben erft erreichten Zwede zu Mitteln wieder höherer Zwecke macht, fo ſcheinen
für das unkritiſche Auge die lebten und höchften Zwecke bei der eriten Ziel.
fegung des primitinen Grundwillen® von einer höheren Macht und Weisheit
bereit3 vorweggenommen und ihr zugrunde gelegt zu fein. Solche Auffafjung
will bereits Jahrhunderte vorher das Gras wachſen hören, iſt aber auch ethifch
bedenklich, da fie die fittlicde Aktivität diskreditiert. Denn geichichtlich Iekte und
höchſte Zmede gibt es für die Politik nicht, weil jede Zweckſetzung ſchon eine
höhere im Keime birgt. Wir follen wifjen, daß allein die perfönliche Aktivität fi
im gegebenen Augenblide auch ihrer Zwede bemußt werben und fie erfüllen fann.
Erft wenn mir die Cierſchalen ſolch fataliftifhen Glaubens an ein vor-
gezeichnetes Verhängnis, wie er auch dem Naturalismus zugrunde liegt, ab»
geitreift haben, wenn der anthropologiſtiſche Aberglaube geſchwunden fein wird,
fann der Geift als bemußtes Prinzip die Völkerſchickſale geftalten. Die alten
natürlih und gefdhichtli gewordenen Formen wirken dann nur wie leider,
die ihre Inhaber wechfeln. Das ift ja das Merkwürdige, daß alle diefe vom
Egoismus der Perſonen oder Völker gefchaffenen Formen ſchließlich vom Geifte
als neuem inhalt erfüllt und damit fozial nutzbar gemacht werden. So bietet
die ganz eigennüßig entitandene Hausmacht der Habsburger heute das rettende
geiftige Band für Völker, die nicht von dem Moloch des Ditens verfchlungen
werden wollen. Der Staat überhaupt, der mit "feinen Gefegen und Ein-
richtungen zuerft die Intereſſen bevorredhteter Individuen und Klafien ver-
förpert, wird zum Bollsftant. Aus dem Machtſtaat wird ein Rechtsſtaat, aus
dem Bolizeiftaat ein Kulturftaat. Schließlih nehmen wir bewußt unfer eigenes
Schickſal in die Hand. Nicht Intereſſen der Abftammung noch des Handels,
fondern allein der Beſitz einer unerfjehlichen Ydealkultur gibt erft das moraliſche
Recht zu politifcher Weltftellung.
Der Imperialismus in englifcher Auffafiung
Don Dr. Elfe Hildebrandt
end 8 Tann fein Zweifel beitehen, daß die Mebrbeit des deutſchen
Dr Volles von der Teilnahme Englands am Kriege völlig über-
Di R, raſcht worden ift. In diefer Verwunderung liegt gleichzeitig das
—82 Eingeſtändnis eines Fehlers. Wir wußten nicht ausreichend
a Beſcheid über die Denkart unſeres Feindes und überſchauten
nicht in genügender Klarheit die Tendenzen ſeiner Geſchichte. Wir beſchäftigten
uns nicht eingehend mit den Publikationen der letzten Jahrzehnte, die in
England große Verbreitung gefunden haben, und aus denen wir deutlich die
Ziele engliſcher Politik und ihre Stellung zu Deutſchland hätten entnehmen
können. Das Verſäumte nachzuholen iſt ſelbſtverſtändlich für uns von großer
Bebeutung.*)
Als der charakteriftiichite Zug englifher Geſchichte und Verfaſſung galt
im allgemeinen die Entwidlung Englands zur „Demokratie und Freiheit“.
Bon englifchen Autoren werden wir eines beſſeren belehrt: der Grundgedant
in der Gefchichte Englands ift die Tendenz zum Imperium, zu „Öroß-Britannien“
und zu „Größer-Britannien”, Demokratie und Freiheit find eigentlich nur Mittel
zum böherjtehenden Ziele. Ä
Diefe Gedanken entwidelte zuerft der Profeffor der neueren Geſchichte an
der Univerfität Cambridge, J. R. Seeley. Ungeheures Aufſehen madten des
Autors Vorlefungen über „Englands Erpanfion”. Welche Bedeutung man den
geäußerten Anfichten in Großbritannien zumies, zeigen die unzähligen Auflagen,
die die 1883 in Buchform erfchienenen Vorlefungen erlebten**).
*) Im zweiten Bande feines in ſchwediſcher Sprache erfchienenen Buches „Krieg und
Kultur“ ftelt Guſtav F. Steffen für da8 imperialiftiiiche Problem ein reiche® Quellenmaterial
zufammen. Der erite Band iſt bereit? in deutſcher Überfegung bei Eugen Diederichs in
Sena erichienen. Vergleiche die Grenzboten Nr. 17 d. J.
**) Vergleiche die etwas verfürgte Ausgabe des Werfes bei Velhagen und Klaſing „English
Authors‘ 86. Lieferung. Bielefeld und Leipzig. 1903. Geeley bat aud) in einem anderen
Werk, „The Growth of British Policy“, (Cambridge 1895) die Geſchichte und Zukunft des
britifhen Kolonialreichs, don denfelben Geſichtspunkten aus, beleuchtet. Sein Anterefje für
deutſche Literatur und Gejichichte bezeugt er in feinen Werfen „Life and Times of Stein,
or Germany and Prussia in the Napoleon Age, Leipzig 1879“ und „Goethe reviewed
after sixty Years (1893)‘,
Der Imperialismus in englifher Auffaffung 199
Der Grundgedanke der Seeleyfhen Geſchichtsauffaſſung iſt für das gefamte
englifde Denken kennzeichnend: er mill feiner Gefchichtsichreibung eine praktiſche
Richtung geben, fie fol eine Vorbereitung fein zum politifchen Handeln. Schon
in feiner AntrittSvorlefung in Cambridge ſprach er über die MWechfelbeziehungen
zwiſchen Geſchichte und Politik. Die Gefchichte nannte er die Politik der Ver-
gangenbeit und die Politit die Gefchichte der Gegenwart. Die Gefhichte muß
eine Schule der Staatskunft werden; ohne praftifches Ziel tft fie immer nur
ein Spiel, das höchſtens kurzweilige Bücher hervorbringen Tann.
Vielleicht erflärt gerade diefe Tendenz bes Werkes feine ftarke Verbreitung
auh in größeren Volkskreiſen. Denn im allgemeinen ift ja der Engländer
ftolz auf feine mangelnde theoretifhe Begabung, weil er glaubt, daß diefe mit
jein enpraltifchen Talenten unvereinbar ift. „In der Regel können wir” — fo
führt der Engländer Sydney Low gelegentlid) aus — „feinen Bolitifer ver-
tragen, der Theoretiker ift, feine Anſchauungen wirklich durchdenft und fie
ſyftematiſch ordnet. Er erfcheint uns zu alademifh und intelleftuell. Wir
reden wohl mit Achtung von ihm, aber er hat feine Bedeutung in ber poli⸗
tiſchen und realen Wirklichkeit. Man hält nur den profeffionellen Parteipolitifer
für fompetent.”
Die fünf Perioden, in die Seeley die neuere Geſchichte Englands fett
1500 einteilt, bejtätigen feine Grundanfhauung über die Entwidlung Groß-
britanniens zum Imperialismus. Dus erfte englifche Imperium fchließt mit
dem Abfall der nordamerifanifhen Kolonie, aber das zweite fchließt ſich nad
Seeley an das erite an. Er ftudiert die Organifation, die Urfachen und die
Wurzeln des englifhen Imperialismus, um daraus Schlüffe zu ziehen und
feine Erhaltung für die Zukunft zu ermögliden. Er gehört zu den Politikern,
die einfehen, daß es viel leichter ift, ein Weltreich aufzubauen als es zufammen-
zubalten. Aus diejer Erkenntnis ftammt die Forderung der allgemeinen Wehr-
pflicht, für die [don vor dem Weltkrieg außer dem alten Feldmarfhall Lord
Mobert3 der Schüler GSeeleys, der Hiftorifer Cramb, mit großer Energie
eintrat.
Der engliſche Staat beruht von Anfang an — wie Seeley darlegt — nicht
auf friedlicher Arbeit, fondern auf Eroberungen: der angelſächſiſchen, nor-
manifhen und iriihen. Milde gegen die Cingeborenen Tannte er niemals.
Schlimmer als andere Nationen befledte fi) die englifche mit den Graufamleiten
des Sflavenhandels. Aber Seeley wie feine Schüler machen wegen diefer Tat-
fadhen ihrem Baterlande feinen Vorwurf, denn immer wieder betonen fie, daß
ein fo gewaltiger Organismus wie ein Weltreih feinen eigenen Entmwidlung3-
gejeten folgt. Nach Cramb ift der Entwicklungsgang der Imperien den Wünſchen
und Abfichten einzelner unzugänglid, für fie ift daS Wort Napoleons charal-
teriftifih: La politique est la fatalite. Auf Ddiefelbe Weife wird von Conan
Doyle die Politif Englands im Jahre 1807, das Bombardement Kopenhagens
und die Wegnahme der dänifchen Flotte entjchuldigt. Mit andern Worten: der
900 Der Jmperialismus in englifder Auffaffung
Bruch der Neutralität eines Tleinen Staate8 war geredhtfertigt, weil vitale
Sntereffen auf dem Spiele ftanden. Das engliſche Imperium iſt beftimmt
— fo drüdt fi ein anderer Schüler Seeleys, Charles Wentworth Dilfe*), von
dem übrigens der fo populäre Ausdrud „Greater Britain“ ftammt, aus —
das „Oberimperium“ der Welt zu werden, denn der engliſche Imperialismus
ift feinem Wefen nad) „Überimperialismus“, und auch der englifche Nationalismus
ift ein befonderer Nationalismus — ein „Übernationalismus“. Nah Dilte
liegt die zukünftige Geſchichte allein in der Macht des englifhen Bollsftanmes,
nur noch die Vereinigten Staaten und Rußland läßt er neben England gelten.
Cr unterfucht die Bedingungen, unter denen die beiden angelſächſiſchen Reiche das
Übergewicht gegen Rukland bewahren können. China wird nad) feiner Anficht
jpäter unter den Einfluß Indiens und ber britifhen Kronlolonien kommen.
Tür Deutfchland findet ſich fein maßgebender Platz in der zulfünftigen Welt-
geſchichte.
Die Entwicklung zum Weltreich bleibt aber den genannten Hiſtorikern
zufolge keineswegs ohne Einfluß auf das innerſtaatliche Leben. Es muß, um
die Erhaltung des Weltreich zu gemwährleijten, feine Bürger zu tieferem
fozialen Bemußtfein erziehen. Es braucht imperialiftiih und demokratiſch
denfende und fühlende Staatöglieder. Die Weltmacht beiteht nicht allein in
äußerfter Ausdehnung des alten Nationalſtaates, fondern in der Ausbreitung
britifchen Geifte8 über die übrige Welt. Alle Menſchen, die dem englifchen
Imperium unterworfen find, follen in den Stand gefegt werden, die Menfchheit,
ihre Bergangenheit und ihre Zukunft von engliſchem Geſichtspunkt aus zu feben.
Die unterworfenen Bölfer follen religiöfe Toleranz und Liebe zur foztalen
Hreibeit von dem Mutterlande Iernen. Für Korb Milner, einen ber bervor-
ragendften Imperialiſten, hat der Imperialismus die Tiefe und Bedeutung eines
religtöfen Glaubens und in höherem Maße eine moraliſche als eine materielle
Bedeutung. Seiner Auffaffung nad) liegt das Prinzip des wahren Ymperialismus
in der Bewahrung ber Einigleit und bes Zuſammenhaltens innerhalb eines
großen Volles, fo daß dieſe politifde Einheit imftande ift, ſich weiter frei zu
entwideln, indem fie den Gefeten ihres eigenen Wefens folgt.
Diefer englifche mperialismus war nicht immer ein bewußter. Seeleys
Buch bezeichnet von diefem Geſichtspunkt aus betrachtet den Beginn einer neuen
Epode. Daß gerade in den achtziger Yahren der Übergang vom unbewußten
zum bewußten imperialiftifden Streben notwendig wurde, lag in dem Aufblühen
Deutichlands, des Konkurrenten Englands. Daneben machten fih im Innern
des englifchen Weltſtaates Zuftände bemerkbar, die eine theoretijche ——
imperialiſtiſcher Probleme gebieteriſch forderten.
*) Vergleiche Problems of Greater Britain, London 1890. Auf ähnlichem Stand⸗
punkt fteht James Anthony Yroude in feinem Werke „Oceana or England and her Colonies“
(2ondon 1886).
Der Imperialismus in englifher Auffaffung 201
Daß Deutſchland der Feind Englands ift, ift auch die Anſicht bes
Hiſtorilers Cramb, der das Land nicht, wie die meilten Engländer, nur
vom Hörenfagen kennt. Cr war Hörer Treitichles. Seine Urteile über
Deutihland find deshalb nicht die „beſchränkter englifcher Inſularität“.
Die Fahre des Studiums in Deutſchland haben ihm ein merkwürdige Ver⸗
ftändnis für den deutſchen Geift eingepflanzt. In feinen Borlefungen, die
1913 unter dem Titel „Germany and England“ in Buchform erfchienen und
ſechs Auflagen erlebten, nennt er Deutihland einen würdigen Gegner Englands-
Deutſchland ift der heroifchite Feind, den England in feiner taufendjährigen
Geſchichte gehabt hat. Das Deutfhland des zwanzigften Jahrhunderts iſt
„größer in feiner Weltanfchauung, in feinen Gedanken, in allem, was menfchliche
Werte ausmachen, als das Spanien Karl des Fünften und Philipp des Zweiten,
als das Holland de Witts und das Frankreich Ludwig des Vierzehnten“. Es
ſcheint, als ob Cramb in feiner Auffaffjung der engliihen Geſchichte von
Treitichle beeinflußt fei, als ob auch er glaube, daß die Glanzzeit Englands
abgeſchloſſen fei mit dem fiebzehnten Jahrhundert, mit dem Zeitalter Cromwells
und Miltons. Ex fehildert die Überzeugung Treitfchles, daß Englands Welt⸗
berrichaft in feinem Verhältnis fteht zu feiner wirklichen inneren Kraft, zu
feinem politifchen, fozialen, individuellen und moralifhen Werte. Er wagt e8,
feinen Landsleuten zu erzählen, daß Treitichle und Napoleon England wegen
feiner eingebildeten, anfpruchsvollen, kleinbürgerlichen Selbftgenügfamleit gehaßt
haben, einer Selbitgenügfamleit, die durchaus nicht Vaterlandsgefühl genannt
werden und die nicht verglichen werden kann mit dem deutſchen Patriotismus
von 1813 und 1870. Aber die Hauptfache bleibt doch: Deutſchland ift Englands
Seind, fein fchlimmfter Feind, und zwar nit nur in quantitativem Sinne
durch die Millionen feiner Soldaten, fondern auch durch feine „feeliiche Größe”.
Nah dem Verlauf der englifhen Geſchichte wäre alfo die Belämpfung
Deutſchlands im gegenwärtigen Augenblid — auch ohne theoretifhe Begründung
— eine innere Notwendigleit. Seit dem fechzehnten Jahrhundert bat England
jeden Staat, der als fein ernithafter Konkurrent auftrat, befämpft. So ver-
nichtete e8 die Armada Spaniens, fo lämpfte es die aufitrebenden Niederlande
nieder. Aus demfelben Motiv mifchte es fich unter der Leitung Marlborougbs
in die Kämpfe Ludwig des DVierzehnten. Seit Jahrhunderten dehnten Die
Engländer ihre Macht mit fchranfenlofer Rüdfichtslofigleit aus. Aber wir hörten
fon, mie imperialiſtiſche englifde Hiftorifer diefen Hauptzug des britischen
Smperialismus begründen: eine höhere Ordnung bat England zum Imperium
gemacht. Deshalb find alle Verlegungen des Völkerrecht gerechtfertigt und
undiskutierbar. Sie find erlaubt — aber nicht zu vergeflen — nur für einen
Staat: Großbritannien. Wehe einer anderen Nation, die ebenfo handeln will
wie England; ihr ift von dem Schickſal nicht diefelbe gewaltige Aufgabe zuteil
geworden. Was für Britannien ein Gebot innerer Notwendigkeit fein Tann, ift
für jeden anderen Staat unmoralifh und verwerflid.
202 Der Imperialismus in englifher Auffaffung
Die Alleinberechtigung des englifchen Imperialismus wird befonders dadurch
begründet, daß man die Nichtberechtigung der imperialiftifhen Beitrebungen
eines anderen Staates nachweiſt. Es bleibt alfo den engliſchen Imperialiſten
die Aufgabe zu zeigen, daß die Ausdehnung des Staates, der im Begriff ift, dem
englifchen Imperialismus SKolurrenz zu machen — des Deutihen Reiches —,
unberechtigt ift: dieſes Deutſchland ift im Gegenſatz zu England ein Kunftproduft,
das 1870 mit Blut und Eifen zufammengezwängt wurde. Das neue Deutſche
Reich ift etwas weltgefchichtlich Überflüffiges, das am beften wieder aus ber
Melt gefhafft wird. Man weit nad, daß, während England mit der Auf
richtung feiner Weltmacht überall Demokratie und Freiheit verbreitet bat,
Deutfchland mit feiner Waffenmacht diefe Kulturerrungenfchaften in der ganzen
Melt zerftört und die nationale Gelbitändigfeit der Nationen bridt. Im
Zufammenhange hiermit ftehen die ‘Prinzipien der Deutſchen: „Macht geht vor
Recht“ und „Der Stärlere fol herren“. Der deutſche Militarigmus wird
als Weltgefahr Hingeftellt, er ift fchlimmer als der Abfolutismus Rußlands,
und wie das ruffiiche Volk von diefem, jo muß das deutfche von jenem befreit
werden. Man zeigt ferner, wie Lloyd George in einer Rede im September norigen
Jahres, daß die Zivilifation der Deutfchen felbftfüchtig und nur auf Materielles
gerichtet ift. Deshalb können fie auch nicht Englands Stellung in dem Welt-
frieg verftehen. Daß man fih wie Franfreih aus Gelüften der Revande um
die Erlangung eines Landgebiets jchlägt, können die Deutfchen begreifen. Aber
der Gedanfengang Großbritanniens, feine NReichtümer, feine Macht, daS Leben
feiner Kinder, feine gejamte Exiſtenz zu opfern, um eine Heine Nation zu -
befhügen, ift einem Volke wie dem deutſchen vollftändig unerllärlid. „Die
deutſche Nation will die Menfchen bilden nah dem Mufter eines Diefelmotoren,
zuverläffig, folid und Stark, aber ohne Spielraum für die Regungen der Seele.“
„Aber Deutichland,” fo fährt Lloyd George fort, „will nod) mehr, e8 will das
Chriftentum zerftören, das ihm nur mehr weichliche Sentimentalität be-
deutet.“ |
Daß in Deutichland tatfählih vor dem Kriege aggreffive imperialiftifche
Beitrebungen beitanden, darüber find fi) wohl alle engliihen Publiziiten und
Hiltorifer einig. Um ihre Ziele zu verwirklichen, braudte man bei uns den
Krieg. „Ale Machtmittel des deutſchen Volles, die maritimen, die militärifchen,
die finanziellen, politifchen, journaliftiihen und pädagogiihen hat man in
Deutichland in den Dienſt der Kriegsvorbereitung geitellt,“ fo argumentiert Lord
Noberts, und deshalb ift auch der Krieg England durch die pangermaniftifchen
Ratgeber des deutjchen Kaiſers aufgezwungen worden.
Um das deutfche Auspehnungsbedürfnis und damit die moraliide Not-
wendigfeit für England, Deutſchland zu befämpfen, darzutun, verglid man vor
den Kriege immer wieder dad Wachstum der engliihen und deutfchen Flotte.
Man bemüht fi, zu zeigen, daß der Bau der englifhen Dreadnoughts nicht
raſch genug vor fi ging, um den Vorſprung gegenüber Deutichland zu wahren.
>
Der Imperialismus in englifher Auffaffung 203
Als Begründung diefes Übergewicht diente immer wieder die Notwendigkeit
einer unüberwindlichen englifchen Übermacht auf allen Weltmeeren zur Behauptung
de3 Imperiums. Für die Briten ift alfo eine ftarfe Flotte ein inneres Bedürfnis.
Welche Beweggründe zwangen dagegen Deutichland, feine Kriegsihiffe in jo auf
fallender Weife zu vermehren? Für diefes Vorgehen liegt feine ökonomiſche Not-
wendigfeit vor, Die deutſche Flotte ift wie das ganze Reich ein Kunftprodult, ein Aus⸗
fiuß des „reinen Militarismus“. Jenen engliſchen Flottenimperialiften fiel es nie»
mals ein, daß eine gewiſſe Herrſchaft über die Weltmeere ein integrierender Beftand-
teil in jedem modernen Imperium fein muß, befonder8 aber in dem deutfchen,
da8 wegen feiner geographiſch⸗ökonomiſchen Verhältniſſe feine Eriftenz auf einem
wachſenden transozeanifchen Handel aufbauen muß.
Neben diefen militärifhen Entwidlungen werden in allen englifchen Zeit-
Kriften der lebten Jahrzehnte immer wieder die Gedanken eines Treitichke,
Niepihe und Bernhardi dazu benugt, um die imperialiftifchen Beftrebungen
Deutfchlands nachzuweiſen. Die Anfichten diefer Männer werden zitiert, ihre
zufammenbhängenden Schriften zu leſen, ift man aber in England nicht imftande.
Wie fieht nun der deutſche Imperialismus in den Augen eines neutralen
Schmeden aus?
Steffen ftellt im zweiten Bande feines Werkes „Krieg und Kultur“ den
deutſchen Imperialismus, wie er ihn jieht, dem englifchen gegenüber, indem er ſich
mit den genannten englifhen Hiſtorikern auseinanderfegt. Er nennt die deutfchen
Beftrebungen im Gegenſatzzu den englifchen und franzöfifchen defenfiv. Gerade das
vielgeſchmähte Buch von Bernhardi beweiſt ihm, daß das beutfche Volf und feine
leitenden Männer vor dem Kriege nicht die gewaltigen inıperialütijchen Beitrebungen
batten, wie man im Auslande fo gerne glauben machen wollte. Denn Bern-
bardis Buch ift ja gerade zur Hälfte mit Wehklagen angefült über die allzu
friedlide Stimmung des deutichen Bolfes. Immer wieder betont der Verfaffer den
Unterfhied zwifchen feiner Denkungsart und der des Volles. Bernhardi felbit
it einer friedlihen Löfung der vorhandenen Probleme durhaus nicht abgeneigt.
Er zweifelt nur daran, daß Deutſchland vor allem von England Raum gewährt
werden wird für fein öfonomifches, nationales und politifches Wachſen.
Imperialiftifche Beftrebungen können Deutfchland allein auf geiftigem Gebiete
nachgewieſen werden: für die deutiche Arbeit wollte man die Welt gewinnen.
Der Imperialiſt Rohrbach, den Steffen zitiert, wollte nicht Weltherrichaft und
Weltmacht für das deutſche Volk erringen, fondern nur freie Bahn fhaffen für
die Betätigung des deutſchen Geiſtes. Erhebend ift es — fo fährt Gieffen
fort — wie Rohrbach mit wahrbafter Größe den Engländern Recht wider
fahren läßt, wenn er fagt, daß es für das britifche Volk hart ift, neben fich
ein anderes Voll zur Geltung kommen zu fehen.
Den beutichen Imperialismus militariſtiſch nennen heißt allen Tatſachen
widerfpreden. Das bemweifen ſchon die Ausgaben für Heer und Marine. Nach
einer von Steffen angeführten vergleichenden ſchwediſchen Statiftik, die leider Rup-
—
204 Der Imperialismus in engliſcher Auffaſſung
land nicht aufführt, ſteht Großbritannien und Irland pro Kopf der Bevöllerung an
rſter Stelle, mit 27,50 Kronen, den zweiten Platz mit 25,15 Kronen nimmt Frank⸗
reich ein dann folgt erft das Deutiche Reich mit 19,22 Kronen. Im Verhältnis zum
Geſamtetat fteht Deutfchland mit feinen militärifchen Ausgaben im Vergleich zu
anderen Staaten erit an vierter Stelle. Sie betragen in Großbritannien
58 Prozent, in Frankreich 55,2 Prozent, in Schweden 49,9 Prozent, in Sachſen
48,7 Prozent, in Preußen 48,6 Prozent, in Bayern und Württemberg 44 Prozent.
Der deutfche Imperialismus ift auch aus diefem Grunde nicht wie der franzöftiche,
englifde und ruſſiſche feit 1870 auf Eroberungen gerichtet, nicht militärifch.
Denn man überhaupt von einer Agreifivität des deutſchen Imperialismus
ſprechen Tann, fo liegt diefer allein auf ökonomiſchem Gebiete.
Treten jetzt während des Krieges auch in Deutichland in breiteren Volks⸗
ſchichten ftärlere imperialiftiide Neigungen hervor, fagt Steffen, fo darf dieſe
Erſcheinung nicht als eine Urſache des Weltkrieges, jondern als feine Folge
angejehen werden. Hierin bat ber Verfaſſer mit feinem Berftändnis das rechte
getroffen: erit durch den Weltkrieg find wir uns unferer inneren Sraft als
Boll, als Staat bewußt geworden. Bor allem haben wir aufgehört, das
engliide Oberimperium“ als felbftverftändlih binzunehmen. In den erften
Jahrzehnten des neuen Reiches waren wir noch zu viel in Anſpruch genommen
durch unfere innere Sonfolidierung, wir haben die äußere Politik, deren Hand»
habung wir nicht veritanden, vernadjläffigt. Der Weltkrieg aber bat uns zu
neuem Leben erwedt: wir haben wieder wie vor 1870 politifche Ziele, die uns
über das innerftaatlide Leben binausführen.
Weltkrieg und Dolkszahl
twa 950 Millionen, alſo weit mehr als die Hälfte der gefämten
Menſchheit innerhalb und außerhalb Europas ift an dem unge.
beuren Ringen des jehigen Krieges beteiligt, wenn auch in fehr
verfchiedenem Maße. Er ift in der Tat der Weltkrieg und ohne
— gleichen in der Weltgefchichte. Innerhalb unjeres Erbteils befinden
fh in runden Zahlen 370 Millionen im Striegszuftande; denn unfere Feinde
zählen etwa 248 Millionen (Frankreich 39,6, Belgien 7,5, Großbritannien 46,1,
Außland 150, Serbien 4,5, Montenegro 0,4), denen Deutfchland mit feinen
Verbündeten nur etwa 123 Millionen entgegenftellen Tann CDeutſchland jebt
68, Dfterreih-Ungarn 52, Europäifche Türkei 3 Millionen), fo daß unfere Feinde
um das Doppelte an Zahl uns überlegen find. In allen übrigen Weltteilen
find ſchätzungsweiſe faft 580 Millionen im Sriegszuftande, nämli etwa
538 Millionen auf feiten unferer Feinde und nur 40 Millionen auf unferer
Seite (12 Millionen in deutfchen Kolonien und 28 Millionen in dem türfiichen
Reiche einſchließlich Ägypten). Insgefamt zählen unfere Feinde rund 790 Millionen
gegen 160 auf unferer Seite. Aber während jene noch nicht ein Dritteil ihrer
Bollsmaflen in Europa haben, wohnt von den 160 Millionen, die auf unjerer
Seite ftehen, noch nicht ein Vierteil außerhalb unferes Erdteils“). Die Gefamt-
mafle unjerer Feinde verhält fih zu der unfrigen mie eins zu fünf. Die
außereuropäifchen Befigungen fallen mit ihren riefigen VollSzahlen zwar in
viel geringerem Grade ins Gewicht, weil fie für die enticheidenden Punkte
wenig verfügbare Truppen befiten und deren Herbeiziehung durch die große
Entfernung erſchwert wird; immerhin aber haben Kanada, Indien, Auftralten,
Senegambien, Tunis, Algier, Sibirien Hilfsfräfte fenden müffen, und unmöglich
it das Eingreifen Japans auf dem europäilchen Kriegsichauplage nicht zu
nennen. Jedenfalls haben unfere Gegner zahlenmäßig eine geradezu ungeheure
Übermacht, und fäme es auf diefe allein an, fo wären wir verloren. Glüdlicher-
2) Sollten Italien (87 Millionen), Berfien (9 Millionen), China (850 Millionen), die
Bereinigten Staaten von Rordamerifa (96 Millionen) in den Krieg eingreifen, jo würde die
Bahl der Beiwohner der triegführenden Länder fih auf faft 1450 Millionen, alfo fünf Sechſtel
der geſamten Menfchheit erhöhen!
206 Weltkrieg und Dolfszahl
weife fpielen andere Faltoren eine wichtige Rolle in dem ungeheuren Kampfe.
Aber immerhin tft die militäriſche Stärke und Leiftungsfähigfeit eines Volles
doch weſentlich durch die Vollszahl mit bedingt.
Das volkreiche Rußland verfügt nach Blume (Die Wehrkraft Deutſchlands)
über ein Heer von 7668000 ausgebildeten Mannſchaften in Kriegsitärle, wobet
die Gefamtheit feiner mwaffenfähigen Mannſchaft nur in ſehr geringem Grade
ausgenugt ift, nämlid mit 4,2 Prozent der Bevölkerung. Wäre Rußland
in der Lage, die Gefamtmaffe feiner Waffenfähigen militäriſch voll zur Geltung
zu bringen, fo wäre feine Macht tatfächlich für uns erdrückend. Es Tönnte,
wenn es denſelben Prozentfah der Bevölferung wie Deutſchland mobil zu
machen vermödte, 15 Millionen ins Feld fchiden.
Dagegen vermag Frankreich bei feiner feit Jahrzehnten faft ftillftehenden
Bevölkerungszahl nur 4399000 ausgebildete Mannſchaften aufzubringen, wobei
bereit 11,8 Prozent der gefamten Bevölkerung herangezogen find, aljo bie
äußerſte Ausnugung aller halbwegs brauchbaren Kräfte notwendig ift. Jedenfalls
iſt Frankreich, nicht Deutichland, dasjenige Land, das den Militarismus weitaus
am jtärfiten ausgebildet hat.
England fann wegen feiner ganz anderen militäriſchen Verhältniſſe zum
Vergleiche nicht herangezogen werden. Den Mangel eines, nach dem Maßſtabe
der anderen Großmächte gemeſſen, ebenbürtigen Heeres, den fein Söldnerſyſtem
mit fi) bringt, fucht e8 durch feine Übermadt zur See auszugleichen, wie
dur Heranziehung von Kolonialtruppen. Was fein Anwerben von Freiwilligen
an Zahl und Tüchtigkeit zu erreichen vermag, läßt fih noch nicht überfehen.
Neben diefen Großmächten ftellen Belgien, Serbien und Montenegro wohl
noch 600000 Mann ins Feld, von Japan ganz zu fehmweigen.
Demgegenüber vermag Deutſchland mit 8 Prozent feiner Bevöllerung
5262000 ausgebildete Mannfchaften zu ftellen, neben denen es natürlidy
eine weit größere Zahl noch auszubilden vermag, als Frankreich, das ſchon
3,8 Prozent mehr ausgebildet hat. Bei gleicher Ausnugung feines Menſchen⸗
materials wie Frankreich (mit 11,8 Prozent), könnte Deutjchland noch reichlich
2,5 Millionen Soldaten mehr aufbringen. R
Ofterreih- Ungarn nügt feine Kräfte in viel geringerem Maße, nur mit
4,3 Prozent aus, und vermag dadurch) 2243000 ausgebildete Mannfchaften
zu jtellen. Bei voller Heranziehung der nicht ausgebildeten, aber waffenfähigen
Männer würde fi Ddiefe Zahl ungeheuer fteigern laſſen, vielleiht um vier
Millionen.
Die Türkei endlid vermag ein Heer von 24000 Offizieren und 600000
Mann im Kriege zu ſtellen. Ausgebildete Mannſchaften müjjen aber viel mehr
vorhanden fein. (Aloys Belge: internationaler Armeealmanad. 1913/14.).
Die jährliden Aushebungsziffern, die fi) (abgefehen von den lebten
Steigerungen) für Rußland auf 430000, Frankreich auf 225000, Deutichland
auf 270000, Lfterreid”- Ungarn auf 133000 belaufen, gehen infolge der ver-
Weltkrieg und Dolfszahl 207
ſchiedenen Ränge der militärifchen Dienftzeit nicht parallel mit der Zahl der
ftehenden Heere, die für Rußland 1250000 (7,8 pro Mille), Frantreid) 530000
(14 pro Mille), Deutſchland 630000 (9,5 pro Mille), Ofterreih-Ungarn 372000
(7,1 pro Mille), Türkei 155000 (5 pro Mille) betragen.
Die numerifhen Stärfeverhältniffe haben ſich gegen früher gewaltig ver-
ihoben. Das kommt weniger für Rußland in Betracht, das jährlih um faft
zwei Millionen durch Geburtenüberfhuß anwächſt, aber infolge jeiner wirt
ſchaftlich-kulturellen Rückſtändigkeit diefe Macht militäriſch nicht auszunutzen
vermag, ſondern vor allem für Frankreich und Deutſchland. 1870 hatte Frankreich
foft die gleihe Einwohnerzahl wie Deutichland. Heute zählt es nur 39,6
Millionen, gegen 68 feines Gegners. Bon 27,5 Millionen im Sabre 1801
war es bis 1870 auf 38,4 Millionen gemadien, aber die Zahl der Lebend⸗
geborenen nur von 904000 auf über eine Million in den Jahren 1859/67
geftiegen, von da bi8 1870 aber wieder auf 944000 gefallen. Auf 1000 Ein-
wohner zählte Frankreich 1806 31,4, dann 1816 und 1819 die Hödhjftzahl
von 32,9, aber ſchon 1846/50 nur noch 26,5, 1866/70 25,8, 1871/80 25,4,
1881/90 23,9, 1891/1900 22,1, 1901/10 20,6, 1911 18,7 Lebendgeborene.
Dagegen ſank die Sterblichleit von 1816 bis 1910 von 762000 auf 703000
und ftieg 1911 auf 777000=19,6 pro Mille. Außer den Yahren 1854/55,
wo Frankreich eine Mebriterblichleit von 69000 und 36000 aufwies, und den
Kriegsjahren 1870/71, wo diefe 103000 und 445000 betrug, ift feit 1890
die Sterblichleit fiebenmal größer geweſen, als die Geburtenzahl. Geit 1890
betrug der Geburtenüberfhuß zufammen nur etwa 580000. Faſt ebenjoviel
(567000) hat die Bevöllerungszahl Frankreichs durch Einwanderung gewonnen.
Wenn 1912 einen Geburtenüberfhuß von 57911 aufwies, fo war dies ein
bejonder3 günftiges8 Jahr, wie 1911 ein fehr ungünftiges. Die militärifche
Shwähe Frankreichs gegenüber Deutichland, die durch äußerſte Ausnutzung
feines Menſchenmaterials ebenfomenig, wie durch den Bau faſt uneinnehmbarer
Seitungen auszugleichen ift, folgt alfo aus feiner fett langer Zeit eingemurzelten
und immer mehr verbreiteten Beſchränkung der Sinderzahl. Nach Bertillon
(La depopulation de la France) bildete die Bevölferung Frankreichs im Jahre
1700 40 Prozent der VBollszahl der Großmädte, 1789 nur no 27 Prozent
und 1910 nur noch 7 Prozent, wenn man die außereuropäifchen neuen Groß-
mächte der Vereinigten Staaten Nordamerikas und Japans mitrechnet. Schon
diefe Zahlen deuten an, wie Frankreichs weltpolitifche Bedeutung geſunken ift.
Und wie wird nun der Weltkrieg auf die Bevölkerungszahl und damit
auf die künftigen Machtverhältniſſe einwirken ?
Man kann öfters lejen, die Verluſte an Menfchenleben, die ein Krieg ver-
urſacht, feien von feiner nennenswerten Bedeutung für die Bevölkerungszahl.
In einem Lande wie Deutfchland, das jährlid etwa °/, Million Be—
völlerungszuwachs zähle, feien fie in einem oder einigen Monaten wieder erjegt.
Solder Dptimismus wird den Tatſachen doch fehr wenig gerecht, zumal den
208 Weltkrieg und Volkszahl
Rieſenzahlen, mit denen in diefem Weltfriege gerechnet werden muß. Der
Einfluß des Krieges uon 1870/71 auf die Bevölkerungszahl Deutſchlands und
Frankreichs, der fih genau zahlenmäßig nachweiſen läßt, gibt einen Anhalt,
um den Einfluß des jebigen Krieges, natürlich unter allem Vorbehalt in” An-
betradht der Unftcherheit feiner Dauer und feines Verlaufes abzufchähen.
Ganz Deutichland in feinem heutigen Umfange (mit Ausnahme von
Helgoland) zählte
Ehefhliegungen 9. Geburten einſchl. 9%. Sterbefälle einſchl. 9%
Zotgeburten Totgeburten
1865 353807 8,9 1561644 39,2 1154443 29,2
1866 319202 8,0 1569165 39,4 1281469 32,2
1867 363491 9,1 1532849 38,3 1106636 27,6
1868 357916 8,2 1544160 38,4 1173053 29,2
1869 884267 9,5 1594187 39,4 1154303 28,5
1870 813961 7,7 1635646 40,1 1184315 29,0
1871 836745 82 1473492 35,9 1272113 31,0
1872 423900 10,3 1692227 ü 41,1 1260922 30,6
1878 416049 10,0 1715283 41,8 1241459 29,9
1874 400282 9,5 1752976 41,8 1191932 28,4
1875 386 746 9,1 17985691 42,3 1246572 29,3
Während aljo im Striegsjahre 1866 etwa 24000 Eheſchließungen weniger
ftattfanden, als im Durchſchnitt nach der Bevölkerungszahl zu erwarten war,
betrug der Nüdgang der Geburten im folgenden Jahr über 36000, und aud)
1868 erfolgten noch 25000 weniger al$ 1866. Die Zahl der Sterbefälle war
1866 um 127000 höher als im Borjabre, während 1867 allerdings mit 48000
weniger ald 1865 ein ſehr günjtiges Verhältnis aufwies. Die natürlidde Be⸗
völferungszunahme ſank 1866 von 10,0 auf 7,2 pro Mille, das heißt von
397201 auf 287696, alfo um 109505. Wenn fie 1868 dagegen auf 426213
ftieg, jo kann das nit mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden; im
Gegenteil war ja die Geburtenzahl noch niedriger, al8 vor dem Kriege.
Biel größer war der Einfluß des Krieges von 1870/71 auf die Entwicklung
der Bevölkerungszahl. Die Zahl der Cheichließungen ging 1870 um mehr
als 70000 zurüd und bob fih au 1871 nur um noch nidht 23000. Erſt
1872 jchnellte fie um 87000 empor. Die Geburtenzahl fan? 1871 um mehr
als 162000, anftatt entipredhend der Bevölferungszunahme um 20 bi8 30000
zu fteigen; und die Zahl der Sterbefälle ftieg 1870 nur um 30000, aber 1871
abermals um 88000. Die Bevölferungszunahme war 1870 infolge der hohen
Geburtenzahl noch übernormal, 11,1 pro Mille gegen 10,9 im Borjahre, fant
aber 1871 auf 4,9 pro Mille, um 1872 wieder die etwa normale Höhe von
10,5 zu erreichen. 1870 wies 451331, 1871 nur 201379 Geburtenüberfhuß
auf. 1871 allein betrug alfo der Ausfall an Bevöllerungszunahme etwa
6 pro Mille = 250000. Das ift der wirkliche Einfluß des Krieges von 1870/71,
Weltkrieg und Dolfszahl 209
und zwar, obwohl der ganze Krieg im Auslande geführt wurde und, wie das
Generalftabswer? fagt, Seuchen nicht ausbrachen, während 1866 Cholera und
Boden ſtark hauften und fo den Bevöllerungszuwachs um etwa 120000 hemmten.
Die Berlufte durch feindliche Waffen (28628) und durch Krankheit ufw. (12258)
im deutſchen Heere, welche fi) 1870/71 nur auf 40881 beliefen (außer 12879
Bermißten), ftellen alfo nur etwa 17 Prozent, nur ein Sechsteil ber durch ben
Krieg verurfaddten Hemmung bes Bevöllerungsmahstums dar. Noch jett zeigt
fh die Minderzabl von Geburten im Jahre 1871 darin, da in Preußen am
1. Januar 1911 vorhanden waren
im Jahre 1869 Geborene 461 724
» nn 189700 „478929
„nr Isrı „406036
2» 1872 „ 516984
Der Jahrgang 1871 weiſt alfo gegenüber den Nachbarjahren noch jeht
eine Minderzahl von faft 73000 bzw. 111000 auf.
Einen Teil des Ausfalls erfegt allerdings (menigftens vorübergehend) meift Die
Folgezeit, Da nach beendetem Striege infolge reicher Arbeitsgelegenheit und dergleichen
die Ehefchließungs- und demgemäß auch die Geburtenziffern über die normale
Höhe anzuſchwellen pflegen. . u
Im Kriege von 1870/71 hatten insgefamt 1146355 Mann die franzöfiiche
Grenze üiberjchritten, während die Höchftzahl der mobilen Truppen im Yebruar
1871 mit 936915 und der immobilen mit 413872, die höchſte Geſamteffektiv⸗
ftärfe alfo mit 1350787 erreicht wurde. Nach Blättermeldungen bürfte die
Geſamtſtärle des deutſchen Heeres jeht ſchon vielleicht die vierfache Höhe erreicht
baben und wirb bei langer Ausdehnung des Krieges durch Heranziehung von
nit ausgebildeten Mannſchaften vielleicht auf die fünf. oder ſechsfache Höhe fteigen.
Wenn nun 1870/71 der Gefamtverluft an Toten 40881 und einfchlieglich der
Bermißten, die ihnen wohl glei zu rechnen find, etwa 53500 betrug, das
heißt etwa 8 bis 4 Prozent der Gejamtftärle des Heeres, und wenn man ferner
unter Berüdfichtigung der längeren Dauer des Krieges und der größeren
Erbitterung, mit der gefämpft wird, einerfeitS und der verbefierten fanitären Ein-
richtungen anderfeits in diefem Kriege mit dem gleichen Prozentſatze rechnen dürfte,
jo würde der.Berluft des Heeres an Toten ſich auf 163 000 beziehungsmeife 214000
bis 245 000 beziehungsmeife 320 000 ſchaͤtzen laſſen. Einigermaßen entfprechend dürfte
dam aud der Ausfall in der Geburtenzahl der Jahre 1915 und 1916 tn
vier- bis 6facher Höhe zu erwarten fein (je nad) der Dauer des Krieges), nicht
ganz fo groß, weil diesmal fehr viel fehr jugendliche Kriegsfreimwillige und auch
mehr ältere Leute zur Fahne herangezogen find, auch die Geburtenziffer auf
etwa drei Viertel derjenigen zur Zeit des deutfch-franzöftihen Krieges geſunken
iſt. Aber anbderfeits ift auch die Säuglingsiterblichkeit gejunfen. Wenn der
Weltkrieg entiprechend den riefenhaften Zahlen der Mitlämpfer auch nur dert
vierfachen Berluft an Menſchenleben und an Geburtenausfall brädte, fo würde
Grenzboten 11 1915 14
210 Weltkrieg und Dolfszahl
die Verminderung des Bevöllerungswachſtums für Deutſchland auf eine Million,
aljo ein und ein Drittel der natürlichen Bevölferungsvermehrung eines Jahres
zu [häßen fein. Vorausſetzung ift dabei, daß auch ferner der Krieg, wie bisher
faft ganz auf feindlidem Boden ausgelämpft wird. Es tft aber auch weiter
zu beachten, daß der frühe Tod vieler Taufende von jungen Männern bie
Heirats- und Geburtenziffer auf Jahrzehnte hinaus ungünftig beeinfluffen muß,
nur iſt diefer Einfluß verfchleiert und ſchwer in feiner Höhe abzufjhägen. Bon
einem Erſatze ber Kriegsverluſte in einigen Monaten kann aljo gar feine Rede fein.
Die ruffiihen Verluſte an Menfchenleben find zweifellos ungeheuer groß.
Schon im Heere mögen fie nach den Blättermeldungen bisher vielleiht eine
Million betragen. Zweifellos werden fie aber auch bei der Zivilbenöllerung
zumal des unglüdlihen Polens durch Entbehrungen, Seuchen, Hinrichtungen
und Unglüdsfälle riefig fein. Wenn man dazu den gewaltigen Geburtenausfall
berüdfitigt, fo wird man ſchon jeßt die Hemmung der natürlichen Benölferungs-
vermehrung auf mehr als 1'/, bis 2 Millionen fchägen müflen. Bei dem
ungeheuren Geburtenüberfuß von 1°/, bis 2 Millionen jährlich wird sBlau)
ſolchen Berluft immerhin am erften ertragen können.
Ganz anders Frankreich. Eine Berluftlifte des Krieges von 1870/71 ift
für Frankreich nicht veröffentlicht worden. Die Zahl der Gefallenen und Zoten
im Heere wird auf 90000 bis 150000 geſchätzt. In Wirflichfeit war der
Berlufi an Menſchenleben natürlich viel größer, da der Krieg auf franzöſiſchem
Boden geführt wurde, und der Rüdgang an Geburten war ebenfalls beträchtlich.
1866 bis 1870 hatte die Geburtenzahl durchſchnittlich 948292 betragen, ſank
aber 1871 auf 826121, alfo um über 122000, das heißt von 25,8 auf 22,9
pro Mille. 1872 ftieg fie dann auf 966000 (26,7 pro Mille). Dagegen ftieg
die Sterblichkeit von 874000 auf 1047000 und 1871 auf 1271000, das beißt
von 24,8 auf 28,4 und 85,1 pro Mille, fo daß die an fih fon äußerſt geringe
natürlide Vermehrung von 1,5 pro Mille nicht nur gänzlich aufhörte, ſondern
eine Überfterblichfeit von 2,6 und 12,2 pro Mille eintrat. Anftatt eines dem
damaligen Durchſchnitt entſprechenden Zuwachſes von etwa 200000 in den
beiden Kriegsjahren anfammen trat Mebriterblichleit von 548000 ein. Frankreichs
Berluft an Bevöllerung durch den Krieg betrug aljo (abgejehen von der mehr
als 11/, Millionen zählenden Bevölkerung von Elfaß-Lothringen) rund °/, Millionen,
das Dreifache vom Berlufte Deutfchlands, faft 2 Prozent feiner Einwohnerzahl!
Entſprechend ſank die mittlere Bevölferungszahl von 38440000 im Jahre 1870
auf 36190000 im Jahre 1871 und 36140000 im Sabre 1872. Auch die
folgenden Jahre haben von dem Derlufte nichts erſetzt. Allerdings zeigten
1872 und 1874 einen größeren Geburtenüber[huß von 4,8 und 4,7 pro Mille,
aber 1873 nur 2,8, 1875 2,9, 1871 bis 1880 durchſchnittlich nur 1,7 pro Mille.
Wie groß wird nun der Menfchenverluft für Franlreich durch den Welt-
Trieg fein? Wenn man bedenkt, daß Frankreich alle Kräfte zufammenrafft und
vielleicht die fünf- bis fechsfacdhe Zahl der Soldaten von 1870 ins Feld ftellt,
ou rein ann — —
Weltkrieg und Dolfszahl 211
daß der Krieg wiederum auf franzöſiſchem Boden geführt wird, daß ein Gebiet
von vielleicht 8 Millionen Einwohnern ſeit acht bis neun Monaten von den
Deutſchen beſetzt iſt, daß die Maffe der Flüchtlinge unter ungeheuren Ent-
behrungen fich heimatlos irgendwo binfriften muß, daß der Krieg mit ungeheurer
Erbitterung geführt wird und die Zivilbevölferung vielfach mit verräterifchen
Überfälen in den Krieg aktiv eingriff und bemgemäß geftraft werben mußte,
fo wird man die Menfchenverlufte Frankreichs in diefem Stiege auch auf das
vielfacde des Krieges von 1870/71 ſchätzen müſſen. Yünfmal 548000 würde
faft 2,2 Millionen wirklichen Menfchenverluft ergeben, wozu noch der Ausfall
an Geburten fäme, fo daß man 21/, Millionen annehmen könnte. Auf weniger
als 1!/, Million wird nad dem Vergleiche mit 1870 ihn niemand ſchätzen
fönnen. Sol doch nad) Blättermeldungen die Zahl der gefallenen franzöftichen
Soldaten bi8 Ende Januar 1915 allein 450000 betragen, was nad dem
Gefagten wohl glaubli erſcheint. Das bedeutet aber für Frankreich einen
ungeheuren, einen tatfächli unerjeglichen Verluſt von 3°/, bis 6!/, Prozent
feiner Volkszahl. Er wäre nicht unerfeglih, wenn Frankreich einen normalen
Geburtenüberfhuß hätte. Aber nun rächt ſich die Fünftliche Herabdrückung der
Geburtenzahl in fehredlicher Weile. Es zeigt filh, daß der Neumalthuftanismus
tatfächlich nichts anderes als der Selbftmord des ganzen Volles war. Denn
er ſchwaͤchte nicht nur die Wehrkraft Frankreichs in bedenklichſter Weife, Tondern
führt nunmehr aller Vorausſicht nad) zum befchleunigten Ausfterben des Volkes.
Denn daß fo tief eingemwurzelte Unfitten durch ſolche Kataſtrophen ausgerottet
werden follten, ift ſchwer glaublid. Zu oft ift Frankreich vergeblich auf bie
unausbleibliden Folgen feines „Zweilinderfyftems“ bingewiefen worden. Nun
ift die Kataftrophe da, von der Frankreich fich nie wieder erholen faın. Um
das vorauszufehen, darf man nur an die tatfächliche Bevöllerungsbewegung
denfen. 1911 fanden in Frankreich 307788 Ehefchließungen ftatt. Die Zahl
der Lebendgeborenen aber betrug nur 742114 = 2,4 auf eine Eheſchließung,
im Departement Seine nur 1,73, in den Departements Gers, Garonne, Tarn
und Garonne, Gironde, Lot, Lot und Garonne, Yonne ufw. nur 2 oder
darunter. Abgeſehen von einigen Departements mit geringer kultureller
Entwidlung (Finiftre uſw.) iſt das Zmweilinderfgftem ja durchgeführt, nur in
Departements mit ſehr günftigem AltersSaufbau infolge ftarler Zuwanderung
verichleiert. Bertillon redet von Departements, in denen auf zwei Wiegen brei
Gräber fommen. Daß das feine Übertreibung ift, zeigt das Jahr 1911. In diefem
zählten die Departements Lebendgeborene Sterbefälle
ss 2882 4700
GB 222 0202..2802 4451
Garonne . . . .. 6370 9203
Zarn und Garonne . . 2525 3949
" MDome » 2 2 20.20.4272 6168
Lot und Garonne . . 83604 5345
14*
212. | Weltkrieg und Dolfszahl
und 1912 war es nicht viel beſſer, denn es brachte im ganzen 8000 Geburten mehr.
Auf 1000 Einwohner berechnet ergaben ſich Geburten in demfelben Jahre in
Puy de Dome . 18,1 Garne . . . 147
Gar... .. 180 Cote # Dr. . . 15,8
Lot und Saronne . 13,6 Rob ..2.2.2.1650
Zarn und Garonne 15,0 ANhone . . . . 15,7
.Zaım. -. . . . 165 Mir . . . . 148
Sere. . . . . 162 Sochpyrenien . . 16,5
Aude. . -. . .. 160 Seine und Marne 16,8
Aube. . . . . 166 Vaucluſe . . 16,8
Bar . 2... 16,6
Mehr Sterbefälle als Geburten zählten 1911 64, 1912 21 Departement.
Die — betrug in Tauſenden an
Lebendgeborenen Sterbefällen Geburtenüberſchuß
1813/71 2 ... 968 822 181
1878/82 . . . . 988 841 92
1888/87 . . . . 928 848 75
1888/92 . . . . 865 858 12
1898/97 . . . . 858 812 46
1898/1902 . . . 844 805 39
1908/07. . . . 807 772 85
1908/10. . . . 779 734 45
191l 2.0.0.7 777 —35
= 192 ..n 750, 651 698 58
Frankreich hatte — in den vierzig Jahren von 1878 bis 1912 eine
natürliche Bevölkerungsvermehrung von nur etwa 2,3 Millionen, daneben durch
Einwanderung einen Gewinn von 1,1 Million. Hatte e8 den Berluft
beziehungsweife Ausfall von °/, Million, die der Krieg von 1870/71 ihm
brachte, erft im Jahre 1879 durch Geburtenüberfhuß ausgeglichen, fo wird der
Erſatz für den ungeheuren Blutverluſt des Weltkrieges vorausfichtlich in
abſehbarer Zeit überhaupt nicht wieder zu ſchaffen ſein. Denn die wirkliche
Geburtenzahl hat ſeitdem um 200000 jährlich abgenommen und der Geburten⸗
Aberſchuß betrug in den legten 25 Jahren durchſchnittlich nur 32000 bis 33 000.
Der Berluft von 2 Millionen würde bei gleichem jährlichen Überfhuß zwar in
60 Fahren erfegt fein; aber bei dem bisher und vorausfidtlih auch in
Zukunft (abgefehen von den felbftverjtändliden Schwankungen) beharrlichen
Ginfen der Geburtenzahl und dem Mangel von Hunderttaufenden von fort-
pflanzungsfähigen Männern ift anzunehmen, daß überhaupt eine Vollsvermehrung
nicht ftattfinden, ſondern ftatt deſſen eine chronifche Mebrfterblichkeit fich einftellen
wird. Das hängt jelbitveritändlid vom Willen des Volles ab; aber durch
ein Jahrhundert bat diefer fih als fteigende Abneigung gegen eine größere
Weltkrieg und Dolfszahl 218
Kinderzahl offenbart. Nur durch Einwanderung wird Frankreich feine Bolls-
zahl behaupten fünnen.
Dem entſprechend finft Frankreichs militärifhe und politifche Bedeutung
immer mehr. Bertillon veranfhaulicht diefen Vorgang durch einen Vergleich
Frankreichs mit Deutihland. ES Hatte Franfreih 1852 bis 1855 eine
Geburtenzabl von 9382000 und dementſprechend zwanzig Jahre fpäter eine
Rekrutenzahl von 291000; 1909 aber nur 770000 Geburten umd zwanzig
Jahre fpäter wird es nur 269500 Rekruten haben. Deutſchland dagegen hatte
1852 bis 1855 1228800 Geburten und von diefen fpäter 345800 Rekruten,
1909 aber 2015000 ®eburten und demnach hat es 594000 Rekruten zu
erwarten. Das militärifche Stärkeverhältnis, das anfangs der fiebziger Jahre
wie 100 :119 ſich verhielt, wird dann wie 100:215 fih geftalten.
Für die Weiterentwidlung und Weltftelung Deutſchlands wird bie Höhe
feiner Geburtenzahl in Verbindung mit der Kinderfterblichfeit von entfeheidender
Bedeutung fein. Bei feiner geographiſch gefährdeten Lage muß es numerifch
ſtark fein, wenn es fi behaupten will gegen eine Welt von Feinden.
Unbeftreitbar hat e8 bisher einen hohen, günftigen Geburtenüberfhuß aufzumetien,
fit 1900 13 bis 14 pro Mille jährlich, troß ſtark finfender
Geburtenziffer, die zum Beifpiel für die Neichshauptftadbt auf 1,93 Geburten
auf jede Ehefchliekung im Jahre 1912 zurüdging. Wenn aber dieſes Sinken,
das von 1880 bis 1911 nicht weniger als 10 pro Mille betrug (von 89,1
auf 29,0) weiter anhält, fo wird auch der Geburtenüberſchuß nicht nur relativ
fondern abfolut fi) gewaltig mindern. Betrug dieſer doch in fämtlidhen
deutichen Städten mit mehr als 15000 Einwohnern 1912 nur nod) 10,5 pro
Mille gegen 13,6 pro Mille im Jahre 1901, und bei den Großſtädten weniger
als 10, während nad) dem günftigen Altersaufbau der Städte ein höherer
Geburtenüberſchuß als auf dem Lande zu erwarten wäre. ebenfalls verdankt
Deutichland feine gewaltigen Erfolge im Weltkriege nicht zum wenigiten feiner
günftigen Bevölkerungsvermehrung, ohne die feine militärifche Kraft zum Siege
im großen Entſcheidungskampfe gewiß nicht ausreichend wäre.
Das Wort „wer die Jugend bat, der hat die Zukunft“, läßt fi auf
die Weltftellung und Geltung der Völker anwenden: nur ein Boll, das viel
Jugend hat und die Mübfal und Koften ihrer Auferziehung nicht ſcheut, das
hat eine Zukunft, das kann fi im Kampfe behaupten.
IN Ne
— —— ãæ
Derdeutfchungen
Don Rice von Carlowitz⸗Hartitzſch
Fer erbitterte Kampf ums Dafein, den unfer deutſches Vaterland
gegenwärtig durchficht, hat überall die Erlenntnis gewedt, dab es
nicht nur um das politifche Deutichland geht, fondern im lebten
und tiefften Grunde um beutfches Weſen überhaupt, an dem
nad) Wagners herrlidem Wort die Welt genefen fol. Darum
bat diefer Krieg auch fo gewaltig umwühlende feeliihde Wirkung, die in
ſchlechthin allen VBollsichichten zur Vertiefung und leider oft erft zum Bewußtſein
bes Deutfehtums geführt bat. Nicht zulebt in der Sprade, die ja Grund⸗ und
Eckpfeiler völkiſchen Weſens iſt. Berufene und unberufene Kräfte find eifrig
am Werl, bier die fremden Eindringlinge auszumerzen und mit eigenen Borjchlägen
zu erfegen. Wir braudden an unferer grundfäglicden Stellungnahme zur Sprad)-
reinigung*) nichts zu ändern, derzufolge wir alle Berdeutfhungen für Begriffe
des praftifchen Lebens, alfo eben für vollstümliche Worte von breitefter Geltung
freudig begrüßen. Das Bolt braudt fie, das Voll ſoll ſie deshalb verftehen
und möglichft auch ſchaffen. Gerade darum ift hier die Laienmitarbeit von
unſchätzbarem Werte, die endlich heute in einmütiger Bereitwilligfeit eingefeßt
bat und dieſer Sprachbewegung boffentli größere Fruchtbarkeit gemwährleiftet,
als ihren mehr oder weniger zünftigen VBorgängerinnen beſchieden war.
Daraus ergibt ſich auch die erfte und, man kann fagen, einzige Forderung,
die von vornherein an jede Verdeutſchung geftellt werden muß: fie ſoll das
Zeug dazu haben, vollstümlich zu werden. Aber weil man das einem Wort
eben nicht von vornherein anfehen, fondern nur von hinterher feftitellen kann,
ift diefe einzige Forderung zugleich die ſchwerſte. Wenn man aljo nidt die
guten Eigenfchaften benennen Tann, die feine Volfstämlichleit herbeiführen, fo
Tönnen wir doch vielleicht die jehlechten finden, die fie verhindern. Und damit
wäre ſchon etwas gewonnen. Ohne im geringften diefe ſchwarze Lifte er-
ſchöpfen zu wollen, mödjten wir beute auf ein folches Hindernis aufmerffam
machen, das uns als das hauptfächlichite erf'heint: die Länge der Verdeutſchungen
oder vielmehr, da fie bloß der äußere Ausdrud ein erinneren Urſache ift — die
umftändlide Genauigkeit der Begriffsbeftimmung. Jeder fucht feinen Vorſchlag
2) Bergleihe „Das ftilehte Fremdwort”, Grenzboten 1913 Nr. 2.
Derdentfchungen 215
geradezu dadurch zu empfehlen, daß er eindeutig den vorliegenden engbegrenzten
Begriff, womoͤglich gar genau das Fremdmort dafür wiedergibt, deſſen buch⸗
ftäblicden Sinn man nicht felten mit diefem Begriff verwechſelt. Auf dieſe
Weiſe gelangt man dann bereit3 für das Grundwort zu einer Wortzufammen-
feßung, die in den notwendigen Ableitungen zu jenen Wortwürmern „geftredt“
wird, bei denen man nicht mehr weiß, was Kopf und Beine find. Abgefehen
davon läuft aber diefe Genauigfeit der Wortabgrenzung der vollstümlichen
Spradbildung überhaupt zumider. Sie arbeitet mit Logik, das Boll mit
Phantafie, das heißt fie unterſcheidet begrifflih, wo da8 Boll zum Bilb
zufammenfaßt. Das Volk will bei feinen Worten: nicht mit einer Vielheit
belehrt, fondern mit einer Einheit — fagen wir ruhig: — künſtleriſch unter-
balten fein. Yür eine vollstümliche Verdeutſchung muß alfo der Begriff zur
fünftleriihen Impreſſion, zum Gefamteindrud verdichtet werden, aus dem man
das hervorftechendfte Merkmal, die pſychologiſche Dominante diefes Eindrudß,
al8 Symbol für die ganze Vorftelung berausgreift, das den Namen bergibt.
Gewiß läßt das Zwiedeutigkeiten zu, weil dieſes eine Merkmal fehr wohl aud
anderen Begriffen mehr oder weniger deutlih zulommen Tann. Aber gerade
über dieſes Mebr-oder-weniger enticheidet allein die Gewohnheit. Wenn fie das
berauögeitellte Merkmal „deutlih”, das beikt ſymboliſch deutbar, und zwar
fraft piychologiiher Gedankenverbindung zwangsläufig deutbar findet, fo wird
dem Deutlichen das Eindeutige unbebenklich geopfert. Die Macht der Gewohnheit
ift, wo pſychiſche Faktoren im Spiele find, nicht hoch genug zu veranfchlagen.
Wenn fie erft das kurze und kühne Wort in diefe neue Richtung gedrängt bat,
fteht es bier viel feiter als ein ängſtlich Torreltes Wortungeheuer, daS von
vornherein „ven Tod auf der Zunge bat“, wie ein hübſcher Ausdrud
hierzulande lautet. Und die Gewohnheit hängt fich, gewiſſermaßen felbit-
tätig, an jede möglide Verkürzung, fchon weil fie ihrerfeitS wieder für
neue Zufammenfegungen Raum gibt. So ift zum Beiſpiel aus dem Beloci-
ped erit ein Fahrrad oder Zweirad und jetzt einfach ein Rad gemorden.
Kein Menſcht fagt: „Borge mir dein Zweirad!” fondern: „dein Rad.“ Und
fühlt ih durchaus nicht beirrt, daß es noch unzählige andere Räder gibt, mit
denen ihm durchaus nicht gedient iſt. Und wie bequem ift da3 für Zufammen-
fegungen: radfahren, Radpartie, Damenrad uſw. Aus demjelben Grunde fehen
wir auch den amtlich gejchobenen „Kraftwagen“ fteden bleiben. Wo nicht die
Verkürzung „Auto“ beibehalten wird, die nicht nur dem barbariichen latein-
griechiſchen Bauftard Automobil entftammt, fondern in ihrer Profruftesform
fogar widerdeutſch“) tit, wird einfah Wagen gejagt: „Welchen Wagen fahren
Sie?" Ya, man fagt fogar feelenrubig: „Mein Wagen hat vierzig Pferde!”
obgleich bier die Verfuhung zum Mißverſtändnis verdoppelt if. Gleichwohl
*) Man überlafie den Zoo, Bneu, Aero ufw. den Kulturvölkern“ Frankreich und
England. Auch für die Buchftabenfpielereien bei Firmen (Hapag ufw.), Waren (Efbe⸗Corſetts ufw.)
oder bei Ausftellungen (Bugra, la ufw.) follte bei uns feine Einfuhr fein.
216 Derdeutfchungen
iſt dieſe Verkürzung auf den Gattungsbegriff nur Notbehelf und auf Yälle
befhräntt, wo aus dem Zufammenhang des Sabes oder des ganzen Geiprädhs
der unterlegte Artbegriff „deutlich“ durchleuchtet. Beſſer ift natürlich ein Wort,
das gerade das Befondere des Falles betont und dafür die Gattung als etwas
Gelbitverftändliches außer acht Yäht, fowie auch der Landauer nicht mehr nötig
bat, fi als Landauer Magen vorzuftellen. Solches beſondere Merkmal des
Automobils tft zweifellos die Geſchwindigkeit. Es follte darum „Läufer”
beißen. Darin liegt zugleich das Selbittäge, Spielend-Leichte des Fortlommens
angedeutet, da „laufen“ gerade von Mafchinen gefagt wird. Dieſes einfache Wort
läßt fich Dabei zu Zufammenfeßungen ungezwungen ausbauen, fo daß der Chauffeur,
ber dem breiteiligen Sraftwagenführer nicht Pla machen wollte, vielleicht endlich
vom „Lauflenfer” bezwungen wird (Lauffahrer oder -führer ift durch die zwei
aufeinanderftoßenden „f“ zu hart). Wenn davon mit der Zeit nur noch der
Lenler übrig bleibt, um fo beffer. Die Autogarage würde zum „Läuferjchuppen“
(analog Wagenſchuppen, Läuferverfhleiß iſt gefucht, -balle hotelmäßig auf
gedonnert). Wir könnten „Läuferrennen” abhalten, „Läuferitraßen” bauen,
und mit „Wanderläufern“ (Tourenautos), „Stadtläufern“ (geſchloſſene Wagen),
„Laftläufern” oder „Rennläufern” (Sportautos), mit „Benzin- oder Kurzläufern”
(elettriihe Autos von ihrer gebrungenen Form) nad Herzensluſt „laufen“.
Dean ftoße fi nicht daran, daß Läufer, abgejehen vom Marathonlänfer, ſchon
im Schal, auf der Treppe — und im Schweineftall zu finden find. Zut es
vielleicht den SKreuzern Abbruch, daß fie noch kleine Namensvettern in öfter:
reichifchen Geldtaſchen oder neuerdings gar Wettbewerber in der Luft haben?
Ein weiteres Beiſpiel. Da las ich eine lange und furchtbar gewifienbafte
Abhandlung Über die Verdeutſchung von Invalid, mit dem ſich zu beichäftigen
gerade jebt fo traurige Veranlaffung if. Mit Recht Iehnte der Verfaffer den
Vorſchlag „Kriegstrüppel” als roh und Kriegsverſehrter als zu „gelehrt“ und
unſchön (vier helle Volale) ab. Es ift ausgefchloffen, dab fi) ſolche Worte
durchfeßen. Wenn er dafür „Kriegskranker“ vorjchlägt, fo ift das ſchon eine
erhebliche Verbefferung, aber, ich möchte fagen, halbe Arbeit, weil boppelte
Arbeit. Der unfelige Genauigleitsteufel bat es nicht gelitten, daß der bloße
Zatbeitand ohne die polizeialtenmäßige Angabe feines Wieſo, Warum und
Woher bleibt. Statt einer Inappen Marke gibt das Wort eine zwar gebrängte,
aber vollftändige Lebensgeſchichte. Diefes Ziel aufs innigfte zu wünjden, an
das fi unfere Sprachverbeſſerer — um ein belanntes Wort zu variieren —:
mit ebenfoviel Furcht als Vaterlandsliebe Hammern, trägt in die Wortbildung
ein ganz falfches, fremdes Motiv. Als wenn die Sprade zur Denlerfparnis
da wärel Gie verlangt im Gegenteil fchöpferifche Mitarbeit. Wo fle deshalb
nicht neuprägt, was ftreng genommen nur noch in onomatopoetiſchen Erfindungen
geichieht, wirft fie fih in Umprägung aus, indem fie aus dem Schatz ber
vorhandenen Wortftämme, der ſchlechterdings für alle etwas Paflendes hat
wie die Kriegsgarnitur auf Kammer, den beitfigenden herausgreift und ihm
nn — — — — —
Verdeutſchungen 217
ſelbſtherrlich die neue Bedeutung aufſtempelt, vorausgeſetzt, daß fie jung genug
iſt, Sprachwillen zu haben und ihn durchzuſetzen. Sind wir wirklich ſchon ſo
greiſenhaft, daß uns die geiſtige Biegſamleit dafür fehlt, den Sprung vom
Alten zum Neuen zu wagen, der allerdings bei ſolchen Umprägungen erfordert
wird? Muß immer alles in Buchſtaben gerinnen, was in dem flüffigen
Begriff gebunden liegt, und darf e8 den armen Hirnchen garnicht zugemutet
werben, fi aud da, wo Worte fehlen, etwas benfen zu müflen, das heißt
gewohnheitsmäßig den einen Begriff im andern mitſchwingen zu laſſen, ohne
daß er eine ſchwarz⸗auf⸗weiße Gedächtnishilfe hat? Auf unferen Striegs-
franten zurüdzulommen, fo ift hier entweder der Krieg oder der Kranke vom
Übel. Der Krieg als Merkmal ift nicht „deutlich“ genug, da glücklicherweiſe
mehr „Srieger“ heil als invalid zurüdtehren. Auch ift das altertümliche Wort,
das fozufagen in die poetifhe Borratsfammer geftellt wurde, bereits in wenig
glüdliher Weile von den „Kriegervereinen” aufgegriffen worden. Bleibt alfo
der Kranke, der entſchieden im Begriff invalid den Hauptton trägt. Kranker
felbft iſt als Gattungsbegriff wieder ganz farblos. Aber wir haben dafür
ebenſo gemwifjermaßen in poetiſchen Ruheſtand verfett ein anderes Wort auf
Kammer: „Der Sieche.“ Hier fehe ich jedoch ſchon wieder die philologifchen
Gemüter ihr zartes Gewiffen damit beunruhigen, daß umgelehrt krank urfprünglich
nad) dem friegerifhen Sinn unferer Vorfahren mit Selbftverftändlichleit den
Wundcharalter einſchloß, wie unfere ſchöne Jägerſprache noch das „kranke“ (an-
geſchoſſene) Reh bewahrt hat, während gerade fiech die allgemeine Bezeichnung
für alle Krankheiten im Zivilverhältnis war („Siechenhaus“ ift der Vorgänger
unferer Krankenhäuſer). Da fpiele ih nun den lebten Trumpf aus: „ber
Wunde.” Es enthält bei gutem Willen alles, was man will: die friegerifche
Veranlafjung, die verminderte Gefundheit und ein ſtillſchweigendes Hut-ab!
Kenn für uns find Wunden Ehrenmale.. Und über dieſen Wertfinn hinweg,
der in jedem deutſchen Derzen unwiderftehlih mitllingt, fann man das Wort
auch unbedenflih auf ſolche Kriegskranke übertragen, die ohne „verwundet“
zu fein durch den Krieg an der Gefundheit Schaden litten, wie Geiftesfrante,
Mheumatiler uſw. Die Ehre, ihren gefunden Leib dem Vaterland geopfert zu
haben, gehört ihnen allen. Dabei läßt „Wunder“ in der Stammform mund
ihöne und kräftige Zufammenfegungen zu: „Wundgeld“ (Invalidenrente),
„Wundendant“, „Sanzwunde”, „Wundenheim” um.
. Bon biefem Grundfaß des einfachſten aber ftärkiten Leitmotivs aus können
wir aud) hoffen, ein Wort wie Intereſſe zu erfchüttern, das uns immer wieder
als unüberjegbar entgegengehalten wird. Freilich wenn man es überfegen will,
lommen wir höchftens auf Teilnahme, teilnehmen, wobei uns bereit8 der Atem
für die Form „intereffant” ausgeht. Außerdem hat Teilnahme immer einen
dedauerlihen Klang und für mande Fälle zu wenig kühle Berehnung. Wenn
ih einem Kaufmann fagen will: ich intereffiere mich für Ihre Artikel und
bitte um Satalog, und würde fchreiben: „sh nehme an ihren Waren teil und
218 Derdentfchungen —
bitte um Verzeichnis,“ fo würde er fich ſchönſtens bedanken. Wir müſſen uns
vielmehr noch einmal das Befondere des Falles, der mit Intereſſe bezeichnet
wird, lebhaft vergegenwärtigen. Es ift zunächit ein geiftiger Zuftand: id habe
Intereſſe, Teine Tätigkeit: ich nehme teil. Und zwar ein Zuftand, in dem
unfere Aufmerlfamfeit mit mehr oder weniger ausgeſprochenem Beſitzwillen auf
einen Gegenftand gerichtet ift, ohne daß diefer Wille ſchon irgendwie fidh
entichieden hätte, alfo ein Zuftand der Erwartung vor der Tat oder mit einem
Wort: der latenten Energie. Und dafür haben wir das bilbfräftige Wort‘:
„Spannung.“ Wie eine gefpannte Feder eine unſichtbare, unterdrüdte Kraft
birgt, die fich jederzeit in Arbeit umſetzen kann, fo hat ein intereffierter Menſch
feine geiftige Energie auf einen beftimmten Punkt gefpannt mit mehr ober
weniger klarem Bewußtſein volllommener Freiheit, ob und mann er dieſem
Druck nachgibt. Und der inneren Blidrichtung als dem zweiten Merkmal des
Intereſſes trägt Spannung infofern ungezwungen Rechnung, als wir auf etwas
fpannen wie der Schübe den Bogen auf das Ziel. Setzen wir in allen
erdenklichen Fällen „Spannung“ für Intereſſe, „ipannend“ für interefiant,
„Ipannen auf“ für fich intereffleren, „geipannt an“ für intereffiert an, fo
werben wir überrafcht fein, wie vollfommen der Sinn getroffen if. Einige
Beilpiele: „Ihre Arbeit babe ich mit lebhafter Spannung gelefen“ oder „hat
mic) lebhaft geipannt.” „Ich bitte um Mufter Ihrer Neubeit, auf die ich ſpanne.“
„Ste fpannt auf ihn.“ „Ein fpannender Menſch.“ „Er bat für nichts Spannung.”
„Gr iſt an diefes Unternehmen mit 10000 Mark gefpannt.” Wo es nicht paßt,
wie zum Beifpiel „Ipannende Felsbilbung,“ werden wir bei näberem Zuſehen
finden, daß auch intereffant fehief angewendet war. Wir belfen uns gerade
dann leicht anders: reizvolle, fühne, auffallende, merkwürdige, jeltene, bedeutſame
Telsbildung.
Menn wir unfere drei Beifpiele „Läufer“, „Wunder“ und „Spannung“,
fo bunt zufammengemwürfelt fie find, vergleichen, jo haben fie das Gemeinfame,
daß fie alle nicht nur denkbar einfach find, fondern eben troß dieſer jtrengen
Einfachheit einen ganzen und reich gefalteten Sonderbegriff deden dadurch, dab
ihre Bedeutung auf ein finnli anfchauliches Element zurüdgeht. Auch für
Abftrafta wie Intereſſe ift, wie man flieht, diefer Rückgang vergleichsweiſe
immer möglid. Und das ein foldhes einfaches Bild durch Gewohnheit mit
einem ganzen BorjtellungsfreiS von mitzudenlenden Begriffen verfchwiitert
werben Tann, ift eine pfychologiihe Erfahrung, auf die der Spradbilbner mit
Sicherheit rechnen Tann — und rechnen muß. m diefer Zeit der fieberhaften
Worterfindung jcheint es notwendig, diefe pfiychologifhe Vorausſetzung und
durchgängig piychologifhe Bedingtheit alles Spradlichen in Erinnerung zu
bringen. Und wenn unfere Beifpiele zur Veranſchaulichung dieſes Grund-
gedanlens beigetragen haben, ift ihr Zwed erfült. Als Vorſchläge wollen fie
gern verihminden, wenn befjere gefunden find.
WMaßgebliches und Unmaßgebliches
Tagesfragen
Grete deutfche Blätter. Jahrgang 15 in
Fortſetzung des „neuen Jahrhundert“. Verlag
der Krausgeſellſchaft, Münden 27, Möhl⸗
firaße 44. Bezugspreis vierteljäbrlih 2 M.,
Einzelbeft 75 Br.
Bielfah ſchon iſt die Hoffnung aus—⸗
geiprochen worden, daß der Burgfrieden in
die Friedenszeit fortwirten und die Stimmung
der Barteien, Stände, Gefellihaftsfhichten
gegen einander dauernd befjern werde. Ganz
befonder® darf man da8 von den SKtonfeffionen
erwarten. Die Haltung der Katholilen und
des Papſtes machen e3 den Broteitanten
unmöglid, den Katholizismus aud in
Zukunft noh als eine Gefahr für das
Deutfche Reich anzufehen. Ahre Schuldigfeit
baben die preußiichen, die deutſchen Katho-
Iifen aud 1866 und 1870 ſelbſtverſtändlich
getan, aber, aus befannten Gründen, mit
geteilten Herzen. Diesmal find fie mit
ganzem Herzen dabei; einerjeit?, weil fie,
ebenfo wie die Sozialdemofraten, einjehen,
daß es um unfer aller Eriftenz geht, ander»
feitö, weil neben dem proteftantiihen England
das durch Katholitenverfolgungen berüdhtigte-
Rußland und die atbeiftifche Tirchenfeindliche
Regierung Frankreichs unjere Feinde find.
Die Gefinnung der Katholifen kommt deutlich
in ihrer Prefje zum Ausdrud; nit bloß in
der deutſchen: in Italien ift nur die katholiſche
Brefie (wie intereffant, daß in dem ganz
Tatholiiden Zande die wirklichen Katholilen
eine ſchwache Minderheit ausmachen) ent-
ſchieden deutfchfreundlid. Und in Nr. 17
von Kauſens Rundſchau, von der mir zufällig
ein paar Nummern zugeben, wird über einen
berrlihen deutfchfreundlichen Bortrag berichtet,
den Georg Baumberger, Medalteur der
Tatholiihen Neuen Züriher Nachrichten in
Konſtanz gehalten babe. Rah dem alten
Grundfage Catholica non leguntur werde
in der deutſchen Prefle, die über Spitteler
lärme, von diefem Vortrage wenig gefprochen,
und werde Baumberger3 ſehr gut redigiertes
Blatt in Deutihland nirgends gelefen, während
man in allen Zeitungskiosls Süddeutſchlands
die Neue Züricher Zeitung finde, die alle
Zügen unferer Feinde ohne Redaktions-
bemerfung abdrude.
Aber auch an den Katholiken kann bie
Erfahrung nicht ſpurlos vorübergehen, daß
die fittliche Mberlegenheit Deutſchlands über
die Fatholiihen Franzoſen und Belgier ‚zu
einem guten Zeile der Gefundheit und Kern⸗
baftigfeit der proteftantiihen nordbeutfchen
Stämme und des Hohenzollernhaufes zu
danken, daß aljo, was übrigen® die Kölner
Richtung ſchon feit langem anerkennt, nicht
die Konfeflion fondern das allgemein Ehrift-
liche das Wefentlihe if. _ Das Vorurteil,
als ob katholiſche Orthodoxie die Bedingung
hriftlicher Lebensführung fei, wird gründlich
geritört, die deutichen Katholiken werden fich,
ohne auf die ihnen and Herz gewachſene
Kichenform zu verzichten, ihren proteftantifchen
Mitbürgern ftärler als bisher feelenverwandt
fühlen und die evangeliihe Konfeffion nicht
mehr als eine Härefie anſehen, fondern als
eine beredtigte Form des Chriſtentums
würdigen.
Unter dieſen Umijtänden haben jene
Katholiken, die für eine freiere Auffaffung
des Chriſtentums lämpfen, mehr Ausſicht auf
Erfolg ald bisher, und ihre Beftrebungen
zu fördern, liegt offenbar im vaterländifchen
Anterefie. In der oben genannten Zeitſchrift
haben fie fih ein Organ geichaffen, das die
Freunde der Grenzboten um fo lieber unter.
ftügen werden, da ihnen der Seraudgeber,
Dr. Philipp Funk, duch die Beiprechung
220
feines geifte und gemütvollen Buche „Bon
der Kirche des GBeiftes" im 8. Bande 1914
der Srenzboten Seite 20 als ein wirklicher
Geiftipender befannt if. Die Annäherung
der Konfeffionen wird er mit feiner Zeitfchrift
fiherlih fördern. Bei den Tatholifchen
Kirhenbehörden Bat er freilih auf Billigung
oder auch nur Duldung feiner Tätigfeit vor⸗
läufig nit zu rechnen. So erfreulich bie
politiihe Haltung Benedikis des Yünfzehnten
ift, im Innerkirchlichen ſcheint fih unter ihm
nichts ändern zu Wollen: wie Tatbolifche
Blätter melden, ift Funks wahrhaft dhrift-
liche, wahrhaft erbaulihe® Buch auf den
nder gejett worden, was übrigens infofern
von Vorteil ift, als es ihm in weiten Streifen
al® Empfehlung dient. Die liberalen
Katholiten werden ſich durch diefe Unfreund⸗
lichleit fo wenig abjchreden laſſen wie durch
alle früheren Verdammungen; wiſſen fie e®
do: die Regierung eines geiftlicden Welt⸗
reichs, das fo feit gefügt und von fo alten
und mädjtigen Traditionen gefefjelt ift wie
die Tatholifhe Kirche, Tann ihren Kurs nicht
im Handumdrehen ändern.
Dr. Earl Jentſch
Kleine Hauslomödien mit Mufil. An
Heft 9 der Grenzboten d. %. hat Dr. Eric
Fiſcher unfern Leſern von kleinen Haus
fomödien erzählt, die er gejchaffen hat, indem
er bergeflene Klänge unferer beiten Meifter
and Licht 309g, um fie zu Singipielen zu-
fammenzufügen. Inzwiſchen bat er vier
folde Tleine Hauskomödien zur Aufführung
gebracht: „Der Wäſchetag“ mit Mufif von
Albert Lorging, „Da Teebrett“ mit Mufif
bon Joſeph Haydn, „Das alte Lied“ mit
Mufit von Wolfgang Amadeus Mozart, und
„Die Überrafhung” mit Muſik von Johann
Maßgebliches und Unmaßgeblidhes
Sebaftian Bad. Damit werden uns Fiſchers
Beftrebungen erft ganz lebendig. Ein eigen-
artiger Zauber umfängt uns, wenn wohlver⸗
traute Stimmen in neuer Weife zu uns
fpreden, wenn wir zu Melodien Bade
fröhlich tanzen fehen oder wenn Vater Haydns
Geift berufen wird, um über dem Zwift eines
jungen Ehepaars zu ſchweben. Wenn Lorging
und Mozart zu barmlofer Froͤhlichkeit die
Klänge fügen, fo will un® dies ſchon eher in
den Sinn, aber auch bier gibt es über
raſchungen angenehmfter Art: ja, Mozarts
„Altes Lied” fchlägt und wohl am ftärfften
in feinen Bann.
Es iſt nit Brauch in den Grengboten
über da, was der Tag an mufilalifden
Genüflen bringt, zu berichten. Wenn heute
an diefer Stelle auf die Darbietungen
Fiſchers hingewieſen wird, fo geſchieht es,
weil es fih um ein Unternehmen handelt,
da8 neue Bahnen weift und einen gewiß
nicht unweſentlichen Teil unfrer Vollserziehung
in die Hand nimmt — die Pflege eines
geläuterten muſikaliſchen Geſchmacks. Wer
die Aufführungen beſucht, die in jeder Be⸗
ziehung von künſtleriſchem Geiſt getragen
werden, wird neben äſthetiſcher Freude reiche
Anregung für gute Hausmuſik ernten. Uns
aber ziemt es, unſerem verehrten Mitarbeiter,
Dr. Erich Fiſcher, ein glückliches Vorwärts⸗
ſchreiten auf einem Wege zu wünſchen, der
uns immer neue, herrliche Ausblicke zu ver⸗
heißen ſcheint.
Jeder, der Luſt und Begabung zum Singen
und Spielen beſitzt, wird bei den zunächſt
‚geplanten Aufführungen in Kriegslazaretten
zur Mitwirkung aufgefordert. Schriftliche
Auskunft erteilt Dr. Erich Fiſcher, en
Wilmersdorf, Mokftraße 51.
Be
— —
N 2 Br
Kriegstagebuch 221
Uriegstagebudh
1. Mai 1915. Der engliihe Xorpedobootszerjiörer „NRecruit“ bei
Galloper Feuerſchiff durch ein deutfches Unterjeeboot vernichtet, beim Roord-
Binder Feuerſchiff Gefecht zwiſchen zwei unferer Borpoftenboote und einer
Divifion engliſcher Berftörer, wobei unfere Boote verfentt wurben.
2. Mai 1915. Das englifhe Kanonenboot „Eolumbia” von einem
deutfhen linterfeeboot beim Noordhinder⸗Leuchtſchiff vernichtet.
2. Mat 1915. Bei der Verfolgung der auf Riga flüchtenden NMufien
weitere 1700 Mann gefangen, vier Geſchũtze, vier Maſchinengewehre erbeutet.
Südweitlih von Kalwarja ruffiihe Angriffe adgefchlagen, ebenfo nordöftlich
bon Stierniewice, 480 Mann gefangen.
2. Mai 1915. Die ganze ruſſiſche Front in Weftgalizien eingedrüdt
und an zahlreihen Stellen durdjftoßen. Die Trophäen des Sieges laflen
fih noch nicht annähernd überfehen.
2. Mai 1915. Der franzöfifhe Banzerfreuzer „Henry IV“ und der
engliihe Panzer „Vengeance“ vor den Darbdanellen von türlifhen Branaten
ftart beſchädigt, ein feindliche® Unterfeeboot vernichte. Für die ann
erfolgreihes Gefecht am Suegzlanal.
8. Mai 1915. In Flandern die Pläge Zevenkote, Zonnebele,
Wefthoel, der PBolygoneveldwald, Nonne Bosſchen genommen.
8. Mai 1915. Südlich Witau bisher 4000 Ruſſen gefangen.
Abgeſchlagene ruffifhe Angriffe füdweftlih von Kalwarja, ſüdöſtlich Auguſtow,
nordöftlid Lomza 600 Gefangene gemacht, zwei Majchinengewehre erbeutet.
8. Mai 1915. Die Beute des erſten Tages in Weſtgalizien beläuft
fih auf 21500 Gefangene, 16 Geſchütze, unüberfehbares Kriegsgerät jeder Art.
8. Mai 1915. Gefeht in der NRordfee zivilen einem deutfchen
Marineluftihiff und englifchen Unterfeebooten, wovon eins zum Sinken
gebracht wurde.
4. Mai 1915. Weitere Erfolge öftlih Ypern, die Fermen Vanheule,
Effterneft, Herenthager Schloßpar! und Het Pappotje genommen. Im
Briefterwald, nordiweitlihd von Pont⸗àa⸗Mouſſon einen ftarfen frangöfiichen
Angriff abgeihlagen, im Walde von Ally im Angriff 750 Franzoſen
gefangen.
4. Mai 1915. Ruſſiſche Angriffe bei Moffienie, bei Kalwarja,
Suwalli und öſtlich Auguftow abgewiefen, 500 Gefangene gemadit.
4. Mai 1915. In Weftgalizien die dritte ruffiihe Stellung an der
ganzen Front durchbrochen, der Feind auf die Wisloka zurüdgeworfen.
6. Mai 1915. Bei Ypern einige BHundert Gefangene und
15 Maſchinengewehre erbeutet. Bei Combres 150 Franzofen gefangen,
vier Mafchhinengewehre und einen Minenwerfer erbeutet. Am Aillywalde
den Feind aus feiner Stellung geworfen, mehr als 2000 Franzoſen,
darunter 21 Offiziere gefangen, zwei Gejhüge, mehrere Maſchinengewehre
und Mineniverfer erobert. Abgefchlagene franzöfiihe Angriffe nördlich Flirey
und bei Eroir de Carmes, fowie in den Bogejen nördlid Steinabrüd.
5. Mai 1915. Kämpfe ſüdweſtlich Mitau, ſüdlich Szadow und
öftlih Roſſienie, abgefhlagene ruffiihe Angriffe bei Kalwarja und an der
Pilica. Grodno mit Bomben belegt.
5. Mai 1915. An den Dardanellen ein englifches Bataillon ver⸗
nitet, die Türken erbeuten viele Gewehre und mehrere Majchinengewehre.
222
Kriegstagebud
5. Mai 1915. In Weftgaligien der Feind über die Wisloka ge
worfen, Dufla von uns bejegt, bisher über 50000 Gefangene gemadit.
6. Mai 1915. Die Kämpfe füdlih von Szadow und öſtlich von
Noffienie endeten mit einer großen Niederlage der Ruſſen, die 1500 Ge⸗
fangene verlieren.
6. Mai 1915. In Weftgaligien wird der Feind immer weiter nad)
Often gedrängt, Tarnow von den Verbündeten bejegt, auch bon der
SKarpathenfront ziehen ſich die Ruſſen ſchnell zurüd. In den Oſtkarpathen
heftige ruſſiſche Angriffe abgewieſen. |
7. Mai 1915. Der mit Munition beladene englifhe Riefendampfer
„Lufitania” don einem deutfchen Unterfeeboot an der irifhen Küfte bei
Kinfale torpediert und verfentt, 1400 Berjonen dabei ums Leben gelommen.
T. Mai 1915. Japan ftelt an Ehina zur Annahme feiner weit-
gehenden Yorderungen ein achtundvierzigſtündiges Ultimatum.
7. Mai 1915. Die italieniihde Kammer bis zum 20. Mai vertagt.
7. Mai 1915. Bor Zeebrügge bringen unfere Küftenbatterien den
englifhen Zerftörer „Maori” zum Sinten. Die Befagung ſowie Die Boots⸗
befagung des zur Hilfe geeilten „Erufader” werden gerettet — fieben
Dffiziere, 88 Mann — und gefangen genommen.
7. Mai 1915. Libau don unferen Truppen befegt, 1600 Gefangene
gemadt, zwölf Geſchütze, vier Maſchinengewehre erbeutet.
7. Mai 1915. In Weſtgalizien überfchreitet die Madenfenarmee
den Wislok, die Zahl der Gefangenen erhöhte fi auf 70000, die Zahl
der erbeuteten Geſchütze auf 88, darunter neun ſchwere. In Südoftgalizien
auf den Höben des Lomnicatales ſtarke ruſſiſche Angriffe abgewiejen.
8. Mai 1915. Bei Ypern die Engländer aus den ſtark befeftigten
Stellungen zwiſchen den Straßen Yortuin--Wieltjie und Gheluvelt— Ypern
geworfen, 800 Mann gefangen. Abgeſchlagene franzöfifche Angriffe nord»
öftlih der Lorettohöhe und weftlich Perthes.
8. Mai 1915. Rordöfili von Kowno die Bahnlinie Wilna —Szawle
gründlich zerftört, ein ruſſiſches Bataillon vernichtet, ruſſiſche Angriffe an
der Pilica abgewiefen.
8. Mai 1915. In Wefigaligien überfchreiten die Verbündeten die
Linie Uzſoker⸗Paß — Komancza — Krosno — Debica— Szezucin. In Oftgalizien
erobern die Oſterreicher den ſtarkbefeſtigten Brüdenlopf Zaleszezyli und
nehmen 8500 Ruſſen gefangen.
8. Mai 1915. Kaifer Wilhelm trifft auf dem Galiziſchen Kriegs⸗
fhauplag ein und wohnt einem Gefecht der 1. Sarde-Dipifion bei.
9. Mai 1915. China nimmt Japans legte Vorſchläge an.
’ 9. Mai 1915. In den Dünen bei NRieuport mehrere feindliche
Gräben und Mafchinengewehre erobert. Bei Verlorenhoel 162 Engländer
gefangen. Südweltlih Lille großer franzöſiſch⸗engliſcher Angriff, der bis
auf einen Xeilerfolg der Feinde bei Carency überall abgewielen wird,
eiwa 800 Gefangene gemadit. — Southend an der Themjemündung durd
Luftſchiff bombardiert.
9. Mai 1915. Bei den Berfolgungslämpfen in WVeftgalizien machte
die Heeredgruppe Madenfen feit dem 2. Mai allein über 80000 Gefangene.
10. Mai 1915. In Weftgalizien die neuen ruffiihen Linien bei
Besko und zwiſchen Brzozow und Lutoza durchbrochen. — Die Auflen
räumen die NRidafront. — In Südoſtgalizien ſtarke ruffifhe Angriffe ab»
geſchlagen.
Kriegstagebud;
10. Mai 1914. Oſtlich Ypern fünf Mafchinengeivehre erbeutet.
Südweltlih Lille franzöfiihe Angriffe abgeſchlagen. Nordweſtlich Berry⸗
aus Bac feindlihe, aus zwei hintereinanderliegenden Linien beftehende
Stellung im Sturm genommen, zwei Minenwerfer mit viel Munition er«
beutet. Feindliche Angriffe nördlid Ylirey und im Priefterwald fcheiterten.
10. Mai 1915. Unſere Unterfeeboote verfentten in acht Tagen (dom
28. April bis 5. Mai) 32 feindlihe Schiffe.
11. Mai 1915. Oſtlich Ypern eine wichtige Höhe genommen.
Südweftlih Lille ale franzöfiiden Angriffe abgewiefen, ebenfo ein folder
auf den Hartmannsweilerkopf.
11. Mat 1915. An der Bzura ein ruffilhes Bataillon vernichtet.
11. Mat 1915. In Weitgaligien den San zwiſchen Sanok und
Dynow überſchritten. Fortdauernde Steigerung der Kriegsbeute; ein
Bataillon des 4. Garde⸗Regiments 3. F. nahm allein 4500 Ruſſen gefangen
und erbeutete vier Gefhüge und anderes Material.
11. Mai 1915. Giegreihed Gefecht des „Sultan Jawus Selim”
gegen die ruſſiſche Schwargmeerflotte. die fih auf Sebaftopol zurüdzieht.
12. Mai 1915. Starke franzöfifche Angriffe zwiſchen Ablain — Neuville
abgeſchlagen; Carench und der Weſtteil von Ablain von und geräumt.
Heftige Kämpfe bei Erore des Carmes, die zu unjeren Gunſten endeten.
12. Mai 1915. In Veftgalizien die Linie San⸗Vancut — Kolbuczowa
erreicht. Nördlih der Weichſel Kielce befegt. In den Karpathen nahmen
die Verbündeten die Höhen öftlih des Stryj, wobei 8660 Ruſſen gefangen
wurden und ſechs Maſchinengewehre erbeutet. Die Siegesbeute aus der
Schlacht bei Gorlice und Tarnow beträgt bisher annähernd 103 600 Ge⸗
fangene, 69 Gefhüte und 255 Mafchinengewehre, außerdem wurden in den
Karpathen und nördlid der Weichfel weit Über 40000 Ruſſen gefangen.
12. Mai 1915. Daß engliihe Linienſchiff Goliath/ von den
Türken vor den Dardanellen vernichtet.
13. Mai 1915. Das italieniihe Kabinett unter Salandra tritt zurüd.
18. Mai 1915. Starte engliihe Angriffe vor Ypern abgeſchlagen,
ebenfo franzöfifhe Angriffe füdweltlich Lille, nordiweitlih Berry-au-Bac und
im Priefterwald.
18. Mai 1915. Weſtlich Prafanyfa Heftige ruffifhe Angriffe ab»
geihlagen, 120 Gefangene gemadt.
18. Mai 1915. Wüſte Ausfchreitungen des engliihen Pöbels gegen
Deuftſche in Liverpool, London, in Südafrika, in Auftralien. Ale männlichen
Deutſchen werden interniert.
18. Mai 1915. Windhuk von den Unionstruppen ohne Kampf befegt.
14. Mat 1915. Bei Ypern erhöht fi die Zahl der Gefangenen
feit 22. April auf 110 Offiziere, 65450 Mann. Einen Angriff nördlich der
Korettohöhe abgewiefen. Südlih von Ailly einige feindliche Gräben ge
nommen, ebenfo im Priejterwalde, über 200 Gefangene gemadt.
14. Mat 1915. Der Vormarſch ſtarker ruffiiher Kräfte bei Szawle
ft zum Stehen gebradt, nad einem vorübergehenden Tleinen Erfolg
des Feindes, der uns drei Geſchütze Toftete. Bei Kalwarja und Auguſtow
fowie an der unteren Dubiffa feindliche Angriffe abgeſchlagen.
14. Mai 1915. In Weltgalizien der Brüdentopf von Jaroslau im
Sturm genommen, Rudnil, Lezajat, Dobromil, Stary Sambor und Boryslaw
von den Verbündeten befegt. — Nördlih Kolomea ruffiide Sturmangriffe
aurüdgeihlagen.
228
224 Kriegstagebudh
.15. Mai 1915. Angriffe ſchwarzer Truppen noͤrdlich Ypern ab»
geihlagen, ebenfo englifhe Angriffe. ſüdweſtlich von Lille und franzöftiche
an der Xorettoböbe, bei Souchez und bei Neuville. Weſtlich der Argonnen
einen ftarten franzöſiſchen Stügpunft erobert.
15. Mai 1915. Bei Szawle ruſſiſcher Angriff abgewieſen,
1500 Gefangene gemadt. An der Dubiſſa vor ſtarken feindlichen Kräften
ausgewichen, zwei Geſchütze dabei verloren. Bei Auguftow und am
Omulew 245 Gefangene gemadt.
15. Mai 1915. In den Waldkarpathen eine ftarfe ruſſiſche Nachhut
zeriprengt, fieben Geſchũtze, elf Mafchinengewehre erobert, 1000 Gefangene
gemacht.
15. Mai 1916. Der König Viktor Emanuel nimmt das Rücktritts⸗
geſuch des Kabinettd Salandra nit an.
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nicht verbürgt werben kann.
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Deutfchlands Anteil am Suezfanal
Don Dr. Walther Janell
„Maxjimi semper in rebus humanis momenti Aegyptus fuit.“
Leibniz
rs FA —— eit Kriegsausbruch ſcheinen die „Intellektuellen“ des Dreiverbandes
VI / vor Wut faft alle den Kopf verloren zu haben, wie ihre Urteile
| —* über die hervorragendſten Deutſchen glauben laſſen: Schillers
VO 2 Afthetit erfcheint ihnen kindiſch, Beethoven verdient Mitleid, und
— Goethe ift ihnen „ein mittelmäßiger Beamter von mäßiger Be-
gabung“. Dabei hätten wenigftens die Engländer allen Grund, Goethe dankbar
zu fein und feine vorausſchauende Weisheit aufs höchſte zu preifen. Sit er
doch der erſte Deutjche gewefen, der England im Befig eines Suezlanals zu
jeden gewünſcht hat, nachdem der große Leibniz bereit$ 1671 diefe Stellung
den Franzofen zugedacht hatte. Am 21. Februar 1827 äußerte Goethe zu
Edermann: „Dieſes (daS heißt einen Kanal zwiſchen dem Atlantifchen und
dem Stillen Ozean) möchte ich erleben; aber ich werde e8 nicht. Zweitens
möchte ich erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein bergeftellt zu
jehen. Aber dieſes Unternehmen ift gleichfalls fo riefenhaft, daß ich an der
Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unferer deutſchen Mittel. Und endlich
drittens mödte ich die Engländer im Beſitz eines Kanal von Suez jehen.
Diefe drei großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl der Mühe
wert, ihnen zuliebe noch einige fünfzig Jahre auszuhalten.“ Goethes Wunfch
ift in Erfüllung gegangen: genau neunumdvierzig Jahre nad) jener Äußerung,
am 21. Februar 1876, begründete der engliihe Minifter Disraeli im Unter-
hauſe, warum er den Anlauf eines gewaltigen Altienpoftens der Suezkanal⸗
gejellichaft hatte durchführen lafjen*). |
*) Vergleiche Hier und fonft den Auffag „Das Eindringen Englands in Agypten“ (Grenz
boten 1915) und R. Hennig „Der Kampf um den Suezlanal” (Der deutſche Krieg, Heft 35),
Grenzboten Il 1915 15
”
.
226 Deutfchlands Anteil am Suezkanal
Bom bamaligen deutſchen Standpunkt war Goethes Wunſch eigentlich
nicht unberedtigt; denn wer hätte in Deutſchland damals an die Möglichkeit
denken dürfen, deutſche Seemacht und Seegeltung verwirklicht zu jehen! Daß
wir heute, ein Weltreih und ein. Welthandelsvoll geworden, die Engländer
gern am Suez fehen, dürfte niemand behaupten, daß wir oder vielmehr unfere
türliſchen Bundesgenoffen, unterftügt von deutſchen Dffizieren*), die ftärkften
Anftrenzungen machen werden, den Kanal England zu entreiken und biejem
dadurch die Herrichaft über Ägypten ftreitig zu machen, das erfcheint heute
jedem verftändlich, der die Bedeutung dieſer Verbindung zwifchen den Meeren
des Nordens und bes Südens fieht. Bon den geograpbifhen Berhältnifien
- fagt Philippfon in feinem Haffiihden Werke „Das Mittelmeergebiet” :
„Unmittelbar öftlih (von Unterägypten) folgt der Iſthmus von Suez, wo
fih dem Mittelmeer bis auf 120 Kilometer Abftand das Note Meer nähert.
Ein tiefer, fehr junger (erft am Ende des Pliocän entitandener) Grabenbrud),
der fi nordwärts in zwei Zipfel teilt, welche die alte Friftalline Maſſe der
Sinaihalbinfel umfaflen, auf beiden Seiten von den hoben, alten Horftgebirgen
Dftägyptens und Weftarabiens begrenzt, tft da8 Note Meer feiner Temperatur
und feiner organifhen Welt nad ein Glied des Indiſchen Dzeans, ein echt
tropifches Meer, während das Mittelmeer bis in feine öſtlichen Teile hinein ſich
als Golf des fubtropifchen Atlantifhen Dzeans zu erfennen gibt. Obwohl der
Iſthmus von Suez fi nur bis zu 16 Meter erhebt, hat doch bier nur ganz
furze Zeit, im älteren Duartär, eine Verbindung beider Meere beftanden . .. .
Eine Naturgrenze zwifchen beiden Ländern (Ägypten und Syrien) bildet ber
Iſthmus nit. Durch die Windverhältniffe wird die Bedeutung des Roten
‚Meeres für die Segelſchiffahrt ſehr herabgeſetzt. AInfolgedefien bat der Verkehr
von Dftafrifa und Südarabien nah dem Mittelmeer, für den das Note Meer
die gegebene Straße zu fein feheint, meift vorgezogen, in Oberägypten zu Lande
den Nil aufzufuchen und diefem ftromab zu folgen, während der indiſche Ver-
kehr meift öftlidere Wege aufſuchte. So Hat der Iſthmus von Suez feine
hervorragende Rolle in dem Verkehr vom Mittelmeer zum Indiſchen Dean
gefpielt, eine größere als Landſtraße zwiſchen Ägypten und Borberafien. Die
Umfegelung Aftifas durch Vasco de Gama (1497/98) bedeutete alfo nicht nur
die Dermeidung des furzen Landweges über den Iſthmus, fondern eines langen
Landtransportes der indiſchen Waren durch Vorderaflen oder die oberägyptifche
Müfte. Das wurde völlig anders durch die Dampffhiffahrt, der das Note
Meer kein Hindernis mehr bot; der fi) nun bier fchnell entwidelnde große
Verkehr führte zum Bau des Suezlanals, und ſeitdem ift die Rote-Meer-Linie
eine der bervorragenditen Straßen des Weltverlehrd geworden. .. . Der bei
*) In der Türglich veröffentlichten Verluftlifte Ar. 1 der in türkiſchen Dienften gefallenen
preußiſchen Offiziere a. D. lieft man: Hauptmann a.D. ...., jetzt kaiſerlich Ottomanifcher
Major, Tommandiert zum Stabe eined® Armeelorps, gefallen auf der Sinaibalbinfel
Februar 1915. ⸗
Deutfhlands Anteil am Suezkanal 227
weitem größte Teil des Verkehrs vom Indiſchen und Großen Dzean nad
Europa — der bedeutendfte Warenſtrom der Erde überhaupt nächft dem zwiſchen
Amerila und Europa — führt vom Suezlanal, wie gefagt, durch das Mittel-
meer bireft nad) Wefteuropa oder Südeuropa. . . .“
Trotzdem das Note Meer der Segelichiffahrt große Hinderniffe entgegen-
ftellte, hat die nur ſchmale Landenge von Suez fon in uralter Zeit den
Wunſch erwedt, eine Waflerverbindung berzuitellen, jeboch nicht durch unmittel-
bare nord-füdlide Verbindung der beiden Meere, wie fie. der jebige Kanal
bedeutet, jondern unter Benutzung des Nils. Nach der Darftellung griechiicher
Hiſtoriler und Geographen wurde diefer Schiffahrtsweg, bereits unter Ramſes
dem Zweiten (um 1300 v. Chr.) begonnen, bei Bubaſtis (norböftlih von Katro)
vom Nil abgezweigt „und ging durch das Wadi QTumilät, einen tiefen Ein-
ſchnitt in das Wüftenplateau, zum Bitterfee auf dem Iſthmus von Suez und
von bier zur Nordipite des Noten Meeres“). Fortieber des Werles waren
Necho, König von Ägypten, und vor allem der Berfer Darius. Diefer ver-
Tündet auf einer am Suezlanal gefundenen Infchrift”"): „Es ſpricht der König
Darius: Ich bin Perfer. Bon Perfien aus eroberte ich Ägypten. Ich befahl
diefen Kanal zu graben von dem Strome namens Mil, der in Ägypten fließt,
nad dem Meere, das von Perfien ausgeht. Es wurde diefer Kanal gegraben
fo, wie ich befohlen Hatte, und Schiffe fuhren von Ägypten durch diefen Kanal
nah Perfien fo, wie es mein Wille war.” Ob der Durchſtich wirklich ganz
ausgeführt war, gebt aus den Worten des Königs nicht klar hervor, da es
denfbar ift, daß man die Schiffe eine kurze Strede über Land gezogen bat.
Darauf deutet die Angabe eines antilen Geographen bin, der Kanal fei auch von
Darius nicht vollendet worden, da feine Ingenieure eine Niveaubdifferenz zwiſchen
Rotem und Mittelmeer angenommen und befürchtet hätten, das Wafler des
Noten Meeres werde Ägypten überſchwemmen. Erft die Ptolemäer follen dann
den Durchſtich ausgeführt und durch Schleufen jene (übrigens nur vermeint-
lihe) Gefahr vermieden haben; dieſe SciffahrtSverbinhung erhielt baber
den Namen Btolemäuslanal. Seine Schidjale in fpäteren Jahrhunderten
waren ziemlich bewegte, bis er am Ende des achten nachchriſtlichen Jahr⸗
hundertS von den Arabern aus militärifh- ftrategifden Gründen zugeſchüttet
wurde. Ä
Neunhundert Jahre hat es bedurft, biß der Gedanle eines Kanals wieder
auftauchte. Beſonderes Verdienft erwarb ſich in diefer Frage Leibniz, der in
einer ausführliden, wohlbegründeten Denkichrift „De expeditione Aegyptiaca
Ludovico XIV regi Franciae proponenda“ varlegte, der Herr Ägyptens
fönne fi die Menichheit verpflichten, wenn er das Note Meer durch einen
*) Dies alte Kanalbett benugte man bei dem Bau des jetzigen teilweije für den Süß»
waſſerkanal, der den Seelanal begleitet.
”*) Bergleihe F. H. Weißbach in der Vorderaſiatiſchen Bibliothek“, Band IIl.
15*
228 Deutfchlands ‚Anteil am Suezfanal
Kanal mit dem Nil oder dem Mittelmeer verbinde, mobei er übrigens die
Niveaudifferenz in das Reich der Fabel verwies”).
Die Vorſchläge von Leibniz find damals nicht verwirklicht worden, und
auch Napoleon der Erfte, der einhundertundzwanzig Jahre fpäter, unzweifelhaft
durch die Denkſchrift des großen Philofophen beeinflußt”*), auf feiner ägyptifchen
Expedition den großartigen Gedanlen wieder aufnehmen ließ, hat ihn noch nicht
durchführen können, das war erft ber zweiten Hälfte des neungehnten Jahr⸗
hunderts beſchieden.
Im Herbſt 1833***) kam ein Franzoſe namens Enfantin mit einer Schar
von Jüngern nad) Ägypten, alle voll von begeiſtertem Eifer für den Bau eines
Kanals zwiſchem Rotem und Mittelmeer. Mußte Enfantin au 1837 unver-
richteter Sache heimlehren, jo hatte er doch gründliche Studien an Dirt und
Stelle machen können, die ihn befähigten, feinen alten, wohldurchdachten Plan
fpäter wieder ans Licht zu ziehen und angefehene, einflußreiche Männer in
Frankreich, Sachſen, Äſterreich, mo auch Metternich fi für die Angelegenheit
intereffierte, und England für ihn zu gewinnen. Bereits 1845 darf er in feinen
„Notes sur Suez et noms des hommes qui ont travaill& à la pr¶tion
de l’auvre“ ausfpreden: „Il nous reste & faire une societe industrielle,
ce que la diplomatie tenterait en vain sans nous; il nous reste à tracer
sur le globe m&me le signe de la paix et à vrai dire, le trait d’union
entre les deux parties du vieux monde, entre l’Orient et l’Occident; non
point un chemin, un canal — ce serait trop peu pour un tel signe, mais.
une mer nouvelle* (U.®.6&. Pr. 1). Ein Werl des Friedens jollte in dem
Kanal entftehen, ein Werk des gejamten Europad. „The construction of the
Suez Canal, in the way we proposed it, as an European work, would
maintain Burope in its present commercial position, giving the same
time a proof that the European nations are aware of the solidarity
existing between them for the maintenance of their reciprocal position
and of their legitimate influence in the general system of European.
politics, trade and civilization“, fo ſchreibt der Leipziger Bankier Dufour-
Feronce, einer der tätigften und Harblidendften Förderer des Kanalplans, an
einen engliſchen Interefjenten (U. G. ©. Nr. 61). Bon befonderer Bedeutung
aber mußte der Kanal für den europäifchen Kontinent werden. „Den Häfen des-
Adriatifchen und Mittelmeeres,“ fo erflärt wieder Dufour-Yeronce (U. G. ©. Nr.3),
*) Vergleiche Leibniz, Werke, heraudgegeben von Onno Klopp, Band I (Hannover 1864)
Geite 107.
**) Klopp (in feiner Ausgabe) beftreitet die; aber die Belanntihaft Rapoleons mit.
jenem Plan wird ſchon durd fein Leibniz⸗Zitat: „Agypten ift das wichtigfte Land ber Erbe“
wahrſcheinlich gemadt.
***) Quellen für die folgenden Angaben bilden die Werke: „Urkunden zur Geſchichte des
Suezkanals“ von Georgi⸗Dufour, 1918 (zitiert als U. G. ©.) und „Die Geſchichte des Suez⸗
lanals“, herausgegeben von der Schriftleitung der Rundſchau für Technik und Wirtihaft”, 1912.
Deutfhlands Anteil am Suezfanal 229
„würde dadurch der Handel mit dem Drient und China für das gange fefte
Land von Europa direlt zufließen. Unſere Fabrifen würden die Urftoffe des
Orients nit mehr auf einem ungeheuren Ummege über England beziehen;
bie deutihe Schiffahrt würde die Bedüirfniffe des Gefamtoaterlandes in eigenen
Schiffen herbeiführen.“ Und der Bau des Kanals erfchien feinen Betreibern
um jo notwendiger und dringlicher, als Damals die Gefahr beitand, daß Amerika
den PBanamalanal bauen werde, und Europa ſich nicht verhehlen durfte, daß
diefer Kanal, „ohne den Durchſtich von Suez vollendet, den Mittelpunkt des
Welthandel von Europa nad) Amerika verfeten müßte“ (U. G. 5. Nr. 68); der
Suegzlanal jei aljo eine enropätfche Rotwendigleit, heißt e8 in einer Darlegung
der Firma Dufonr u. Co. an das königlich ſächſiſche Miniſterium des Innern
(U. ©. ©. Nr. 66). Nun kam es vor allem auf die Haltung Frankreichs und
Englands an: Englands Politik bezüglich Ägyptens vertrat den Gefichtspuntt, man
dürfe auf dem Wege nad Indien feine Macht auflommen laflen, die ihm da
entgegentreten Tönne; Frankreich, das einft die Hoffnung gehegt, durch Mehemed
Ali ein neues iSlamifches Reich in Ägypten und Syrien unter feinem: Proteltorat
entfteben zu ſehen, das aber 1840 dem Bierbunde gegenüber hatte nachgeben
müffen, fuchte, feit 1847 immer mehr Herr in Algier geworden, den damals
verlorenen Einfluß wiederzugewinnen und wünjchte Tängjt die Errichtung eines
jeibft für größere Dftindienfahrer fchiffbaren Kanals. Während alſo bie
Franzoſen das Kanalprojelt unterftügten, wollte England ſich höchitens zu einer
Eifenbahnverbindung über den Iſthmus von Suez verjtehen, um fein Schiffahrts⸗
monopol auf dem Atlantifden und Indiſchen Dzean nicht aufgeben zu müſſen.
Um fo Iebhaftere Unterftügung fanden die Kanalpläne in Sachſen, Dfterreich
und anderen deutſchen Staaten. Zu ihren eifrigften Verfechtern gehörte ber
bereits genannte Bankier Dufour, der bereit8 1845 verfiherte (U. ©. ©. Nr. 2):
„Daß der Kanal gemadt wird, ift jegt faum mehr zu bezweifeln, aber wir in
Deutichland müfjen uns rühren, daß er nicht ohne uns und zu unferem
Nachteil gemacht werde, während er uns unendlich nügen muß, wenn wir
bei deſſen Benugung allen anderen gleich ftehenl” Die Angelegenheit
müfje mit dem Charakter einer kaufmänniſchen Spekulation aus der Mitte
Deutſchlands auftauchen und eine Gefellihaft Deutſcher Kapitaliften die Aus⸗
führung übernehmen. Und ein Mitglied des fächfiihen Landtages, Abgeordneter
Georgi, führte dort am 9. Juni 1846 unter anderem aus: „Es tft ‚nicht zu
bezweifeln, daß, wenn diefes Unternehmen ſich realifieren ließe, für Deutſchland
ein ganz eminenter Nuten daraus bervorgehen würde. Deutſchland würde
dadurch dem füböftlichen Afien nähbergerüdt werden, die Handelsitraße von
England und ſelbſt wohl zum Zeil von den Vereinigten Staaten von Nord«
amerifa nad Aften würde über Deutſchland gehen, und es ließe ſich wohl
denten, daß ein Teil des Handelsflors, deſſen fi im Mittelalter bie italienifchen
und mitteldeutſchen Städte wie Augsburg, Nürnberg und andere in jo hohem
Grade dur den Verkehr des oftindifchen Handels über Ägypten erfreuten,
280 Deutfchlands Anteil am Sueztanal
durch Kanalifierung der Landenge von Suez für Deutfchland wieder hervorgehen
könnte“ (U. ©. ©. Nr. 6). Die Berechtigung diefer Anſchauungen erfannte man
auch an den amtliden Stellen, und im Januar 1847 wurde dem in Sadjien
gebildeten „Somit& zur Herftellung der Vorarbeiten für den Canal von Suez“
ein Vorſchuß von 25000 Franken bewilligt. In Vfterreich war man ebenfalls
ſehr rührig: das Beſte für den Kanal hat hier geleiftet ber Ingenieur, fpäter
Ehefingenieur der öſterreichiſchen Eifenbahnen, Negrelli: Dufours Korrefpondenz
mit ihm bezeugt «8.
Negrelli legte 1846 in einem Beriht an feinen Borgefebten, Hofe
fammerpräfidenten von Kübel, dar, welde Wichtigleit das Unternehmen zu
allernächft für Lfterreih habe: „Am Tage, wo der Kanal eröffnet würde,
bätte die Entdedung Vascos da Gama ihre große Bedeutung eingebüßt,
und Benedigg Größe nebft dem Flor ihrer neuen Schweiter an Adriens
Geftade würde von demſelben Zage an wieder aufblühben, und der Segen
des Handels würde erft durch Üfterreih, Italien, Tirol, Kärnten und
Krain, kurz durch das weite Gebiet Sfterreichd zu dem Nachbarlande ge
langen” (U. ©. S. Nr. 7). Auch außerhalb der ſchwarz⸗gelben Pfähle fah man
Oſterreichs Mitwirkung als entſcheidend an: „Jedenfalls müflen,“ fchreibt Dufour
1850 aus Lyon, „die erften Schritte von OÖſterreich kommen; England wird fie
nit tun, und Frankreich wird alles verderben, wenn e8 an die Spitze treten
wollte. Der Dfterreichifche Lloyd muß fidh recht feit in den Sattel fegen, um
fih in feiner Dampfſchiffahrt im Orient zu behaupten; denn wie ich bier
vernehme, foll in Marfeille in der nächften Zeit eine ſehr mächtige Dampfſchiff⸗
Compagnie bergeftellt werben, deren Zwed ift, allen orientaliiden Verkehr von
Trieft ab nad) Marfeille abzuleiten“ (1. G. S. Nr. 62). In der Tat war
bereit8 1847 außer ber Handelsfammer in Trieft auch der OÄſterreichiſche Lloyd
dem deutſchen Zweigverein des Suezkanal⸗Comités beigetreten, und man hoffte,
biefer Gruppe ein fo bedeutendes Gewicht in den künftigen Beratungen zu
verſchaffen, daß einft Trieft der Sit der Kanalgeſellſchaft werden würde.
Preußen aber, zu defien Vertreter Alerander von Humboldt ‘auserfehen war,
blieb in dem Ausſchuß unvertreten, da Humboldt Dufour mitgeteilt hatte, daß
Gründe vorwalteten, welche feinen Beitritt nicht geftatteten (U. &. S. Nr. 15).
Die Gründung der „Societe d’etudes du Canal de Suez“ oder des
„Comité zur Betreibung der Vorarbeiten für den Kanal von Suez“ war
inzwifchen erfolgt in einer Sigung vom 30. November 1846 in Paris: bie
Geſellſchaft beftand aus drei Gruppen (jede von zehn Mitgliedern aus ben
meiftbeteiligten Nationen), einer deutſchen Gruppe mit Negrelli als Ingenieur,
einer engliiden mit Robert Stephenfon als ingenieur, einer franzöfifchen
Gruppe mit Paulin Zalabot als Ingenieur. Da die leitenden Ingenieure ihre
unentgeltliche Mitwirkung verſprochen hatten, fo glaubte man die Borarbeiten
mit 150000 Franken finanzieren zu können. Die deutſche Gruppe, die aus
folgenden zehn Mitgliedern und Körperſchaften beitand:
Dentfchlands Anteil am Snezfanal 231
Oſterreichiſcher Lloyd in Trieft
Handelskammer in Zrieft
Stadtrat in Trieft
. Diterreichifeher Gewerbe-Berein in Wien
. Sandelstammer in Venedig
Neg. Rat Thiriot in Dresden
N. Georgi in Mylau
Suftav Harlort in Leipzig
2. Sellier in Leipzig
10. 4. Dufour-Feronce in Leipgig —
war am tätigften, wobel ihren Mitgliedern die Fähigleit zu Hilfe kam, fi „mit
volllommener Entänßerung einer nationalen Parteifärbung auf den Standpunlt
des Kosmopolitismus zu erheben“ (U. G. S. Nr. 49); fie entfandte bereits im
März 1847 eine Ingenteurbrigade für die techniſchen Vorarbeiten nad) Ägypten
und leiftete Die notwendigen Zahlungen pünftlic).
An Ägypten galt es zumächft das Mißtrauen des Vigelönigs zu aberwinden,
der den Kanal ſelber bauen wollte, ſchließlich aber doch die Genehmigung für die Vor⸗
ſtudien erteilte. Dieſe Erlaubnis erreichten die deutſchen Ingenieure um ſo eher, als
dem Bizelönig bekannt fein mußte, „Daß außereuropäiſche Gebietserweiterungen nie
in den Abfichten deutſcher Staaten lagen, und je mehr der Paſcha in einer Annäherung
an die deutfhen Großmächte eine moralifche Verftärfung feiner Stellung den
ihn im Dſten und Weiten bebrobenden Gebietsnachbarn gegenüber erbliden
müßte" (U. G. S. Nr. 7). Die deutiche Brigade hatte „die nördliche Küfte der
Zandenge aufzunehmen und bie Tiefen des Mittelländiichen ‘Meeres bei Tineh
zu fondieren, um den paffendften Bunt für die Ausmündung des Kanals zu
ermitteln und den Plan zu einem die Ein- und Ausfahrt des Kanals zu jeder Zeit
fihernden Hafen zu entwerfen” (U. ©. S. Nr. 16). Der Leiter diefer Arbeiten, In⸗
genteur Jaßnueger, ſchildert in ſehr interefjanten, anſchaulichen Berichten an Negrelli
feine Tätigkeit (U. G. ©. Nr. 29 bis 33). Diefer konnte aber aus den Feft-
ftellungen feiner Brigade und den dur Stepbenfon aus den Archiven ber
englifhen Abmiralität befdhafften Karten die Gleichheit des Waflerftandes in
beiden Meeren berechnen und erwarb fi fo das Verdienft, jenen uralten Wahn
der Niveaudifferenz, an die er vorher noch felber geglaubt hatte, endgültig zer-
ftört zu haben; von da an vertrat er als erfter den Gedanken, man müſſe
den Kanal ohne Schleufen und mit der fürzeften Linienführung bauen.
Worin beftanden num die Aufgaben der beiden anderen Gruppen ? Die englifche
foüte unter Stepbenfons Leitung „diefelben Arbeiten im Noten Meere bewirken,
welche Negrelli im Mittelländifhen ausführen Tieß,“ die franzöſiſche unter
Talabot „die früher während der franzöfiichen Beſetzung auf Befehl des Generals
Bonaparte bergeftellten und fpäter dur ägyptiſche Ingenieure ergänzten
Nivellements von Suez am Roten bis Tineh am Mittelländifchen Meere prüfen
und nad Befinden vervollftändigen, ſowie die zu Herſtellung gründlicher Anſchläge
KÄLTE ARE
232 Deuffchlands Anteil am Stiezkandl
erforderlichen Bodenfondierungen bewerlitelligen” (U. ©, ©. Nr. 16). Während
diefe Gruppe unter Leitung des Ingenieurs Bonrdaloue ihrer Aufgabe durchaus
geredit wurde — „Bourdaloue feheint die Sache fehr gründlich zu betreiben,
aber ſehr langſam und fehr Loftfpielig,“ urteilt Dufour im November 1847
(U. G. S. Nr. 41) —, trat die Lauheit Stephenfons, der mehr für feine Eifen-
babhnpläne Intereſſe hatte, deutlich hervor, und ſchließlich taten die Engländer
nichts. Überdies brachten die ungünftigen politifcden ımd finanziellen Zuftände
der Jahre nad) 1847 die Arbeiten zum Stillitand, und es unterblieb auch die
geplante Fahrt der drei Oberingenienre, die vorhatten, ſich im Oltober 1848
„gemeinſchaftlich nach Ägypten ‘zu begeben, bie. Landenge zu bereifen und
gemeinfhaftlid mit Herrn Linant (Bey, erftem ingenieur der ägyptiſchen
Negierung) . . . die Richtung, welche dem Kanal zu geben fein wird, nad)
perlönliher Prüfung zu beftimmen, die Detailpläne und Anjchläge aufftellen zu
laſſen und fo dem Verein die Arbeiten vorzulegen, welche der Ausführung des
Werkes zu Grunde gelegt werden können“ (U. &. ©. Ar. 16). Doc nupten
Dufour und feine Freunde unermüdlich die Zeit zur Gewinnung neuer Ditglieder
der Societe d’etudes, die freilich zu einer „Societe d’ex&cution“ ſich ver.
wandeln zu ſehen felbit der optimiftifche Dufour damals nicht zu hoffen wagte.
Auf eine für die Mitglieder der „Studiengeſellſchaft“ verhängnisvolle Bahn
geriet nun aber die Angelegenheit durch Ferdinand von Leſſeps. Dieſer, in
ben dreißiger Jahren als franzöfiicher Vizekonſul in Katro ohne jedes Intereſſe
an den Plänen Enfantins, traf „auf der Sude nah Beichäftigung und
Berdienft“ 1854 mit biefem zufammen, erichien ihm wie anderen als Dukel
der Kaiſerin Eugenie von Frankreich wertvoll und wurde auf Betreiben von
Arlas, Vetter Dufours, und Enfantin nad) Ägypten entſandt, weil fie bei ber
Thronbefteigung Said Paſchas (1854), mit welchem Leſſeps in Paris fehr
befreundet gemwefen war, vorausfekten, e8 werde gelingen, die Konzeifion
für Erbauung des Kanals von diefem neuen Paſcha zu erlangen. „Dies ift
geglüdt, und die Bunktation zu den Bedingungen tft allerdings ſehr günftig,“
wie Dufour 1855 fchreibt (U. ©. ©. Nr. 79). |
Tatſächlich war es Leffeps gelungen, eine (vorläufige) Vollmacht zu erlangen,
„pour constituer et diriger la Compagnie universelle du canal maritime de
Suez“ (U. ©. ©. Nr. 72), allerdings auf ihn perfönlich Tautend. Den vorfichtigen
und gewiegten Bankier Dufour machte das mißtrauiſch, und er hätte gern
„die an Leſſeps gegebene Konzeſſion an die drei Monarchen Königin Pictoria,
Kaifer Franz Joſeph und Napoleon dem Dritten gemeinfchaftlih abgetreten“
gejehen (U. G. S. Nr. 79), aber er ließ fi damit beruhigen, daß man im
Drient immer mit einem Individuum verhandeln wolle und einer nad) dortigen
Begriffen nicht zu fallenden Geſellſchaft nie eine Konzeſſion erteilt haben
würde. Das ſchien alfo ein bedeutfamer Schritt vorwärts, und Negrelli
äußerte fi fehr erfreut über „le grand &venement de la concession à
notre ami et associe, M. Ferdinand de Lesseps.“ Aber diefer Associe
Deutſchlands Anteil am Suezkanal .233
täujchte das Vertrauen, das man in ihn feßte, und fuchte nur feine perfönlichen
Zwede und die Befriedigung feines Ehrgeizes, der ihn trieb, als der Urheber
eined jo gewaltigen Werkes in den Augen der Nachwelt zu erfcheinen und —
zugleich ein glänzendes Gefchäft zu. machen. Sole Erwägungen veranlakten
ihn, fi vornehmlich der Mitwirkung Negrellis, des einzigen, der den Kanal
ohne Schleufen mit der fürzeften Linienführung bauen wollte, zu filhern. - Diefer,
der vom Bizelönig bereit3 1855 nebit dem öfterreichifchen: Finanzminifter von
Brud zum erbliden Gründermitglied der SKanalgefellihaft ernannt und
defien Plan 1856 endgültig angenommen murde, war 1857 Generalinfpeltor
der Kanalarbeiien geworden und verhielt ſich Leſſeps gegenüber, dem er
anfangs durchaus vertraut hatte, zurückhaltend. Doch gelang es Diefem,
nad) NegrelliS 1858 erfolgtem Tode, deffen Zeichnungen und Entwürfe an fi
zu bringen und vor allem mit Hilfe Napoleons vorwärts zu lommen, zumal
als Said Paſcha, der fi, empört über Leſſeps eigenmächtiges Handeln, gänzlich
von ihm losgeſagt und den Kanalbau felbft auszuführen befchlofien hatte, im
Sabre 1863 gejtorben war. Es galt bier wieder das alte Wort eines Drient-
tenner8 gegenüber dem Ingenieur Jaßnueger, er müſſe feine ganze Stellung
Ägypten gegenüber als ein Schaufpiel betrachten, das mehrere Alte habe; in
den Alten wechſelten Perjonen und Koftüme. Leſſeps hatte ſchon vorber feine
Altien-Gefellichaft, die „Compagnie universelle du Canal de Suez*, aus-
gebaut, unter Zurücddrängung der Societe d’Etudes, und war ihr Generaldireftor
geworden. In Frankreich hatte er eine Subfkriptien auf die Kanalaltien eröffnet
und viele, namentlich kleine Leute, zur Zeichnung veranlaßt, auch dem Vizelönig
Ismail Paſcha einfach üher 170000 Aktien aufgezwungen. Im März 1866
erſchien endlich das kaiſerliche Irade in Konftantinopel, das die Bauerlaubnis
an eine Geſellſchaft gab, der jede redhtlihe Grundlage fehlte. Das Gomite
international von 1846, die Societe d’&tudes, deren Arbeit durch Leffeps ver-
nichtet worden war, batte ſchon 1861 befchloffen, fi abwartend zu verhalten und
nach dem Erfolg oder dem Scheitern der Pläne von Lefjeps ihre ferneren Schritte
zu beftimmen: „Sollte der Kanal“ — fo ſchildert Dufour in einem Schreiben vom
April 1861 an das ſächſiſche Minifterium die Sache — „wirklich zur Ausführung
lommen, jo würde der Hauptzwed mehrgenannten Comites erreicht fein, der
hauptſächlich darin beitand, die Erbauung des für die Intereſſen des Handels
der ganzen Welt jo wichtigen Kanals zu befördern. Sollte dagegen Herr de
Zeffeps in feinen Beftrebungen jcheitern, jo würde in Erwägung zu ziehen fein,
welde neuen Mitiel zu ergreifen find, auf einem anderen Wege den Kanal
zur Ausführung zu bringen (U. ©. ©. Nr. 103). Nun wurde ja aber der
Kanal gebaut, wobei Lefjeps fi wiederum der mächtigen Unterftüßung Napoleons
zu erfreuen hatte, und „das Comité international” hatte feine Gelegenheit mehr,
weitere Schritte zu tun, ohne fi) übrigens tatfächlich aufzulöfen. Vielmehr find
bie Nechte feiner ehemaligen Mitglieder auf Grund ihrer hervorragenden Tätig-
feit und ihrer finanziellen Leiſtungen durchaus beitehen geblieben, und die
234 Deutfhlands Anteil am Suegzkanal
berechtigten Anfprücde ihrer Erben mit allem Nachdruck wahrzunehmen, ift jeht
eine Vereinigung angefehener Männer tätig. ebenfalls haben wir in Deutſch⸗
land und Öflerreich feinen Anlaß, Leffeps als den Schöpfer des Kanals zu
preifen: feine große Energie fol durchaus anerlannt werden, aber daß er ohne
die wiſſenſchaftliche und finanzielle Vorarbeit namentlich der deutſchen Mitglieder
der alten Studiengefellihaft fein Ziel nicht hätte erreichen können, darf eben-
fowenig verichwiegen werben mie fein rüdfichtslofes Verfahren alten, wohl»
erworbenen Rechten gegenüber.
Die weiteren Schidfale des Kanalbaues find belannt: der Kanal wurde
nach Überwindung großer Hinderniffe und Schwierigfeiten aller Art, namentlich
von feiten der Engländer, 1869 fertiggeftellt und im November besjelben Jahres
unter großartigen Feierlichkeiten eröffnet. Nach einigen Jahren des Mikerfolges
begann eine bedeutende Hebung bes Berlehrs; England, das bis dahin nichts
vom Kanal hatte wiffen wollen, erwarb 1875/76 die 177642 Altien des
Bizelönigs Ismail Paſcha und fpielte ſich fo zunädft den Kanal und dann
ganz Ägypten in die Hände. Die Bedeutung gerade für feirie Beziehungen zu
Indien und Auftralien erhellt aus den Berlehrsziffern”): im Jahre 1870 betrug
die Zahl der durchfahrenden Schiffe 486 mit 654914, 1908: 8795 mit
19 Millionen, 1912: 5373 mit 28 Millionen Tonnen; unter den Schiffen bes
legten Jahres waren 8335 englifhe und 698 beutfche.
Bon der Bedeutung des Kanals geben biefe Zahlen ein Bild; von ber
Aufmerkſamkeit aber, welche «die gebildete Welt in den fechziger Jahren feinem
Bau und feiner Eröffnung gewidmet hat, zeugen noch heute die Äußerungen
dreier Männer, die jene Jahre miterlebt haben: der eine tft Ludwig Pietſch,
der treffliche Plauderer und Zeichner, der als Berichterftatter und als einer ber
„Messieurs les Invites“, alfo als offizteller Saft des Vizekönigs, der Eröffnung
beigewohnt bat. Im feinen Erinnerungen”) daran erllärt er, daß aus der
überreichen Fülle reizwoller und prächtiger, großartiger und erſchütternder Bilder
geſchichtlicher Ereigniffe, denen er... . vom bevorzugten Plage aus in nächfter
Nähe zugeſchaut babe, leuchtend und glänzend faft vor allen diejenigen hervor»
träten, weldhe im November und Dezember des jahres 1869 ihm zu fehen
und zu erfahren vergönnt geweſen jeien. Der andere ift Henrik Ibſen, der
große Nordländer, welcher in „Port Said“ und dem „Ballonbrief” feine ägyptifchen
Eindrüde ſchildert. Und der dritte ift unjer Wilhelm Raabe, defien Interefie
und Berftäudnis für weltpolitiide Dinge wir aus vielen feiner Werke lennen:
fo lefen wir noch heute mit größter Aufmerkfamfeit, was er im „Abu Telfan“,
deſſen erfte Auflage 1867 erfchien, feinen Helden Leonhard Hagebucher den
Seinen in Bumsdorf von der „verfänglicden Weltfrage der Durdiftehung der
Zandenge von Suez“ berichten läßt.
*) Die Zahlenangaben ftammen teil® aus NReubaur, „Der Sueztanal”, teil aus
Oberhummer, „Agypten und der Suezkanal“ (Deutihe Revue, Januar 1915).
*) Veröffentlicht 1902 in Velhagens u. Klaſings Monatöheften.
Don deutjcher Kultur und deutfcher Sreiheit
Auch eine Kriegsbetrachtung
Don Dr. jur. et phil. Erich Jung o. 3. Profeflor der Rechte
enn die größte politiiche Frage, die Eriftenzfrage, einem Staats⸗
a weien geftellt ift wie ums jetzt, dann treten naturgemäß alle
I anderen Seiten des Gemeinfdhaftslebens in ben Gedanken ber
DA Nation zurüd vor der nun allein ausſchlaggebenden — der
militärifden Machtentfaltung.
Aber diefe Höhepunkte der Kraftentfaltung, oder vielleicht darf man fagen
Höhepunkte bes nationalen Lebens überhaupt, in denen bie erfte ethiſche Uualität,
bie Fähigkeit zur Hingabe des Ich an einen höheren Zweck, am einfachften und
dringlichften in die Erfcheinung treten muß — bezeichnen naturgemäß nur ben
Moment des Freimerdens gefammelter Kräfte und Eigenſchaften, Die das Ergebnis
langdauernder Arbeit und Pflege, altererbter Anlagen der Nation und ibrer
geſchichtlichen Erlebnifie, find.
Jene über unjer fühnftes Hoffen noch hinaus nun fo wunderbar ſich offen-
barende Entſchloſſenheit, Opferfreudigfeit und Einigleit der Nation ift nicht aus
den Cinzelurfaden dieſes Bölferfrieges und auch nit nur aus unjerer
DOrganifationsfähigleit, aus der militärtihen Tüchtigkeit oder fonftigen einzelnen
Eigenſchaften zu erflären. Sie hat ihre tieferen Urſachen in dem ganzen geiftigen
und etbifhen Weſen der Nation; in ihrer Kultur, wie man zufammenfaffend
fagen fann, wenn man nur das Wort Kultur genügend weit faßt, und es nicht,
wie häufig geichieht, mit dem Begriff Zivilifation, fchärfer Domeſtikation, ver-
wechfelt; wobet unter biefem letzteren Ausdrud zu verſtehen ift die äußere Seite
intenfiveren Kulturlebens, die Bermebhrung der materiellen Annehmlichkeiten des
Lebens und die Verfeinerung auch der nicht geiſtigen Bebürfniffe.
Diele äußere Bereicherung des Lebens fteht ja in einem gewiflen Zufammen-
dang mit der wirflichen Kulturhöhe der betreffenden Gemeinſchaft. Aber diefer
Bufammenhang tft fein notwendiger; es Tann eine Gemeinſchaft die materiellen
Errungenſchaften des Kulturlebens noch eine Zeitlang fefthalten, wenn bie
eigentlichen Trieblräfte der Kulturgemeinſchaft ſchon abgeftorben find. Dies bat
236 Don deutfher Kultur und deutfcher —
vor allem der Untergang der antiken Kulturwelt —* jenes merfmärbige
kulturgeſchichtliche Phänomen, das ben ‚Zrägern der zweiten großen Kulturepoche
Europas, die mit dem Auftreten der Germanen und des Chriftentums beginnt,
recht eigentlih als ein Mene Tekel oder als die bei Strafe bed Untergangs
zu löfende Frageſtellung entgegentritt.
Die Einheit der 78 Millionen Deutfcher, die heute im Kampf liegen gegen
die übrige Welt, wie die Preußen Friedrichs des Großen gegen Europa, ift.
befanntlich nicht eine befehlsmäßige, eine politiſche Einheit. Zwölf Millionen
davon find öſterreichiſche Untertanen; und felbit innerhalb des deutſchen Reichs
treten die tapferen Fäufte von fieben Millionen Bayern, Fianken und Schwaben
erſt im legten Moment, nämlich mit der Mobilmadjung, unter den unmittelbaren
Befehl unferes Kaiſers. Die Gemeinfchaft der Lebensunterlagen und der Lebens-
ziele, die Kulturgemeinfchaft,: bildet. die tiefergehende und darum au dur
äußere Feinde nicht auf die Dauer zerftörbare Grundlage unferer Volkseinheit.
Bas beißt nun deutfche Kultur? In welddem Verhältnis fteht fie zu den
heute neben ihr beftehenden Kulturgemeinfchaften, wie etwa der franzöftichen,
zu früheren Epochen, wie zur antilen Kultur?
Wer im lebten Jahrzehnt als Deuticher im Elſaß lebte — feitdem von
Köller im Jahre 1902, um einen bequemen Landtag zu haben, die ftaatlicden
Handhaben gegenüber der Preſſe aufgegeben hatte und damit die mit
franzöſiſchem Geld unterhaltene elfäffifche Hetzpreſſe entfefjelt hatte, — mußte in
Betrachtungen über das Verhältnis und das Alter der frangöftihen und ber
deutihen Kultur, über die „Mentalität“ der Deutichen gegenüber den Franzoſen
und ähnliches einen unglaublichen Wuft von Entftellungen und hahnebüchenen
Unrichtigkeiten genießen. Die immer wiederholten Behauptungen und Forde⸗
rungen mußten ſchließlich, wie jeder ftandhaft wiederholte Unfinn, auf ſchwächere
Naturen auch auf deutſcher Seite einen gewiſſen Eindrud maden. Selbft
Altdeutſche Hatten in der ſchwülen Luft der füdlicden Rheinebene bie
Schwädlichkeit, von der für den SKulturaustaufh zwiſchen Deutſchland und
Frankreich notwendigen Vermittlerftelung des Elſaſſes zu ſprechen und möglichfte
Nachgiebigkeit gegen den franzöfiihen Einfluß, die Begünftigung von Zwei⸗
ſprachigkeit, Doppelkultur und Ähnlichem zu verteidigen oder gar zu fordern.
Die gegenfeitige Mitteilung von Kulturgütern unter verfchtedenen Nationen
hat folche geographiſche Zwifchengebilde gewiß nicht nötig; diefe wirken vielmehr
als Duelle von Reibungen auch auf den Kulturaustaufch nur ſchädlich. Zwiſchen
Italien und Deutichland, zwiſchen Deutichland und England hat foldde Kultur
vermittlung früher in ausgedehnten Make ftattgefunden, ohne daß man dazu
eine gemifchte deutſch⸗italieniſche oder deutich-engliihe Provinz für nötig gehalten
hätte. In dem Einfluß der deutichen Neformationsgedanten auf England, in
ber Stellung Shaleipeares, der für die Deutichen heute mehr bedeutet wie für
die Engländer, in dem Wirken Garlyle8 und feiner Vermittlung Goethes und
der deutihen Klaffifler an die Engländer hat dieſer deutſch⸗engliſche Kultur-
Don deutſcher Kultur und deutfcher Sreiheit 237
austauſch fich erwiefen. Niemand wird behaupten wollen, daß dieſer Prozeß
der Aulturvermittlung zwiſchen Deutichland und England durch die zeitweilige
Berfonalunion von Hannover und England mefentlich gefördert worden fei oder
fie gar nötig gehabt hätte.
Den Franzofen fällt es auch gar nicht ein, etwa in Nizza die italienifche
Sprade und Art zum Zweck der NKulturvermittlung zwiſchen den beiden
romaniſchen „Schweiternationen” zu fördern und zu pflegen. Dabei handelt
es fi hier doch um Italien, die unbezweifelbare Mutter und Schöpferin der
tomanifhen Kultur. Die Franzofen halten ſich allerdings für führend unter den
romaniſchen Kulturvöllern. Das tft eine Erläuterung zu dem Kapitel, wie furz das
geſchichtliche Gedächtnis der Völker if. Daß die Italiener unter den romanifchen
Nationen die ältefte Kulturvergangenheit haben, lan: doch wirklich nicht zweifelhaft
fein. Die Tatſachen der Geſchichte wollen wir uns durch ihr jebiges Verhalten
nicht verbunfeln laſſen. Daß die Kulturarbeit Italiens auch in der nachantilen
Entwidlung, von Dante über die Renaifjance zu Michelangelo und Galilei
und Bolta, gegen die franzöſiſche nicht zurüdbleibt, dürfte ebenfalls ficher fein.
Die Urfache jener an ſich durchaus unbegründeten franzöfifchen Überhebung kann
nur in der langdauernden politiichen Schwäche und Zerrifienbeit Italiens liegen;
wie die Franzofen ja aud) im Berhältnis zu uns über den zweihundert
Jahren ihrer Übergriffe und politifchen Übermacht die Tatfadhen vieler früherer
Jahrhunderte völlig vergefien haben: daß nämlich die politifche Vormachtſtellung
in Europa lange vorher und die längfte Zeit bei den Deutſchen geweſen war.
Richt als ob ein Anſpruch darauf — deilen Erhebung dem alten Reich fo
ſchweren Schaden gebracht hat — von den heutigen Deutfchen irgendwie geltend
gemacht würde. Nur gegenüber dem törichten Gerede von dem neuberauf-
gelommenen Deutſchland, das fi) neulich fogar ein amerilaniſcher Admiral,
ausgerechnet ein amerilanifcher, geleiſtet hat, darf man wohl einmal jene
geſchichtliche Tatſache ſich vergegenwärtigen. Aber freili), wenn man
felbft bei uns am hervorragender Stelle von dem jungen und neuempor-
gefommenen Deutichland fpricht, wird man bei einem amerilanifchen Hemd⸗
ärmelpolitifer feinen weiterreihenden gefchichtlihen Geſichtskreis vorausfehen
bürfen.
Der politiſche und wirtſchaftliche Aufſchwung Mitteleuropas, Deutichlands
und auch Italiens, ift eine Wiederaufnahme, nicht ein Neuemporkommen.
„Das deutſche Königtum,” fchreibt der englifche Geſchichtsforſcher und Staats-
mann James Bryce, „war ſchon ein Band zwiſchen den deutſchen Stämmen
und es fcheint ftarf und geeint, wenn man es mit Frankreich unter Hugo
Gapet oder England unter Aethelred dem Zweiten vergleicht." Und Dietridy
Schäfer fagt: „Am Ausgang des Mittelalterd waren Staliener und Deutiche
wirtſchaftlich die entwidelteiten Völker Europas.” Ihre glänzende wirtichaftliche
Entwidlung in unferen Tagen war nur ein Wiedererwachen aus dem langen
Schlaf der ſtaatlichen Zerriffenheit. Nicht weil fie junge Völker find, fondern
8 Don dentſcher Kultur und deutfcher Sreiheit
gerade weil fie die älteften und am intenflvften Lultivierten unter den europäifchen
Nationen find, konnten fie diefe Leiftung vollbringen. Ziviliſation, Domeftilation
fann ſchwächen; wirkliche Kultur ſtärkt. Die europäiſchen Nationen von heute
find den Naturvöltern und überhaupt Zulturell tiefer ſtehenden Bölfern im
allgemeinen auch militäriſch und phyſiſch überlegen. Die verbreitete gegenteilige
Meinung, als ob die Kultur notwendig ſchwächen müſſe, ftammt aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach noch von einer falſchen Auffafiung des gemwaltigften,
umftärzendften Ereigniſſes der bisherigen Kulturgefhichte: als ſei Die
antike Zivilifation durch die Germanen zerftört worden und nit von
innen beraus, durch bie anthropologiſche Veränderung und das Aus
fterben der bis dahin kulturtragenden und ftaatsbildenden Bevöllerungs-
oberſchicht.
Nun brauchen freilich die Franzoſen ihre Ziviliſationsform in ihrer
Miſchung von keltiſchen, romaniſchen und fränkiſch⸗germaniſchen Beſtandteilen
nicht für einen bloßen Ableger der antiken Kultur zu halten, wenn auch die
lateiniſche Eroberung und Beſiedlung die Sprache dauernd beſtimmt bat, im
Gegenfag zu dem in der fpäten Antife auch ſchon ſtark romaniſchen, aber eben
doch nicht dauernd romanifierien Südengland. Jedenfalls aber kann bie
Behauptung der Franzofen, ung gegenüber bie ältere Kulturnation zu fein —
wenn überhaupt eine —, nur diefe Unterlage haben, daß fie die Yortjeger und
Erben der antiken Kultur feien. Die Kulturform der Antike ift natürlich älter
als unfere heutige deutſche Kultur. Aber unter den nachantilen Kulturen —
und die Cäfur nad dem Untergang des römifchen Reiches und ber Chriſti⸗
anifierung der europätihen Welt war eine fo einfchneidende, daß man bier,
troß aller einzelnen Übernahmen, von einer neuen Kulturform ſprechen muß —,
ift die deutfche die erfte und ältefte.e Dabei tft unter Deutfchland natürli zu
veritehen das Land zwiſchen Elbe und Maas, zwiſchen Nordfee und Alpen,
das Deutfchland des Mittelalters, das eben doc auch heute noch den Kern
des deutichen Gefamtftants bildet. Die Siedlungslande jenfeitE der Elbe find
natürlich von jüngerer Kultur, fo groß ihre rein politifhe Bedeutung und ihre
politiihden Verdienfte um Geſamtdeutſchland auch fein mögen. Sie haben in
der neueren Zeit auf ſtaatlichem Gebiet zweifellos mehr geleiftet als die älteren
weitlicheren deutfchen Lande, vielleicht gerade durch jene Toloniale Art ihres
Urſprungs, dur ihre größere NRüdfichtslofigkeit und Nüchternheit, aber auch
dur ihre größere Vorausfegungslofigleit und Tatkraft; in einem gemifien
Sirnne ift das Verhältnis des deutſchen Dftens zum deutſchen Weften ähnlich
dem des jungen Amerifa zum alten Europa — „haft feine verfallenen Schlöffer
und feine Bafalte.” Bei den norböftlicden Gegenden liegt heute verdientermaßen
in Deutfehland die politifche Führung, wie früher, zeitweilig bei dem ſüdöſtlichen
Kolonialgebiete in den Habsburgifhen Landen. Wenn aber die Rede ift von
deutfcher Kultur, von dem, was für ihren Inhalt, ihr Alter und fonftiges Wefen
fennzeichnend ift, muß man felbitverftändlih die deutſchen Lande zum Vergleich
Don deutfcher Kultur und deutfcher Sreiheit 239
beranziehen, wo biefe Kulturentwicklung ſich die längfte Zeit abgefpielt hat und
darf nicht willfürlih eine beftimmte einzelne Gegend des jetzigen beutjchen
Staatsgebiet herausgreifen.
* *
»
Nächſt der Firchlicden Überlieferung ift das Rechtsleben der Zweig ber
fulturellen Betätigung, der das Alte am treueften feithält und den Neubildungen,
Veränderungen den ftarriten Widerftand entgegenfest, fo daß hier jenes Fort⸗
wirlen oder auch, je nad) dem Standpunlt des Beurteilers, Weiterlaften uralten
Kulturerbes befonders anſchaulich wird.
In Deutichland hat die dee des römiſchen Kaiſertums deutſcher Nation
befanntlich zu dem beifjpiellofen — nur mit der teilmeifen Annahme der jüdtichen
Religion durch die hriftlichen Völler zu vergleichenden — Vorgang der Übernahme
des römiſchen Privatrechts geführt. |
In Frankreich hat eine erneuerte Übernahme antiler Ideen auf politiichem
Gebiet eingefegt mit der revolutionären, beſſer der napoleonifchen Neugeftaltung
des franzöfiicden Staatsweſens, die dem in der Revolution erfochtenen politifchen
Siege des keltiſch⸗ romaniſchen Elements über feine bisherigen fränkiſch⸗germaniſchen
Herren entiprad. H. Taine bat in feiner „Entftehung des modernen Frankreich“
das Weſen jener Umgeftaltung und damit mittelbar überhaupt den Gegenjah
des Haffiziftiiden und des germaniſchen Staatsgedankens folgendermaßen ge-
fennzeichnet: „Infolge feines deſpotiſchen Inſtinkts und feiner Haffifchen lateiniſchen
Schulung faßt der Meifter (Napoleon) die Menfchenvereinigung nicht vom
modernen, germanifchen, hriftlicden Standpunkt auf, als ein Zufammenmwirlen
von unten ausgebender Initiativen, fondern in der Weile des Altertums, der
Heiden, der Romanen: als eine Stufenleiter von von oben eingejeßter
Obrigleiten.“
Damit ift die Eigenart des germanischen Staatsgedanlens treffend bezeichnet.
Diefe Befonderheit hat einerfeitS im germanischen Mutterland, in Deutichland,
zeitweilig zur fait völligen Auflöjung der Zentralgewalt geführt und Deutſchland
politifh lange ſchwer geſchädigt; anderſeits hat fie aber auch durch die größere
Bemwegungsfreiheit und Gelbftändigfeit der Glieder die unvergleichliche Biel-
geftaltigfeit und den Reichtum des deutſchen Kulturlebens weſentlich mitver⸗
urſacht.
Mit jener Taineſchen Unterſcheidung könnte man den Gegenſatz antik⸗
mittelmeerländifcher und germaniſch⸗nordeuropaͤiſcher Kulturform wenigſtens auf
ſtaatlich⸗ rechtlichem Gebiet und damit wenigſtens für ein Hauptgebiet der kulturellen
Betätigung — Herder nennt einmal den Staat das höchſte Kunſtwerk des
menſchlichen Geiſtes — nod) etwas allgemeiner dahin zufammenfafjen: bie Antike
bat die dee einer Organifation des in Familie und Stamm urſprünglich trieb-
baft gegebenen Zujammenlebens unter eine zentrale Staatögewalt, der bie
einzelnen nur Mittel zum Zwed find, gebracht; die germaniſch beftimmte
240 Don deutfcher Kultur und deutfcher Freiheit
Kulturentwidlung bat die Anerlennung des Individuums an oder auch
die bee der perfönlicden Freibeit.
„C'est par les barbares germains, que le senkimänt de la personalite,
de la spontaneit& humaine dans son libre d&veloppement a éêté introduit
dans la civilisation europeenne; il &tait inconnu au monde romain,
inconnu & l’eglise chr&tienne, inconnu à presque toutes ‚les civilisations
anciennes“ jagt der franzöfiihe Hiftorifer und Staatsmann Guizot in feiner
Histoire de la civilisation en Europe.
Was moderne Franzofen etwa in grenzenlojer Unkenntnis unferer älteren
Geſchichte als den angeborenen Sinn des Deutichen für Uniformierung und
Disziplin bezeichnen, ift, wie Fürft Bülow einmal gegenüber dem franzöftfchen
Journaliſten Huret ausgeführt bat, nur die notwendige, durch die jahrhunderte-
langen politifden Mißgeſchicke endlich anerzogene Schranke unferes ertremen
Individualismus in allen geiftigen Dingen, der, auch auf politiiche Berhältnifie
übertragen, unferer Nation fo furchtbare Leiden verurfacht bat und ſo ſchließlich
als eine Anpafjungserfcheinung im Dafeinstampf jene Gegengewichte hervor⸗
gerufen bat.
Nach der franzöftichen Revolution es bat die herrſchende liberal-tonftitutionelle
Drthodorte durch beharrliche Geſchichtsfälſchung und Wortgläubigleit — denn
mit Worten läßt fich trefflich „ein Syſtem bereiten“ während die Beobachtung
ber wirfliden Zuftände und Tatſachen ſtets eine ſchwerere und entfagungSreichere
Arbeit ift — zu erreihen verftanden, dab in der öffentliden Meinung Die
Weſtmächte und ihre Zuftände als die eigentlichen Vertreter und wahren Bor-
bilder ber politifchen Freiheit galten. Aber diefe Meinung ift unrichtig, wie
Vieles, ein Peifimift würde fagen, wie das meiſte, was auf dem geiftigen
Niveau der Zeitungen und Parteien allgemein behauptet und geglaubt wird.
Die Franzofen haben anfheinend eine gewiſſe Liebe zur politiſchen Freiheit
mwenigftens in den letten hundert Jahren betätigt. Aber dieſe Liebe ift ent-
ſchieden unglüdlih und unerwidert. Das bezeugen nicht nur ihre beventenditen
Geſchichtsſchreiber, Taine, Tocqueville, Nenan, Guizot, fondern noch einleud)-
tender die Tatſachen. Die Galloromanen find bei ihrem Verſuch zu beſſeren
politiihen Zuftänden zu gelangen, ftatt zur Freiheit in Lürzefter Friſt zur
äußerften Tyrannei, in die Schredensherrichaft, gelangt, der fie dann bald die
ſchärffte Militärbiktatur, unter Napoleon vorzgogen. Und fie waren vorber,
im Alten Regime, in einen NAbfolutismus geraten, der fehr viel fchärfer
abſolutiſtiſch und willlürlider war, als etwa die Negterungsform der deutſchen
Einzelftaaten in der fogenannten abfolutiftifchen Zeit. Nur die Einzelftaaten
Iönnen ja überhaupt bier herangezogen werden; im alten deutſchen Reich war
die Regierungsgewalt ja keineswegs unbefchräntt, fondern in fehr genaue rechtliche
Schranken gebunden. Ja man kann fagen, die alte Reichsgewalt tft an dem Über
maß der rechtlichen Schranken zugrunde gegangen, an ihrem Parlamentarismus;
daran daß alle weſentlichen politifchen Befugniffe ſchließlich beim Parlament,
Don dentſcher Kultur und deutfcher Sreiheit 21
bei den Reichsſtänden waren. Und die Entwicklung eines gewiffen Abfolutismus
in den Einzelftaaten war nur die lebensnotwendige Reaktion des gefamtdeutichen
Geſellſchaftskörpers, der zu feiner Selbfterhaltung vor allem irgendeine wirkliche
Staatsgewalt braudite, bei dem gänzlihen Verſagen der Zentralgemwalt.
Das alte Deutſche Reich war nicht in zu geringem Maaß, e8 war zu jehr
Rechtsftaat und zu wenig Madhtftaat, könnte man fagen. „Bon der Seite der
genaueften Beitimmung jedes auch noch fo geringfügigen Umftandes, der ſich
aufs Recht bezieht,” fchreibt Hegel in der Schrift über die Verfaffung Deutſch⸗
lands, „muß dem deutſchen Staate bie befte Drganifation zugeſchrieben werden
als einem Syſtem der durchgeführteften Gerechtigkeit.”
Au einer anderen Stelle fagt er: „Diele Form des deutſchen Staats-
rechts ift tief in dem gegründet, woburd bie Deutſchen fi) am berühmteften
gemadt haben, nämlid in ihrem Trieb zur Freiheit. Diefer Trieb ift es,
der die Deutſchen, nachdem alle anderen eurspäifchen Völker ſich der Herrſchaft
eines gemeinfamen Staat unterworfen haben, nicht zu einem gemeinfhaftlicher
Staatsgewalt fi) unterwerfenden Volle werden ließ.“
Die Phrafen des weftlicden Liberalismus waren zu einem wefentlichen
Teile ſchuld an den Drgien des Inverftandes und widerfinnigen Haffes, denen
Deutſchland zu Beginn dieſes Krieges in der ausländifchen Preſſe preisgegeben
war. Man mußte wirfii zu der verzweifelten Überzeugung gelangen, daß
die Lüge ebenfoviel wert ift wie die Wahrheit, wenn man dieſe Preffe ftudierte.
Die braven Gefellen Gehring, Kranp und Freiburger, die nad) Paris, bie
Schweinheim und Pannartz, die nad Rom die Buchdruderkunft gebracht haben,
haben fich eigentli nicht um das Baterland verdient gemadht, indem fie den
ſubgermaniſchen Nationen, wie man die nachantifen Nationaltypen, den fpanifch
weſtgotiſchen, den fränkiſch⸗galliſchen, den angelfähhfifch-britifchen, den longobardiſch⸗
italienifhen und fo weiter, durchaus ſachentſprechend bezeichnen könnte, die fcharfe
Waffe der Buchdruckerkunſt übermittelten. Glücklicherweiſe ift ja nun, fo un-
begreiflic groß die Macht der Lüge fich auch erwiefen hat, ihre Macht in der
Zeit begrenzt. Schließlich dringt die Tatſache einmal durch, ob die andern fie
wiflen und anerlennen oder nicht; die Tatſache, daß wir in allem, worauf e8
für die Entwidlung der Perfönlichkeit wirklih ankommt, das freiefte und am
tiefften kultivierte Voll der Erde — neben den Standinaviern — find. Es
wird ſich erweifen, fo fehr fie filh gegen die Wahrheit ftemmen.
Angefihts der glänzenden XQapferkeit unferer Zruppen halfen ſich die
englifchen Zeitungen bisher immer noch mit ihren kümmerlichen Redensarten
von der eifernen Disziplin, dem Mafchinengehorfam, den der preußiſche Drill
und Militarismus den Deutfchen eingeprägt haben. Jettt, nachdem die jungen Regi-
menter nad) paarmonatlicher Ausbildung an die Yront gelommen find, und mit ger
ringerer foldatifher Erfahrung aber mit der gleihen Bravour draufgeben,
werben jelbft die englifchen Zeitungen ftugig, ein jo aufrechter Wille zur Lüge
auch an fi) bei ihnen vorhanden fein mag. Eine der ſchlimmſten fagte neulich,
Grenzbsten 11 1915 16
242 Don deutfcher Kultur und. deutfcher Freiheit
es ftände ihnen nun nicht. mehr nur der militäriſche Bureaukratismus, jondern
die deutſche Ration felber gegenüber, die aus ihrem eigenften Willen heraus
- zum Kampf bis auf äußerfte entſchloſſen ſei. Ihr werdet noch mande Ent-
täufhungen dadurch erleben, ihr Herren Britanefen, daß ihr eure Zeitungs-
phrafen wirklich geglaubt habt! Der Auge irifhe Jude Bernhard Shaw hat
euch kürzlich ſehr vorfidtig ‚und mit den üblichen Flosleln verbrämt gejagt,
was euch vor einem halben Jahrhundert ſchon euer John Stuart Mil und
andere gejagt haben: daß nämlich Deutichland, in allem worauf es wahrhaft.
anlommt, das freiefte Land ift; daß wir leineswegs „unter dem Militarismus
ſeufzen“, fondern daß vielmehr diefer, als ein Gegengewicht gegen die größte
Gefahr für die Freiheit unter modernen wirtſchaftlichen Verhältniffen, gegen
den Mammonismus, ein Hort der Perjönlichleit und der Freiheit ift, worüber
nod einiges zu fagen fein wird.
. England Hatte unzweifelhaft, bejonders in ber eek zu. gewiſſen
Zeiten die Grundzüge des germaniſchen Geſellſchaftsaufbaus und germaniſcher
Achtung vor der Perjönlichkeit in ausgeprägter Form verwirklicht; aber es hat,
wie jest allgemein erfennbar wird und ‚wie Schärferblidende ſchon früher aus-
geſprochen haben, fein Weſen allmählich” umgebildet und verändert, beginnend
etma mit dem Puritanismus und dem Sieg des Parlaments über das Königtum
in der Great Rebellion und der. Glorious Revolution. .
= Es ift durchaus unrichtig, daß parlamentariſch regierte Ränder freier find
al3 Länder mit ‚einer wirklichen Monardie. Erftens ift überhaupt nicht Die
Inſtitution, die theoretiiche Rechtsform, beftimmend für den tatfähli in einem
Gefelichaftsaufbau vorhandenen Grad von Freiheit, fondern die Stärle bes
Berjönlichleitsgefühls, das in den Gliedern dieſes Geſellſchaftsaufbaus Iebt.
Eine Niggerrepublik bietet mit noch fo radilaler Berfaffung ihren Genofjen
niemals den Grad von rechtlicher Freiheit wie ein auf Germanen und ben
entipreenden Perſönlichleitstrotz aufgebautes Gemeinwefen, ſelbſt wenn defjen
Oberhaupt formell abjolute Gewalt hätte. — Aber noch aus einem anderen
Grunde bietet etwa parlamentarijche Regierungsform keineswegs der Nation
im ganzen ein größeres Maß von perſönlicher Freiheit als andere, monardifche
Negierungsformen. Parlamente find, mie Napoleon einmal fehr überzeugend
darlegte, nicht eine Inſtitution des Volls, fondern einer Heinen Zahl von
Leuten, die die Politik als Beruf treiben können; unter diefen find wieder
ganz Heine Gruppen, einzelne Parteiführer, fehließlih allein ausfchlaggebend.
Das tft aber nichts weniger als die Form, bei der die Rechte und die Freiheit
der geſamten Nation am beiten gewahrt find. —
Die Phraſen. des weſtlichen Liberalismus und Parlamentarismus ſchmeicheln
der Eitelfeit der damit behafteten Nationen und fie werden. dadurch zunächſt
unausrottbar fein. So Hört man jetzt bei Neutralen, wie Amerilanern,
Schweizern, die Nedensart, der Sieg Deutichlands werde einen Sieg ber Reaktion
bedeuten. Wo dies bösartig wider beſſeres Wiſſen geäußert wird, nur um
Don deuticher Kultur und deutfcher Freiheit 2413
Deutichland etwas Schädigendes oder Unangenehmes zu fagen, läßt ſich natürlich
nichts dagegen tun. In anderen Fällen wird aber diefe Phrafe ehrlich für
wahr gehalten. Hier bandelt e8 fi einfah um maßloſe Unwiffenheit und
Unflarbeit über die tatlächlichen politiihen und fozialen Zuftände Deutſchlands
einerfeit$, und über die tatfählihe Wirkung der parlamentariihen Re⸗
gierungen in Franfreih und aud in England anderfeits, von Stalien oder
“ Griechenland ganz zu gefchweigen. Es it eben immer fo unendlich viel.
bequemer, fih an eine vorhandene Formel — wie bier die Inſtitution, Die
theoretiſche Verfaffungsform — zu halten, als die verwidelten und vielgeftaltigen:
Tatſachen des Gemeinfchaftsleben zu erforjchen.
Bor allem müßte man die beharrliden Gefchichtsfälichungen, bie die.
Engländer zur eigenen Verherrlihung vorgenommen haben, und die vom:
Liberalismus der erjten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in fo rührender
Weiſe für bare Münze genommen mwurden, einmal gründlic” befeitigen. Ein.
feiner Beitrag ſei bier geliefert. Es heißt gewöhnlich, in England fei die
Zortur hundert fahre früher als auf dem Kontinent abgejchafft worden; bier
mar Friedrich der Große bahnbrechend, der fie — nachdem fie übrigens fchon
Jahrzehnte vorher in Preußen tatſächlich kaum mehr angewendet wurde — fehr
bald nach feinem Regierungsantritt befeitigte, nebenbei bemerft nicht ohne leb⸗
haften Widerfpruch namhaftefter RechtSgelehrter, die eine Üüberſchwemmung Preußens
durch alle Verbrecher Deutfhlands davon befürdteten. Was die Engländer bei:
ſich als Abſchaffung der Folter bezeichnen, weiß ich nicht; jedenfalls haben fie
na aktenmäßigen Darjtellungen des neuen Pitaval nod Ende des achtzehnten
Sahrhunderts die furchtbare Gemichtsfolter, die darin beitand, daß dem Ge
fangenen immer fchwerere Eifenplatten auf den Körper gelegt wurden, mit
Vorliebe angewendet. Bekanntlich ift auch das engliihe Gefängnis- und Straf
wejen unferer Tage, das ohne Prügel nicht ausfommt, fehr viel inhumaner,
übrigens au wohl unzweckmäßiger als unferes.
Zur Beit der Reformation und auch noch fpäter ijt die Sicherheit ber
Bürger gegenüber Willfüraften in bezug auf Leben, Freiheit und Eigentum,
worin fi die Rechtsſtaatsnatur eines Gemeinmwejens für den einzelnen zunächft
am fühlbarften äußert, in Deutichland weſentlich höher als im gleichzeitigen
England. Die Art zum Beifpiel, wie Philipp der Großmütige fi mit den
Anforderungen der Einehe auseinanderfette, mag ihre”religiös-bogmatifchen und
fonftigen Bedenken haben; fie zeigte jedenfalls moralifh und rechtlich einen fehr
viel höheren Stand an, ald das Verfahren Heinrichs ‚des Achten von England,
der fi) den Abſchluß einer neuen Ehe troß Beſtehens einer früheren einfach,
und zwar in wiederholten Fällen, dur Hinrichtung feiner Frau ermöglichte.
Mittels diefes durchgreifenden Verfahrens eriparte er fi) fomohl die Firchlichen
Schwierigkeiten der Scheidung, wie die Gewiſſensbedenken wegen einer Doppelebe,
die Philipp der Großmütige fih durch die vielangefochtenen Gutachten der
Reformatoren zu beſchwichtigen fuchte. Überhaupt findet die grenzenlofe Willkür
16*
Q44 Don deutſcher Kultur und deutfcher Freiheit
Heinrichs des Achten von England aud in anderen Dingen in den politiichen
Zuftänden des gleichzeitigen Deutichland fein Gegenbeiipiel. Unter der Re⸗
sierung der blutigen Murie und jelbft noch unter Elifabeth und fpäter tft bie
Staatsraifon häufig ausreichender Grund zur Befeitigung von politiſch gefähr-
lien oder auch nur politiſch erledigten Perjönlichleiten durch Hinrichtung.
Daß erft auf dem Umwege über England das germaniiche Verfafſungs⸗
und Verwaltungsrecht, das der Ausdrud jenes erhöhten Perfönlichleitsgefühls
des Germanen anf dem ftaatlich-reihtlichen Gebiete ift, allgemein in der Kultur⸗
welt vorbildlih wurde und dann eine ähnliche weltgefchichtliche Nolle gefpielt
bat wie das römifche Privatrecht, hatte feinen Grund darin, daß in England
bie inneren Gegenfäbe der Bevölkerung zwiſchen Selten, Sachen und Normannen
and die dadurch hervorgerufenen fteten Reibungen zu einer genauen Feitlegung
der Befugniſſe und Pflichten zwangen und dadurch die juriftifch - politifche
Kultur förderten, — ähnlich wie in dem ebenfalls aus verfchiedenen Stämmen
zufammengefegten Rom; im Gegenfat zu innerlich gleihartigeren Gemeinweſen,
wo die Ähnlichkeit der Triebe und innere Harmonie der Beftanbteile bie
genauere juriftiihe Grenzziehung vielfach zu erjeben in der Lage ift.
Die enticheivenden Schlachten aber jenes jabrtaufendelangen und noch
feineswegs zu Ende gelämpften Kampfes um das Recht des Individuums und
die freie Entwidlung der Perfönlichleit wurden naturgemäß im germanifchen
Mutterlande, in Deutfchland, geichlagen.
(Schluß folgt)
A Ed Nr X AL
— en.
Ein neues Univerfitätsgejet
Don Dr. jur. Eduard Hubrich, o. d. Profeffor der Rechte
Jer Ruf nach einem Univerfitätsgefe ift alt, und doch ift es etwas
neues, wenn jetzt auch von uns der Wunſch nach einem neuen Univer⸗
fltätsgeſetz ausgeſprochen wird. Bisher dachte man gewöhnlich bei
dem Ruf nad) einem Univerſitätsgeſetz an einen umfaſſenden ge-
fegliden Ausbau des gefamten Univerfitätswejensd. Wir dagegen
weilen den Plan eines folchen allgemeinen Univerfitätögefebes als ein für
abjehbare Zeit gar nicht zu erreihendes Phantom zurüd und wollen das
neue Univerfitätsgejeg auf beftimmte Punkte befchräntt fehen. Hinſichtlich der
Ausfichtslofigleit eines allgemeinen Univerfitätsgefehes benfe man doch nur an
die noch immer nicht überwundenen Schwierigkeiten, welche ſich der Berfafjungs-
verheißung eines allgemeinen Schul- und Unterrichtögefetes (Art. 26) ent-
gegengeftellt haben. Biel zu weit auseinandergebende Wünfche, Meinungen,
Befirebungen würden bei Regierung, Landtag, Voll bervortreten, wenn der
Plan eine allgemeinen Univerfitätsgefebes gewagt werden folltel Aber wie
es gelungen ift, dur das Gefeh, betreffend die Unterhaltung der öffentlichen
Volksſchulen vom 28. Yult 1906, wenigftens einen Zeil des Elementarſchulweſens
neuer gefeglicher Regelung zuzuführen, befteht die Hoffnung, daß ein neues,
kluger Beſchränkung zugängliche Univerfitätsgefeg auf feiten der Regierung,
wie der BollSvertretung Zuftimmung finden wird.
Um glei in medias res zu geben, ſchlagen wir etwa folgenden Geſetz⸗
entwurf vor:
81
„Abänderungen der bisher vom König einſeitig erlaſſenen und ergänzten
Univerſitätsſtatuten, ſowie der Erlaß neuer Univerfitätsſtatuten erfolgen in Zu⸗
funft durch ein formelles Geſetz.
Die Fakultäten, welche bisher noch leine miniſteriell beſtätigten Fakultäts⸗
ſtatuten beſitzen, erhalten ſolche binnen Jahresfriſt nad dem Inkrafttreten
dieſes Geſetzes.“
82
„Rechtliche Kompetenzſtreitigleiten zwiſchen dem zuftändigen Minifterium
und den Univerfitätsverwaltungen, zwiſchen einzelnen Univerfitätsorganen und
zwiichen einzelnen UniverfitätSangeftellten (ordentliden und außerordentlichen
246 Ein neues Univerfitätsgefet
——
Profefioren, Privatdozenten, Affiitenten) unterliegen der richterliden Entſcheidung
dur das Dberverwaltungsgericht in Berlin in erfter und letzter Inſtanz.
Unberübrt bleibt hiervon die gefehliche Regelung der Disztplinarverhältnifje
der einzelnen Univerfitätsangeftellten.“
Der Vater des Wunſches, daß diefe oder gleichartige Beitimmungen in
einem neuen Univerfitätsgefet Aufnahme finden möchten, ift das in Univerfitäts-
freien vielfah empfundene Bebürfnis einer feften Garantie der amtlihen Zu-
ftändigfeiten. Die gegenwärtige Lage des preußiſchen Univerfitätsrechts wird
diefem Bedürfnis auch nicht im entfernteften gerecht. Das Univerfitätsredht
gehört zu den dunkelſten Partien der preußiſchen Rechtswiſſenſchaft. Nur felten
verliert fi der Fuß des zünftigen Staatsrechtler8 auf dies Gebiet, und wo
dies auch in neuerer Zeit geſchehen, ift es bisher nicht einmal gelungen, über
die erften Grundlagen diefer Materie ein fachliches Binverftändnis zu erzielen.
Der Grund der herrihenden Meinungsverjchtedenheiten ift die Zerfplitterung
des einfchlagenden Rechtsmaterials, das zu einem wefentlihen Zeil noch im
Allgemeinen Landredt von 1794 fi vorfindet. Dabei beginnt gerade der
jüngeren Generation die vertiefte Kenntnis eines fo gewaltigen Geſetzgebungs⸗
werks, wie e8 das A. L. R. ift, mehr und mehr abzugeben, und der neuerdings
in der Literatur bervorgetretene Meinungszwieſpalt hinfichtlich des preußiichen
Univerfitätsrechts tft zum größten Teil geradezu auf ein Nichtlennen der Ber-
hältnifje und Anſchauungen des achtzehnten Jahrhunderts, weldhe doch bei der
Auslegung des A. L. R. zugrunde gelegt werden müſſen, zurüdzuführen. Um
nur ein ungefährliches Bild der hinfichtlich des Univerfitätsweiens herrſchenden
Rechtsverwirrung zu geben, feien folgende Angaben gemadit:
Das Reichsgericht (Straffahen Band 17 Seite 210) erklärt die Univer-
ftäten für öffentlich-rechtlihe Korporationen und ihre Königlich beftätigten Statuten
für Nechtönormen, was unzweifelhaft aud) dem 8 2 Einleitung: „Statuten
einzelner Gemeinheiten und Gefellihaften erhalten nur durch die Landesherrliche
Beftätigung die Kraft der Gefege“ entſpricht. Eine Konfequenz dieſes prin-
zipielen Standpunftes tft, daß bei einer Abänderung der Univerfitätsftatuten
Rektor und Senat der Univerfität gutachtlich zu hören find — in Gemäßbeit
des 8 62 Einleitung: „Bei Aufhebung befonderer Statuten ... . müflen die-
jenigen, die es zunächſt angeht, mit ihrer Notdurft gehört werden.” (Siehe
aud II 8 8 118, 208). Eine weitere Konfequenz aber geht dahin, daß Ab- -
änderungen der Univerfitätsftatuten nunmehr in der Gefehfammlung zu publi-
zieren find (Art. 106 B.U., Geſetz vom 3. April 1846 8 1, fogenannte lex
‚Schiffer vom 10. Juli 1906). Demgegenüber hält Anſchütz die Univerfitäten
für „der Auffiht und Leitung des Unterrichtsminiſteriums unterftellte Staat$-
anftalten” — „worüber man fi) durch die lorporativ anmutenden Einrichtungen
ihrer Verfaffung nicht täufchen laſſen möge” — und die Univerfitätsftatuten
grundfäglih für „AnftaltSordnungen” mit dem Charakter von Berwaltungs-
vorſchriften, nicht aber von Rechtsnormen. Demgemäß befteht nad Anfchüg
Ein neues Univerfitätsgefeg 247
in der Gegenwart bei Abänderungen der Univerfitätsitatuten und beim Erlaß
neuer Univerfitätsitatuten fein Publilationszwang in der Gefegiammlung.
Hatſchek mahnt gegenüber Anſchütz, auf die Univerfitäten nicht „den Begriff
der modernen Staatsanitalten mit ihren Folgerungen” anzuwenden, bält jene
aber doch im Sinne des A. L. R. für „Stiftungen“, die eventuell grundfäglich
nah Il 19, nit nad dem das SKorporationsredht enthaltenden II 6 zu
behandeln find. Bornhat haralterifiert troß des Einfprudh von Hatſchek die
Univerfitäten weiter als „Korporationen und Anftalten” und arbeitet binfichtlich
des Univerfitätsmefens, ebenfo wie Arndt, weiter mit der Idee eines „felbftändigen”
Berordnungsrechts des Königs.
Bei ſolchem juriftiicden Zwiefpalt über die Grundlagen des Univerfitäts-
rechts find trob guten Willen® auf allen Seiten Differenzen der beteiligten
Kreife unausbleiblih, und der vorgefchlagene Geſetzentwurf ſieht daher (& 2)
in einer erft- und lebtinftanzlicden Nechtiprehung des Oberverwaltungsgerichts
in Berlin das befte Hilfsmittel, auf dem Gebiete des Univerſitätsweſens zu
autoritativ-fiherem Recht zu gelangen. Er zerreißt nicht den Faden der Ent-
widlung, will vielmehr durch die Möglichkeit einer höchftrichterlichen Nachprüfung
die Zweifelsfragen des UniverfitätsrechtS zur Klärung bringen, auch dem in
ben beteiligten reifen obwaltenden Bedürfnis nad) Nechtsgarantien ein Genüge
Ihaffen, insbefondere den Charakter der Univerfitäten als Selbitverwaltungs-
körper fiherftelen.. Es Tann für den Geſchichtskenner jedenfalls nicht zweifelhaft
fein, daß die wiſſenſchaftliche Blüte der Univerfitäten mit geficherter forporativer
Gelbftverwaltung im Zufammenhang ftehbt. Der Sicherung der Univerfitäten
in ihrer Eigenfchaft als Selbftverwaltungstörper dient denn auch der $ 1 des
Geſetzentwurfs. Der Abſatz 2 des 8 1 trägt dabei dem Umftand Rechnung,
daß bisher noch immer nicht alle Fakultäten die in den Univerfitätsitatuten
vorgefehenen, miniſteriell beftätigten Yakultätsftatuten befigen. Zu verſchiedenen
Zeiten find von einzelnen Falultäten auf amtliche Aufforderung Entwürfe von
Falultätsftatuten eingereicht, ohne daß die minifterielle Genehmigung erreicht
wurde. So herrſcht auch in diefer Hinficht Rechtsunficherheit in den einzelnen
Fakultäten und Ungewißbeit, auf. welchen Statutenentwurf gegebenenfalls zurüd-
zugehen ift. Der vorliegende Geſetzentwurf fieht daher vor, daß die Fakultäten,
die noch nicht minifteriell beftätigte Statuten haben, ſolche binnen Jahresfriſt
nad) dem Inkrafttreten des Gefegentwurfs erhalten müſſen.
AN Ss RES! ev) f
ans?
Dom unbefannten Geibel
Don Dr. R. Shadt
. om unbelannten? Was, wird man fragen, kennen wir von Geibel
u fi nicht? Die Quellen für feine Biographie fließen reichlich, auch
RN EB bei nur teilweifer Kenntnis des Nachlaſſes gibt es keine Lücken
Zain ihr, feine Rätſel, nicht einmal ein Problem. Und wer kann
EEE yon einem kaum dreißig Jahre toten Dichter, deſſen erfter Band
noch bei des Verfaſſers Lebzeiten mehr denn hundert Auflagen erreicht bat,
behaupten, er wäre unbelannt?
Aber gerade bie begeifterte Aufnahme, die dieſer erfte Gedichtband gefunden
bat, ift der Grund dafür gemwefen, daß man den ganzen, und man darf wohl
jagen, den beiten Geibel nicht kennt. Das ift nicht eine perfönliche Anficht, ein
fubjeltiveg Urteil, fondern eine Tatſache, die niemand klarer ald der Dichter
felbft empfunden hat. „Ih babe,” äußerte er 1872 gegen Heinrich von
Treitfchle, „Das zweifelhafte Glück gehabt, mit einer frühen Sammlung fehr
jugendlicher Gedichte einen Erfolg zu erringen, der zu ihrem Wert in gar feinem
Verhältnis fteht; was ich dagegen als Dann bei größerer Reife und unter
ernfter künſtleriſcher Arbeit gefchaffen, das ift, wohl eben infolge ber vorber-
gegangenen, für jeden Berftändigen zutage liegenden Überſchätzung verhältnis-
mäßig wenig in biefenigen Kreiſe gedrungen, bei denen ich am liebiten Anklang
gefunden hätte.” Das melandholifhe Schidfal eines, der Modedichter wurde
und verdiente, mehr zu fein!
Die Mode blieb ihm treu bis zu den „uniusliedern“, fie boten feine Über-
rafhungen. Geibel war, wie das Schlagwort lautete, der Dichter der „ſchönen
Form“, und da das große Publilum die fogenannte fchöne Form nun einmal
für etwas ein für allemal Feftitehendes, für eine Art abftralten Geſetzes hält
und auch ohnedies nur mit den größten Anftrengungen dazu zu bewegen ift,
über einen Liebling umzulernen, fo galt des Dichters Entwidlung fortan für
abgeichloffen. Freilich Tann nicht geleugnet werden, daß Geibel felbft nicht wenig
zu diefem verhängnisvpollen Irrtum beigetragen bat. Nicht nur fand er nicht
den Mut, einmal als ſchwächlich Erfanntes in einem bereit3 veröffentlichten
Bande in fpäteren Auflagen zu unterdrüden — bie erften Verſuche vereitelte
der wohlmeinende Rat wibderftrebender Freunde — er verfhmähte es auch nicht,
Dom unbefannten Geibel 249
einen neuen „fälligen“ Band durch Beigabe von älteren oder mehr oder weniger
gelungenen Überarbeitungen von älteren Gedichten auf den nötigen Umfang zu
dringen. So bat er felbft, das Publikum, wie die Kritik täufchend, die Refultate
feines ernften, ftetigen Strebens verwiſcht.
Und mas die Enthufiaften nicht zu würdigen veritanden, wie hätte e3 bie
feit Ende der achtziger Jahre gegen den Gefeierten einfegende Oppofition kennen
folen? War es doch gerade der auf Koften von Mörile und Storm, Hebbel
und der Drofte übermäßig geſchätzte Verfafjer der „Gedichte“ und „Juniuslieder“,
den es anzugreifen galt, die übrigen Bände, die in weitere Kreife faum gewirkt
Hatten, ließ man unzerzauft, zum mindeiten ließ man fi), begreiflicherweife
durch die Lektüre der früheren Bände ermüdet und enttäufcht, durch Geibels
Verwiſchungsverfahren irreführen. Und fo iſt es gelommen, daß man nod)
heute von einem unbelannten Geibel ſprechen Tann.
Das ift feine ausgedachte Konftruftion. Jeder Leſer kann die Probe gleich
an ſich ſelbſt machen. Wir alle haben Bätern und Tanten mit Recht opponiert,
wenn man, wie es felbit Goedele tat, das aus lauter blafier Reflexion zu-
ſammengeſetzte „Minnelied“ lobte, aber wie wenige lennen auch jenes feine Heine
Porträtgedicht „Die Braut“ (aus den „Neuen Gedichten“), vor dem freilich
Möriles „Berlaffenes Mägdlein“ die anſchauliche Situation voraus hat, das
aber fonft an Zartheit der Piychologie und überzeugender Einfachheit in deutjcher
Lyrik unübertroffen daſteht. Wir alle kennen jenen öldruckhaften „Zigeunerbuben
im Norden“, aber wie felten hört man ein Wort über das dritie und fünfte
Stück der „Erinnerungen aus Griehhenland“. Und fo ließen fi nod eine
große Neihe von Gedichten Geibeld anführen, die ſämtlich zu wertvoll find,
um vergefien zu werden’). Bon diefen und ihrem Dichter fol bier die Rede fein.
Bergegenwärtigen wir uns zunächſt deſſen Werdegang. Dft genug bat
man den jungen Geibel grollend einen farblofen Mufterfnaben genannt, was
im ganzen der Wahrheit durchaus entfpriht, ohne daß es, wie man gemollt
dat, feine Lünftlerifhe Begabung in Frage ftelen mußte. Schon früh aber
treten an dem Mufterjüngling, defien jchöne und wohlgeformte Briefe (erfchienen
dei Karl Eurtins, Berlin, übrigens eine wahre Mufterfammlung, die jeder
Sekundaner befigen follte) Goedeles Biographie zugrunde lagen, zwei Charalter-
züge als auffällig hervor: der Drang in die Yerne, nad dem Süden, und bie
feftgemurzelte Liebe zur Heimat. Dieje echt deutiche Vereinigung zweier ſcheinbar
unvereinbarer Charalterzüge iſt bei Seibel nur dadurch zu erflären, daß er
fein Gegenwartsmenſch war. Er fehnte fi) oder ſchaute zurüd, weshalb aud
in feiner Liebesiyrif die Erwartung oder die Klage um den Berluft die Aus-
ſprache glüdlichen Befiges bei weitem überwiegt. Er fehnte ſich oder fchaute
zurüd, aber, wenn aud mit Iyrifher Klage, ohne jede Zerifienheit. Vom
*), Man findet fie in der von mir berau&gegebenen, kürzlich bei Heſſe und Beder,
Leipzig, erihienenen Auswahl aus Geibeld Werten.
250 Dom unbefannten Seibel
jungen Deutſchland, das die geruhfamen Waldesſchatten und das realitätsent-
rüdte taugenichtfige Bummelleben der jüngeren Romantik aus Widerſpruch gegen
eine weichlich entartete, geiftig gelnebelte Zeit gar zu ungeftüm mit einer raſch
aber oberflächlich erfaßten und daher chief und tendenziös gefehenen Wirklichkeit
vertauſchte und deſſen unabweisliche romantiſche Gefühlsrüdftände fi in falſch
geſchminkter Sentimentalität oder in negierendem Weltſchmerz Luft machten,
trennte Geibel eine Welt. Er gehörte noch zu jenen harmoniſch ausge⸗
glidenen Menſchen einer für uns längft vergangenen, uns faft unverftändlich
gewordenen Epoche, die ſich nicht, fozufagen von Gegenſatz zu Gegenſatz fpringend,
fondern langfam in traditioneller Gebundenheit aber organisch wachſend entwickelten.
Bei aller Spielerei, die mit unterlief, waren die Elemente feiner Yugendbildung:
das Baterhaus mit dem proteftantifhen, tüchtigen Bürgerleben, alte Philologie,
von der man damals auf der Schule noch einen lebendigen Begriff befam,
und moderne Dichtung — Schiller, Goethe, Shalefpeare, Heine, die Damals eben
noch nicht fo fehr als Klaffiter fondern mehr modern anmuteten, — feit in
feiner Natur verankert. Und fo wenig ber Gegenmwärtige fi über dieſe
Einflüffe Mar wurde, fo lebendig machten fie fi dem Abmefenden bemerkbar.
Nicht als Entdeder, noch minder als moderner Analytifer ging er nad) Griechen-
land, fondern als ein Verehrender, der das von frommgläubigen Altphilologen
in ihm SHineingelegte und dankbar Empfangene durch eigene Anſchauung zur
höchſten Lebendigkeit zu fteigern trachtete. Aber gewiß war e8 nun ein
Zeichen beginnender Reife, daß er auf griechiſchem Boden bei aller body
gehenden Begetfterung für die Antile doch nicht, wie etwa Platen, felbft zum
Griechen wurde, fondern die in der Heimat wurzelnde eigene Kraft erfannte.
Und fo fpiegelt denn fein erfter Gedichtband weniger da8 in Griechenland
Erworbene (die „Diftihen aus Griechenland” kamen erft in die zweite Auflage)
als den zum Ausdrud drängenden Stand feiterworbenen organifch verarbeiteten
geiftigen Befitzes. Faft alles in diefem Bande ift — bei aller oft und mit
Recht betonten Unfelbftändigleit — fertig, abgeſchloſſen. Sein großer, übrigens
erſt allmählich fich einftellender Erfolg und die Sprödigleit der Kritik werden
zum größten Zeil dadurch erflärt; denn wenn es dem vorwärts blickenden
Kritifer, der feiner Natur nah) das Publitum auf Neues, Zuentdedendes
hinzuweifen bejtrebt ift, befonder8 bei einer Erftlingsarbeit Iodt, Keime des
Neuen, Vielverfprechenden zu finden und hervorzuheben, fo zieht eben das Publikum,
der gleichermaßen Kenntnis wie Witterung vorausſetzenden Arbeit Tritifcher
Spürkunſt den bequemen Genuß auf bereit$ zugänglich gemaditen und belannten
Bahnen vor.
1847 wurden die „Juniuslieder“ veröffentliht. Ste gelten als Geibels
charakteriſtiſcher, vielfach auch als fein befter Band. In der Tat kommt er
bier dem, was man gemeinhin „ſchöne Form“ nennt, am nächſten. Aber alles
gemeinhin Genannte und daher oberflächlich Gelannte ift nichts als ein Schema
und fo tft denn auch tatfächlich die Yorm der „Juniuslieder“ häufig nichts mehr
Dom unbekannten Geibel Ost
als bloße und unperſönliche Abftraktion. Gegen die „Gedichte“ gehalten, find
die Anflänge an andere freilich vermieden, der Inhalt ift bier nnd da reifer
geworden, aber wer merlt es dem Bande, abgefehen von einigen Selbftbefennt-
niffen (Bonatuslieder, Ein Bild) an, daß er in das für den Dichter von be»
ftändiger Unruhe erfüllte Jahrzehnt zwiſchen dem griechiſchen Aufenthalt und
der Berufung nad München fällt? Gerade diefer Unperfönlichleit aber lag
ein perſönliches Streben zugrunde. „Es ift ſchön,“ fchrieb er 1847, alfo
dem Erſcheinungsjahr der „Juniuslieder“, „ein Dichter zu fein, aber e8 ift ſchwer,
unendlich ſchwer. Denken Sie fi ein Gemüt voll vielfeitiger Empfänglichkeit,
vol inniger raftlofer Sehnfucht, voll verbhaltenen Feuers, wie das Gemüt jedes
echten Poeten es fein muß, benlen Sie ſich das tm wechfelnden Verkehr mit
Zaufenden, einfam hineingeriffen in den Strubel blendender Gefelligleit, bewegt
und durchſchüttert von den Pulsfchlägen der Zeit, bezanbert von dem Glanze,
abgeftoßen von der Hoblheit neuer fi ihm aufſchließender Lebensiphären, heute
in fühner Yugendluft anfjauchzend, morgen durch bittere Enttäuſchung gefräntt,
und fühlen Sie dann mit mir, wie ſchwer es fein muß, in dieſem haſtig
ftärmifchen Leben, in all der blühenden Verworrenheit immer das rechte Gleich-
gewicht zu bemahren, immer rein von Eitelfeit und Sinnlichkeit, frei von Selbft-
betrug, Übermut und Verzagtheit zu .bleiben.“ Deutlich fpürt man unter
diefen vorfihtig andeutenden Worten, auf was e8 anlam. Geibel war eben
alles andere als ein bloßer Schöngeift, er war ausgeſprochen choleriſch veranlagt,
ein temperamentooller heißblütiger Menſch. Aber in feinem ganzen Leben, das
wir ziemlih genau kennen, ift fein Abenteuer. Niemals hätte er es fertig
gebracht, aus Leidenſchaft einen Fehltritt zu begehen, nicht aus QTemperament-
lofigkeit, jondern weil er durch die Tradition des bürgerlich tüchtigen fromm- fittlichen
Eiternbaufes gebunden war. Doch oft genug mag er während der rubelofen
Wanderjahre, in denen er bald bier, bald dort das verwöhnte, verführeriich
ungebundene Leben des überall hochgeehrten Gaftes führte, der nur empfing
und nichts zu geben brauchte, als was Laune und QTemperament mühelos ge-
währten, um feinen fittliden Halt, um feine geſunde Weiterentwidfung gebangt
haben. Er jehnte fih nach Ruhe, nad) Bodenftändigfeit, nach einer Lebensform.
Aber vorderhband blieben fie ihm, der fi in fein feltes reales Verhältnis
finden Tonnte, Ideale: die traditionellen Ideale ftanden ihm über den wirklichen
Dingen. Dies eben ift es, was den Epigonen ausmadt. Er wagte nicht, fi
der Leidenſchaft hinzugeben und dichtete fie daher zur „Minne”, dem Begriff des
Mittelalters, um, wagte nicht, fidh der Politit tätig in die Arme zu werfen
und wurde zum Sänger, der über den Parteien ftand. Das ift der Dichter
der „Juniuslieder“, der ſich hinter der idealen Form verftedt, ftatt fie aus ſich
zum eigenen Ausdrud neu zu geftalten. Aber, mag man es nun Zufall oder,
fataliftifcher, Schidfal nennen, feinem Streben ward Erfüllung: er fand eine
fefte Lebensftellung, gründete einen eigenen Hausftand, genoß ſoviel ruhiges
Glück, wie es nur felten einem Sterblichen zuteil geworben ift.
Dom unbefannten Geibel
1D
ot
IV
Er gelangte zur Ruhe; aber nicht bloß zur Ruhe. Er kam nad München
nicht al8 Privatmann, fondern berufen als offizieller Vertreter großer deutſcher
Kunft, als Lehrer an der Univerfität, als Freund des Königs. Er gehörte ſich
nicht reftlos ſelbſt an, er follte und mußte repräfentieren, ein Leben ber
Form führen. Was ihm Ideal gewejen war, die Form, bier wuchs er hinein
und wurde fo zum Nepräfentanten der Form in jedem Sinne. Und fo war
die Form auf einmal fein bloßes deal mehr, fie wurde Erlebnis, das Erlebnis,
das den fpäten Geibel ausmadit.
Doch die Form will Inhalt, wenn fie nicht leer werden fol. Woher aber
follte Geibel, der jegt weniger denn je die Gegenwart finnlich ergreifen konnte
— die Echönbeit der ſüddeutſchen Natur blieb ihm verfchlofien — den Inhalt
nehmen? Da waren es, wie einft in Griechenland die Erinnerung an die
Heimat Geftalt in ihm gewann, jegt jene Erlebnijje, die in ihrer Gejamt-
ftimmung dem forglofen glänzenden Leben, das er in München führte, am
meiſten ähnelten: die feines griechiſchen Aufenthaltes. Aus ihnen ermuchien die
„Srinnerungen an Griechenland“. Es find lyriſch gefärbte Landſchaftsbilder;
aber fie find weder mit Reflexion durchwachſen oder durch hiftorifche Neminifzenzen
gefärbt wie bei Platen, noch aus lebendig aber einzeln erfahtem Detail zu-
fammengefeßt wie bei der Drofte, noch liegt über ihnen der feine norbifche
Geeluftton der Stormſchen Lyril. Es find durchweg Fernbilder, wie die deutſchen
Stalien-Landfchaften der Yahrhundertmitte, mit mwenigem fchlagendem Detail
von typiſcher Beleuchtung in fcharfem Sonnenlicht unter einem weithin ſich
dehnenden Himmel und vor einem weitgeftredten Horizont. Es tft weniger
Zraum in ihnen, weniger Empfindung als ein „wortlos Schauen, tief und Mar“;
das tiefe forglofe Glücksgefühl, wie e8 den Nordländer erfaßt, der ſich zum
eritenmal dem Eindrud der Maren, fonnigen Weite füdlicher Landſchaft bingibt.
Beraufht von Glanz und Düften,
Das Herz in tiefer Muh’,
Bedüntt mich fait, wir fchifften
Den ſel'gen Inſeln zu.
Das ift feine Epigonenpoefie mehr, das ift eigenes Gewächs. Und daß e8 Das
mar, beweiſt Geibels unbeftrittene Autorität im Münchener Dichterfreis.
Niemals Hätten die größtenteils Neues erftrebenden Syüngeren einem bloßen
Epigonen eine ſolche Stellung zugeftanden.
Es fann nicht die Rede davon fein, bier, auf beichränttem Raum das
gefamte fpätere Schaffen des Dichters einer eingehenden Analyje zu unter
ziehen. Die angeführten „Erinnerungen“ mögen als typiſches und mahnendes
Beifpiel genügen. Nur von einer gleichfalls viel zu wenig gelannten Gruppe
muß noch die Rede fein: von den Vaterlandsliedern. Wir Deutſchen find uns,
nach unferer Weife, unfer Beftes allzu gering einzufchägen, faum bewußt, was
wir an dieſen krafterfüllten Liedern für einen wertvollen Schag befigen. Hätten
Sranzofen oder Engländer desgleichen, wir würden Proben davon in jedem
Dom unbefunnten Seibel 253
—
—o —⸗
fremdſprachlichen Schulbuch haben. Von den meift über ihr poetifches Verdienſt
gerühmten Freiheitspichtern ift Geibel an Fülle keiner, an Kraft nur Arndt zu ver-
gleihen. Gewiß läuft in den früheren Stüden bewußte oder unbemußte Nachahmung
des MittelalterS mit unter, gewiß ift manches heute ftofflich veraltet, aber wo ift
zum Beilpiel in unferer jüngften Kriegsigrif irgend etwas, das an repräfentativer
Kraft, an Größe der Gefinnung und formaler Vollendung dem empfindungs-
gefättigten Sonett „beim Ausbrud des Krieges mit Dänemark“, in dem fi
Ianggeftaute Hoffnung in kraftvollen Säten Luft macht und heiße Freude über
bie endlich gelommene Zeit des Handelns brennt, wo etwas, das den Rhythmus
freudig wogender Volksmaſſen deutlidder zum Ausdrud bräcdte als das im
lauteften Jubel noch ernſt wuchtige Lied von Düppel, wo etwas beftimmter und
fühner als das Lied „Was wir wollen“ mit feinem eifernen, auch heute wieder
pafienden Refrain, und melde Siegesſymphonie in dem „Hochzeitslied an Deutich-
land“. Es ift nicht die Stimmung des Augenblids, die uns diefe Dinge wieder
ſchätzen lehrt! fie gehören, ganz abgejehen von ihrer jebigen Aktualität zu
dem beften, was wir von deutſcher Poefle haben, es ift nicht die edle Gefinnung
allein, die uns anfpridt, fondern in mindeftens gleihem Maße die fchlechthin
vollendete Yorm. Hier war Seibel der gegebene Mann. Die Entmwidlung
Deutſchlands zum Kaiferreih war die einzige Hoffnung, die dem verwöhnten
Liebling des Glückes erft nad) langem bangen Harren reifte, neben feiner
formalen Stellung die einzige, die den ganzen Menfchen wirklich und dauernd
ergriffen hatte. Er, der fein Leben lang im Genuffe königlicher Penſionen ftand,
war gleihfam zum Sänger des Volles ſchickſalsbeſtimmt und er entzog ſich nicht,
wann immer die Stimmung des Volles nad) Ausdrud verlangte. Dabei fügte
es das Glüd, das nur verfchwindend wenigen der Heutigen vergönnt ift, daß
er zeitlebens über den Parteien ſtehen konnte und den eigentlichen Ereignifien
fern genug war, um, ftatt am Detail zu leben, nur den großen Allgemein-
beiten in fchlagenden Wendungen und einfachen Bildern, die von allen, dem
Höcjften, wie dem Geringiten mitempfunden werden, Ausdrud zu geben. Hier
fam ihm feine mufilalifche Begabung, der Inſtinkt des Liederdichters zu Hilfe:
fein einziges faft der Stüde in den „Heroldsrufen“ bleibt als Leſegedicht im
Bude fteden, Tein einziges ift bloß der Ausdrud eines einzelnen, an den
einzelnen fi) wendend, alle fordern fie das Echo der Maſſe.
Diefer Geibel zum mindeften tft nicht veraltet. Dielleiht wird man
verſuchen, von Hier aus wieder ein neues Verhältnis zu dem Bielgefchmähten,
nur balb Selannten zu gewinnen.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wirtfchaft
Im Reiche des Geldes von Leo Yolles.
Berlin und Leipzig bei Schufter u. Loeffler, 1915.
Das Bud enthält 44 don den Finanz⸗
berichten, die der Berfaffer im „Zag”, in der
„Zukunft“ und in der „Neuen Freien Preſſe“ zu
veröffentliden pflegt, in drei Gruppen ab⸗
geteilt: Die wirtichaftliche Perſönlichleit; Börfe
und Spieler; Geld, Geldmadt, Geldmacher.
Der Krieg, dad haben ſchon viele aus⸗
geiprochen, ift ein trefflicher Lehrer der Volls⸗
wirtihaft. Das Weſen des Geldes hat Adam
Smith aufgeflärt, aber felbft die Männer
vom Fach vergaßen e8 manchmal, und im
Volke war die richtige Einficht wenig ver-
breitet. Der Krieg nun bat die Wahrheit fo
grell beleuchtet, daß fie auch dem blödejten
Auge nicht länger verborgen bleiben Tann.
Der Reihtum befteht niht aus Geld, fondern
aus Gebrauchsgütern. Das Geld ilt nur dag
Nad, da3 die Güter umtreibt, einem jeden
feinen Einfommenanteil zuführt, dazu Re⸗
präfentant der Güter und Wertmefler. Es
macht niemals auch nur den kleinſten Teil
des Einkommens aus; ein — nicht ſehr bes
deutender — Teil des privaten und des
Volksvermögens iſt es nur in der Geſtalt von
Hartgeld. Die Güter laufen nicht dem Gelde,
ſondern das Geld läuft den Gütern nach.
Das engliſche Geld Läuft jetzt amerikaniſchen
Kriegslieferungen nach und fällt mit ihnen
ins Waſſer. Deutſchland hat Geld, ſeine
Finanzen ſind geordnet, weil es die Güter,
die es braucht, ſelbſt erzeugt, Nahrungsmittel
allerdings nur in nicht ganz ausreichender
Menge. Sonderbarerweiſe ſchreibt Jolles
Seite 181: „Die Zollpolitik hat es dahin
gebracht, daß das deutiche Volt zur Dedung
feines Bedarfd ausländiſches Getreide in
wacjender Menge kaufen muß.” Bekanntlich
hat die Zollpolitif die Yandivirte in den Stand
gejegt, durch Intenſivizierung des Betriebs
den Ernteertrag ftetig zu fteigern und fo mit
dem Wachstum der Bevöllerung einigermaßen,
wenn auch nicht völlig, Schritt zu balten.
Freilih hat die Anwendung dieſes Mittels,
des Zollihuged, ihre Grenzen und vermag
die Urſache der Rahrungsmittelfnappheit, die
Bodentnappheit, nit zu heben Die Auf»
klärung der verſchiedenen Begriffe, die mit
dem Worte Kapital verbunden werden, ver⸗
danken wir Rodbertus. Das Geldlapital ijt
ein Rechtsanſpruch. Die Hypothek, die Aktie
madt den Inhaber zum Mitbefiger eines
Zandgut3, eine® Bergwerks, und verleiht
ibm das Recht, einen Teil des Ertrages, alſo
des Arbeitproduftd anderer, jür fih ein»
zuziehen; der Staatsſchuldſchein weilt auf den
Steuerertrag de3 Staates, alſo auf dag Arbeit»
produft der Geſamtheit feiner Bürger an.
Der Wert eined ſolchen Kapitalftüds hängt
davon ab, ob und in weldem Maße der
Rechtsanſpruch verwirklidt werden Tann.
Marianne muß ihre Rechtsanſprüche in den
Schornftein fchreiben, weil Ruſſen, Serben
und Güdamerifaner keine Zinſen zahlen
fönnen, und Kohn Bull fann die Binjen feiner
in überfeeijhen Unternehmungen angelegten.
Kapitalien nicht hereinbekommen, weil der
Krieg den Weltverfehr unterbindet und eine
Weltdepreifion zur Folge Hat. Nur der Wert
der im Inlande angelegten Kapitalien ift
fiher. Der Wert der Nealgüter gegenüber dem
Gelde tritt dem aufmerffamen Lefer des
Buches don Jolles fchon in dem Umijtande
entgegen, daß die deutfchen Männer, deren
Charafterjfigzen in den Auflägen der erften
Gruppe gezeichnet werden, die Krupp, Loewe,
Nathenau, stirdorf, Thyſſen, Stinnes captains
of labour, Organifatoren der Güterproduftion,
die amerifanishen mehr Spelulanten als
Produzenten, die franzöfifchen Geldfürften find.
Der Krieg hat alſo der Mberfhägung des
Geldes ein Ende gemadt. Aber als unent»
bebrliches Werkzeug des Güterumlauf3 darf
Maßgebliches und Unmaßgeblidhes
es auch nicht unterfhägt werden, und wer ed
rihtig verwenden will, muß die Gejeke
iennen, nad denen es Wirkt. Jolles bat
darum recht daran getan, daß er der Auf
forderung ſeines Berlegerd gefolgt ift, und
ſich dur die don verſchiedenen Seiten zu
erwartenden Einwendungen bon der Ver—⸗
öffentlihung in Buchform nicht hat abhalten
laſſen. Diefe Auffäge hätten doch nur für
den Tag, höchſtens für die Woche Geltung,
werde man fagen; aber „in der wirtichaft-
lichen Entwidlung gibt es Grundlinien, die
immer da find“. In der Tat, was er zum
Beifpiel über dad Weſen und die Biychologie
der Spetulation, über den Unterichied des
franzöliihen vom engliiden Wirtſchaftsleben
jagt, wird bis in eine ferne Zukunft Geltung
behalten, und man wird fih im Wandel der
Zeiten noch oft daran orientieren. Denen
aber, die ihm die feuilletoniftiiche Behandlung
der Geldfragen vorwerfen, werden feine Leſer
antworten, daß fie für die genießbare und
Genuß gemwährende Form dankbar find, in
der er den trodnen und nüchternen Stoff
darbietet. Daß er von der Schulzeit ber
noh mit den Muſen Yühlung unterhält,
bemeift die griehifhe Widmung an Harden,
und mit der Abhandlung über den Börfenwig
bat er die Aſthetik um ein Kapitel bereichert.
Zu vollöwirtihaftlihen Abhandlungen
dürfen ſich Taged« oder Wochenberichte natürs
ih nit auswachſen, aber bie und da hätte
ohne Üiberfchreitung ded Rahmen? wünſchens⸗
werte Auskunft über eine Wichtige Frage
gegeben werden Tönnen. So möchte man in
dem Kapitel über des James Batten Weizen-
corner gern erfahren, um wie viel und auf
wie lange diejer den Weigenprei® erhöht hat,
ob den Weltpreis oder nur den Preis im
Bereich der Union. Ich war bisher über-
zeugt, daß wegen der ungeheuren Menge der
Ware und unter den heutigen Verkehrsver⸗
bältniffen fpelulative Erhöhung des Preiſes
der Brotfrühte ebenjowenig mehr möglid)
fei wie fünftlicher Preizdrud, der Weltpreis
diefer Ware wirklich nur durch das Verhältnig
des Vorrats zum Bedarf bejlimmt werde
(für Länder, die überhaupt oder zeitweilig
durch einen Krieg vom Weltverfehr abgejperrt
find, gibt es natürlich feinen Weltpreis). Ich
mödte nun wiffen, ob Patiens Erfolg oder
Dißerfolg diefe Überzeugung umftößt. oder
255
betätigt, wa nur aus Yablenangaben erjehen
werden Tann. Daß man den Nendelsſohns
ihre Ruſſengeſchäfte nicht ala Verbrechen an«
rechnen, ihnen die Beſchwörung der 1905
drohenden Panik der Ruffenbefiger nicht übel
nehmen darf, ift richtig; Geſchäft ift Geihäft;..
aber bei diejer Gelegenheit wäre die Frage
aufzuwerfen geivefen, wie fich die Regierung
ſolchen Geſchäften gegenüber zu verhalten hat. .
Die fetten PBropifionen, die ruffiihe Anleihen.
abwarfen, waren damals fchuld, daß aud
Blätter, deren Redakteure Rußland Haflen,
die Verbreitung ungünftiger Meinungen über
diefen Staat möglichft Hinderten. Hätten
unfere Staat3männer die Tatſache ind Auge.
gefaßt, daß eine friegerifhe Auseinanders
jegung mit Rußland über furz oder lang
undermeidlih fein werde, dann bätten fie,
wahrſcheinlich die Panik als ein zwedmäßiges
Borbeugungsmittel gefördert. Jolles fpottet:
über die Angft. dee BDeutihen vor der.
Milliarde, über die Bejorgnid, ob die un⸗
geheuren Summen, die den Banken ander»
traut werden, dort auch ficher aufgehoben.
feien.. Ob die Sicerheitömaßregeln zum.
Shug dor Schädigungen durh Bank und
Börfe, die unfere Gejeggeber beliebt haben,
gerechtfertigt und zwedentjprechend find, vers.
mag ih mit meinen ungenügenden finanz».
wiſſenſchaftlichen Kenntnijfennicht gu beurteilen,
aber fo ganz unbegründet find denn dod die.
Beforgnifie de Publikums nicht, da® gern
willen möchte, wa3 mit feinem Gelde geſchieht,
wie die franzöſiſchen Schwindelgeſchichten
beweifen, die Jolles ſelbſt erzählt. Voll
gemacht und ſchonungslos enthüllt hat freilich
das Elend der franzöfiihen Sparer erft der
Krieg, und darüber werden wir ja in dem
verſprochenen ziweiten Bande des „Seldreiches“,
der „Die Wirtſchaft im Kriege“ behandeln
fol und auf den wir und freuen, genaue
Auzfunft erhalten.
Einer der dom Sriege hell beleuchteten
Wahrheiten, die oben flüchtig berührt wurde,
mögen bier noch einige Sätze gewidmet
werden. Franz Oppenheiner hat im Februar⸗
und im Märzheft der Neuen Nundfhau die
volkswirtſchaftlichen Lehren des Krieges jehr
Ihön dargeftellt, hat fi aber durd feinen
piychologifhen Irrtum, dem ich ſchon öfter
entgegengetreten bin — er denit fi die
Menſchen als Wafjertropfen,. die fi) auf jeden
256
Drud Hin nad den Gefegen der Mechanik
bewegen — zu folgender ungeheuerlicher
Mbertreibung des wirtiaftlihen Anpaſſungs⸗
vermögens verleiten lafien: Wenn fi auf
da8 Geheiß de zürnenden Pofeidon im Meer
eine Phãakenmauer erhöbe und England von
der übrigen Welt bermetifh abiperrte, fo
würde Teineswegd eine Hungersſsnot auße
brechen, fondern die hohen Lebensmittelpreife
würden die Kapitalien in die Landiwirtfchaft
Ioden, und über die Zeit biß zum erhöhten
Ernteerirag würden Berteilungsmaßregeln
der Regierung hinwegbelfen. Abgefehen vom
pſychologiſchen Srundirrtum ftehen der Ber
wirflidung der Phantafie drei Hindernifle
im Wege, deren jedes für fih allein ſchon
mädtig genug wäre, das Gelingen gu ver⸗
eiteln. 1. In Deutſchland ift die Anpaflung
der Wirtſchaft an die Kriegdnot gelungen,
weil den Anpafiungsprogeß eine Negierung
leitete, deren Organiſationskraft beiſpiellos
daſteht in der Weltgeſchichte, und weil fie
Dabei von berufſtändiſchen Organiſationen
unterftügt wurde, die ebenfall® ibhresgleichen
nit haben in den übrigen Staaten heutiger
Zeit. In England, wo unter dem Ramen
der Freiheit mandefterlich -individualiftifcher
Schlendrian herrſcht, fehlen ſolche orga⸗
nifierende Kräfte. 2. Bei der deutſchen An⸗
pafſung handelte es fih einmal um die
Überführung von Kapitalien und Induſtrie⸗
arbeitern aus den einen Induftriezweigen in
andere, und zweitend um die Einteilung und
Verteilung der vorhandenen Lebensmittel.
horräte, die zwar fnapp, aber doch eben vor»
handen waren. Den Borrat zu bermehren
ift aud) die erftaunliche deutfche Organifationg«
fraft nicht imftande geweien, und fie wird
aud den Ertrag der nächſten Ernte nit
weientlih über den Durchſchnitt erhöhen.
Andufirieerzeugniffe fönnen mit Dampf- und
Clektrigitätsgefchwindigfeit vermehrt werden,
Pflanzen und Tiere brauden ihre bon der
Ratur unabänderlid beftimmte Leit zum
Maßgebliches und Unmaßgebliches
wachſen und reifen. Und ehe der neue
englifhe Weizen reifte, müßte er erft gefät
werden auf den Flächen, die jet Weide oder
Bar! und Xagdrevier find; dazu wäre bie
Anlegung von einigen hunderttaujend Bauer»
wirtſchaften erforderlid — in einem Lande,
wo es gar leine Bauern mehr gibt; wir
aber, die wir noch Bauern haben, wiſſen,
was trotzdem innere Rolonifation in hundert⸗
mal Tleinerem Umfange für ein ſchwieriges,
langwierige und Toftipielige® Berl if.
8. Und woher die Menfhen nehmen für
diefe® Wert? Nah der Niederiwerfung der
Burenrepublifen feufzte die Saturday Rebiew:
„mehr Land hätten wir nun wieder, aber
wober Bebauer nehmen? Unfere ganz ber»
ftädterte Bevöllerung taugt nicht zu bäuer-
liher Befiedlung.” Aus dem dritten Bande
des Jahrgangs 1918 der Örenzboten Seite 119
und 201 haben wir erfahren, daß ed aud
in Kanada nit erwachſene großftädtifcdhe
Broletarier find, die der weiteren Befiedlung
dienen, fondern Sinder, die frühzeitig ihrem
ungefunden Milieu entriffen, für diefen Zweck
erzogen werden. Und wären diefe drei um
überfteiglihen Sindernife überwunden, fo
Yönnte Englands Bolt immer noch nidt auße
ſchließlich vom eigenen eigen leben, weil die
151000 Quadratlilometer von England und
Wales nun einmal nicht hinreichen, 34 Milli-
onen Menfhen zu ernähren. Der Boden bes
alten Babyloniens und Agyptens hätte je
noch mehr ald 288 Menſchen auf den Quadrat»
tilometer zu ernähren vermodt, und im tro⸗
piſchen, im fubtropifhden Amerila mag eb
noch viel folden Boden geben; aud Indien
würde bei rationellem Betrieb der Lande
wirtihaft und bei mufierhafter Verwaltung
bon Hungersnöten verſchont bleiben, aber
England liegt nun einmal nidt in den
Tropen. Möchten fih unfere Bolikiter nicht
irre führen laffen dur phantaftiide fiber»
treibung der Anpafiungsmöglichleiten!
Dr. Earl Jentſch
Allen Manuftripten it Ports hinzuzufügen, da auberufais bei Ublchuung eine Nüdfenbung
nicht verbürgt werden Tann,
er Grlaubnis des
Natarud fämtiiider Uuffäge nur mit ansbrädiie Beriags geiattet,
Weorautwertii: ber Geranbgeber Georg Cleinon in Berlin - Lichterſelde Weſt. — BRanuftriptiendungen u.»
— Be — unter ber Adreſſe:
ben Geransgeber der © in Berlin - Bidhterfelde Weſt, Gterufirahe 56,
— des Herantgebers: Amt —— 408, bes Berlags und ber Eariftieitung: Umt Süden MEIO.
Berlag: Berlag der Grenzboten ©. m. 5. 9. in Derlin SW 11, Xempeiboiec Uſer Ana.
Denk: „Der Weigäbete" ©. m. 5.9. in Berlin SW 11, Deffauer Strahe 36/87.
Der Preis für Italiens ITeutralität
Don George Ic. Elellan,
Profeffor der Nlationalöfonomie an der Univerfität Princeton U. S.
George Me. Elellan, der für einen vorzügliden Senner der
europäifhen Geſchichte gilt, Hat den nadjfolgenden Auffag in der
Rew Hort Times Magazine veröffentliht. Wir geben jeine Auß-
führungen als Beiſpiel einer „neutralen“ Beurteilung der Sadjlage in
der Tiberfegung von Dr. Reinhold Schmidt ungefürzt wieder, obgleich fie,
joweit fie Vermutungen über die zu erwartende Stellungnahme Italiens
enthalten, durch die Ereignifje überholt find. Die Scriftleitung
enn man den Gerüditen, die wir fürzlihd von Rom vernommen
haben, glauben darf, jo ſchließt das Gebiet, das Italien als
Lohn feiner Neutralität von Oſterreich verlangt, ganz Sübtirol
AM füdlich des Puſtertales ein, ferner Görz, Gradisca, Trieft und
4 ganz Iſtrien mit etwa einem Dutzend der größten Inſeln, die an
der kroatiſchen und dalmatifchen Küfte liegen. Mag es nun die wirkliche
Forderung der italienifhen Regierung fein oder nicht, jedenfall ftellt dies die
Wünſche eines großen Teiles des italieniſchen Volles dar, das kürzlich Die
„irredentiftifche Bewegung“ wieder hat aufleben lafjen, die im lebten Viertel
des neunzehnten Jahrhunderts jo mächtig war.
Im Sabre 1878 erwartete das junge Königreich Italien, im Vollgefühl
jeiner neugefchaffenen nationalen Einheit, vertrauensvoll an der Verteilung der
türfifchen Beute auf dem Berliner Kongreß teilzunehmen. Nicht nur wurde
diefe Hoffnung vereitelt, ſondern Italien hatte auch noch den Schmerz, zu jehen,
wie fein Erbfeind, Ofterreich-Ungarm, die Berwaltung Bosniens und der
Herzegowina zugeiprodhen befam. Als Ergebnis diefer Enttäufhung und
aus Haß gegen Dfterreich erhielt die Bewegung für ein „Größeres Stalien“, die
bi8 dahin nur wenig Fortichritte gezeigt hatte, plöglich große Lebenskraft. Das
Evangelium eines „Italia Irredenta“, des noch nicht erlöften, unter fremdem
Joch jeufzenden Italiens, wurde im ganzen Königreich gepredigt, und feine Prediger
Grenzboten II 1915 17
258 Der preis für Jtaliens Xeutralität
beftanden darauf, daß Italiens Einheit nicht eher vollftändig wäre, als bis alle
Italiener unter der Herrichaft des Hauſes Savoyen vereinigt feien.
Die Sprade wurde zum jchiedsrichterliden Prüfitein gemacht, aber felhft
diefer Prüfftein, der natürlich falſch tft, wurde nicht ftreng und logiſch angewandt.
Die Irredentiſten verlangten die Einverleibung von Südtirol einſchließlich
Trentino und des ganzen Gebietes ſüdlich des Gipfels des Brenner Paſſes mit
ſtark deutfcher Bevölkerung; ferner das ganze öſterreichiſche Küftenland mit
Fiume mit großenteils deutſcher und ſlawiſcher Bevöllerung; ben Schweizer
Kanton Ticino, fowie Nizza, Corfila und Malta. Eine Verwirklichung ber
irredentiſtiſchen Beftrebungen hätte natürlich Krieg bedeutet, und zwar nicht wur
mit Öfterreih, fondern aud mit der Schweiz, mit Frankreich und England.
Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt, als Menotti Garibaldi, einer
von Biufeppe Garibaldis unruheftiftenden Söhnen, in einer Mafjenverfammlung
den Vorſitz führte, die den Zweck hatte, Freiwillige für den Einmarſch in
Trentino auszubeben. Der Premierminifter Cairoli konnte ohne ‘Mühe die
beabfihtigte Freibeutererpedition unterdrüden, und als die Bewegung in
republifanifche, ſozialiſtiſche und anarchiſtiſche Hände geriet, gelang es Depretis
ohne Schwierigkeit, fie in ihre Grenzen zu weiſen. Als 1881 Frankreich Tunis
tn Beflg nahm, auf das Stalien feine begehrlihen Augen geworfen hatte, und
als dann infolgedefien Italien fi) dem Dreibund anſchloß, da erichlaffte bie
Irredentiftenbewegung und ftarb bei der Entbedung der Verſchwörung des
Irredentiſten Oberdank gegen den Kaifer von Vfterreich (1882) faft ganz aus.
Der neue Ausbruch des Irredentismus hat in den legten Jahren ftattgefunden.
Die Jtaliener, die immer von einer Großmacht geträumt hatten, glaubten, baf
1912 ihr Traum dur) die Eroberung von Tripolis ganz verwirklicht worden
wäre. indem fie fiberfahen, daß wirtſchaftliche Feſtigkeit Die einzige Grundlage
fit, auf ber eine Großmacht beftehen Tann, vergaßen fie die Tatſache, daß
Italien erſt kürzlich zahlungsfähig geworben war und zogen den Schluß, daß
fie die politiſch Gleichberechtigten aller Großmächte ſeien.
Dieſes Gefühl der nationalen Selbſtüberhebung führte zu dem allgemeinen
Wunſch nad) ftaatlider Vergrößerung und rief die fogenannte „Nationaliften-
bewegung“ ins Dafein. Die Nationaliften waren, zu Anfang wenigitens, im
ihrem Programm ſehr gründlid. Sie erörterten allen Ernftes die Frage, ben
italieniſchen Königstitel zu verwandeln in ben Titel „Nömifcher Kaiſer“ und
faben mit beftimmter Erwartung der Zeit entgegen, da alle Stüften bes
Mittelmeeres italieniſch und das Mittelmeer felbft ein italieniſcher Binnenfee fein
würden. Der Dreibund hatte „an dem Ringe feitgehalten”, als Italien bie
Zürlei befämpfte, und daher waren die Nationaliften für den Augenbiid
wenigitens bereit, das irredentiſche talien in Ruhe zu laſſen. Außerdem
hätte dieſes das herrliche Gebäude ihrer Hoffnungen nicht befriedigen können.
Der Ausbruch) des Krieges im lebten Sommer veränderte volllommen beu
nattonaliftifhen Standpunkt von Italiens zukünftiger Weltgröße und machte fie
Der Preis für Italiens Neutralität 259
zum Brennpunkte gemifier endgültiger Möglichkeiten. Diefe Möglichkeiten
umfafjen, wie ſchon oben erwähnt, den Erwerb von Trentino und der öfter-
reichiſch⸗ ungariſchen Küfte von Yriaul bis Fiume und außerdem einige Troatifche
amd dalmatiſche Infeln. Die gemöhnlichen Gründe, die zur Stüße der italieniſchen
Anſpruche auf diefe Gebiete vorgebracht werden, find folgende: fie feien faft
ganz von Italienern bewohnt, die dem Königreich Italien angegliedert zu
werden wünjden; fie würden furdibar unterbrüdt und fchlecht regiert, und
bi8 vor kurzem hätten fie der einen ober anderen ber ttalieniichen Provinzen
angehört; kurzum der Erwerb bes neuen Stalien ſei nichts anderes als das
Biedergutmachen eines großen Unrechts, die MWiebervereinigung Italiens mit
Böllern, die ihm geftohlen worden ſeien. Diefe Gründe find fo beftändig
angegeben worden, daß fie allgemein angenommen wurden, obgleich fie natürlich
weit davon entfernt find, im einzelnen zutreffend zu fein.
Die irredentifchen Anſprüche auf Trentino erftredien ſich von der italientfchen
Grenze bis Franzensfefte, ein Gebiet von 96 Meilen. Dies Gebiet wird nur auf
einer Strede von 35 Meilen von ber Grenze von einer italienifch fprechenden
Devölferung bewohnt, und die übrigen 61 Meilen von deutſch fprechenden
Sermanen. In der Stadt Trient, die im Süden liegt, ſprechen von ben
135000 Einwohnern nur zwei Drittel italienifh und ein Drittel deutſch. Das
öfterreichiihe Kronland Görz und Gradiska Liegt zwiſchen dem ttalienifchen
Friaul und Trieft. Bon den Einwohnern find zwei Drittel ttalienifch ſprechende
Italiener, die übrigen find deutſch fpredhende Slawen, während von ben
235000 Einwohnern von Zrieft drei Viertel italienifh fprechen, die übrigen
deutſch. Don den 350000 Bewohnern Sitrtens find drei Viertel Slawen, bie
fibrigen Staliener, und von den Bewohnern Kroatiens und Dalmatiens, ein-
ſchließlich der Inſeln, find nur drei Prozent Italiener.
Bei dem Vorwurf der Unterdrüdung und ſchlechter Regierung ift großenteils
der Wunſch der Vater des Gedanken gewefen, denn die Gemeindeverwaltungen
Dfterreichs können fich fiher mit denen Italiens meflen, und der induftrielle
Wohlftand ift dort in normalen Zeiten fogar größer. Der Hauptkummer ber
Italieniſch⸗Hſterreicher ift das Fehlen einer italieniſchen Univerfität auf öfter
reichiſchem Boden, und Dfterreich hat wenig ober nichts getan, dem zu begegnen.
Man nimmt allgemein an, daß alle öfterreichiichen Provinzen, in denen
Italieniſch die Sprache der Mehrzahl der Einwohner ift, früher und in neueren
Zeiten zu italieniihen Staaten gehörten; das tft aber durchaus nicht der Fall.
Bon Trentino gehörte nur die äußerſte Südfpige bis zu einer Linie etwas
nörblicd des Gardafees zur venetianifhen Republik, bis dieſe verfiel. Das
ührige Trentino war zwar 774 Karls des Großen italienifhem Königreich
einverleibt geweſen, aber ſchon im Jahre 1027 trat Kaiſer Konrad ber
Zweite alle weltlichen Rechte dieſes Gebietes an den Biſchof von Trient ab
und bradite es an Deutichland, dem es feitdem auch immer (beziehungsweife
Ofterreich) angehört hat, ausgenommen während ber Herrichaft Napoleons.
17°
:960 Der preis für Jtaliens Xeutralität
Die Behauptung, daß Saribaldi es im Jahre 1866 eroberte, ift ganz unbaltbar:
Er hatte nur die Grenze überfchritten, als er von Cavour den Befehl zum
Ruckzug erhielt. |
Görz und Gradiska gehörte während eines Teiles des elften Jahrhunderts
dem Patriarchen von Aquileja. Das Land wurde dann nacheinander von ben
Eppenftein- und Lurngan⸗Familien in Beſitz gehalten, und jeit 1500 hat es
mit Ausnahme der napoleoniſchen Zeit dem Haufe Habsburg gehört.
Zrieft gehörte feit dem Untergange des römiſchen Reiches bis zur Ein-
nahme durch Venedig im Jahre 1208 den deutſchen Sraf-Bifhöfen. Bis 1382
war e8 bin und wieder unter der Herrihaft Venedigs und fam dann endgültig
an Oſterreich. Die nicht italienifch ſprechende Provinz Iſtrien gehörte zu
Venedig vom zwölften Jahrhundert bis zum Frieden von Campo Formio 1797,
durch den fie an Vfterreich fiel. Dalmatien, ebenfalls ein nicht » ttalienifches
Gebiet, ift ungefähre während derſelben Zeit zum Zeil unter venetianifcher
Herrſchaft geweien. Bon dem ganzen öſterreichiſchen Gebiet, das die Srredentiften
verlangen, haben alſo nur Iſtrien und die dalmatiſchen Inſeln in verbältnis-
mäßig neuerer Zeit einem italieniſchen Staate, dann aber bundertundacdhtzehn
Sabre lang Ofterreih angehört, dazu find die fogenannten „unerlöften“ Ein-
mwohner zur Hälfte Deutſche oder Slawen und fpreden gar nicht italienifch.
Wenn Trieft und Fiume zu Italien fommen, wird das adriatiſche Meer
ein italieniſcher See. Äſterreich und Ungarn werben weiter nicht3 als Binnen-
ftanten fein, und Deutfhland wird zur See im Diten jeder Ausfuhrfüfte beraubt
werden. Es leuchtet ein, daß weder Deutfhland noch Äſterreich in ein ſolches
Abkommen einmwilligen Tönnen, folange fie überhaupt Heere im Felde haben.
Aber die Frage, die für Italien von größerer Bedeutung ift, lautet: werden
und können die Verbandsmächte (England und Frankreich) einwilligen! Vom
englifhen und franzöfifen Standpunft ift es fchon ſchlimm genug, wenn das
Schwarze Meer ein ruffiicher Binnenfee werden und Rußland als Mittelmeer-
macht ein Viertel des Mittelmeere8 beherrſchen ſollte. Es ſcheint kaum möglich,
daß ſowohl England wie Frankreich erlauben werden, daß Italien die völlige
Beherrſchung der Adria erlangt mit der möglichen Ausſchließung der ganzen
übrigen Welt. Nachdem fie gezwungen worden find, die Anwartſchaft von
einem Viertel des Mittelmeeres Rußland zu überlafien, werden fie fidher nicht,
wenn fie e8 auf irgend eine Weiſe vermeiden können, ein zweites Biertel an Italien
abtreten.” Dem Schaufpiel, das Jtalien das einzige öſterreichiſche Ausfuhrgebiet
zur See beherrfät, kann weder London noch Paris mit Gleichgültigleit zu-
ſchauen. Und do nimmt die italieniſche Prefie an, daß Italien, wenn es zu
den Ententemächten überteitt, nicht nur die Beherrihung und den fait ganzen
Befig der Adria erhält, fondern auch „feinen Anteil an der türkiſchen Beute“
befommt; und zu alledem noch obendrein ganz Trentino.
VWDie Irredentiſten umfaffen nicht nur die Nationaliften, die in fait allen
Parteien vorhanden und nur durch ihren Chauvinismus loſe vereinigt find,
Das italienifhye Parlament 261
fondern auch die große Mehrheit der vier revolutionären proletarifchen Parteien:
die Republifaner, Sozialiiten, Synbilaliften und Anardiiften. Es tft unmöglich
zu fagen, wie weit dieſe lebteren von einem Geifte aggreifiver, nationaler
Politik getrieben werden und wie weit durch den Wunſch, eine Lage zu ſchaffen,
die zum Sturze des jekigen Königshaufes führen kann. Gegen den Krieg find
faft alle Mitglieder der induftriellen Mittelllaffe des Nordens, die ſeit Auguft
durch ihse Lieferungen an Frankreich und Ufterreich zu großem Wohlſtand ge-
langt find; ferner die Artftofratie aus Furcht vor einer proletarifchen Revolution
und die Kirche aus Yriebensliebe.
Signor Salandra und feine Kollegen glauben aufrichtig, daß ein nationaler
Gewinn aus dem Kriege herausgeichlagen werden muß, und auf jeden Yall
werden fie es vorziehen, diefen Gewinn auf frievlidem Wege zu erlangen.
Die Erhaltung der italienifchen Neutralität beruht alfo auf der Frage, inwieweit
Ofterreich ſich auf eine Abtretung einlaffen und bie nationalen Wünfche Stalieng
zufrieden ftellen wird.
Wenn es wahr ift, daß Lfterreich ſich erboten hat, das utalieniſchſprechende
Trentino abzutreten (was übrigens das einzige iſt, worauf Italien mit Sicherheit
rechnen Tann, wenn es den Ententemächten beitritt), fo follte e8 fcheinen, daß
es die Aufgabe einer Tlugen italienifhen Staatstunft ift, das Angebotene
anzunehmen und Italien die unnennbaren Schreden eines Krieges zu erfparen.
Das italienifche Parlament
Don Dr. M. de Jonge
Ber Zufammentritt des ttalienifhen Parlaments, deſſen Beratungen
diesmal weltgeſchichtliche Bedeutung hatten, lenkt den Blick auf
die ftaatsrechtliche Strultur dieſer Vollsvertretung. Artifel 8 der
italieniſchen Verfaſſung vom 30. Dezember 1870, die in ber
Hauptſache Iedigli die rezipierte Verfaſſung des Königreichs
Sardinien vom 4. März 1848 ift, teilt die gejebgebende Gewalt dem König
und den beiden Kammern, Senat und Deputiertenlammer, gemeinfam zu. Der
Begriff „Parlament“ findet fi) nicht in der Verfaſſung, wurbe aber ſchnell im
der Sprache der Geſetze und ber Praxis gebräuchlich. |
Der Senat befteht aus zwei Gruppen von Senatoren: geſehlichen unb
ernannten. Die „geſetzlichen“ find die Prinzen des Königlichen Hauſes, die
mit 21 Yahren Sig und mit 25 Yahren Stimme im Senat haben. Die
„ernannten“ Senatoren werden nad) vollendetem vierzigften Lebensjahre aus
262 Das italienifhe Parlament
fünf Kategorien gewählt: aus den Erzbiſchöfen und Biſchöfen; aus Staats.
männern (Minifter, Deputierte, Botfchafter); aus hoben Staatsbeamten,
Offizieren und Gelehrtentreifen; aus Männern, die „durch Dienfte oder Ber-
bienfte das Vaterland berühmt gemacht haben“; aus den reihen Leuten (das
heißt foldden, die feit drei Jahren 8000 Lire direkte Steuer zahlen). Die Zahl
der Senatoren betrug feit 1870 rund 860; doc kam e8 im Juni 1886 zu
einem „Senatorenſchub“ von 41, fo daß der Senat jekt rund 400 Mitglieder
zählt. Wiederholte Verſuche einer demokcatifierenden Reform des Senats (Ein-
ſchraͤnkung des Ernennungsrechts, Feitfegung einer Höchſtzahl und anderes)
find bisher ſtets (zuletzt 1910/11) gefcheitert.
Dagegen tft die heutige ftaatsrechtliche Geitaltung der Deputiertenlammer
das Ergebnis der gleichzeitigen parallelen Reformbeftrebungen. Nach mand)erlei
auch bier vergeblich unternommenen Verfuchen gelang es Giolitti im Jahre 1911
bie Reform durchaufegen, und am 80. Juni 1911 wurde das neue Wahlgeſetz
veröffentlicht. Das aktive Wahlrecht befiten: alle Staatsangehörige, die 30 Jahre
alt find; alle, die 21 Jahre alt find und entweder 1. Militärbienft geleiftet
haben oder 2. die Beringung eines beftimmten Steuerzenfus erfüllen oder
8. „Kapazitäten”.Wähler find, das heißt Die Bedingung einer gewiſſen geiftigen
Bildung duch den Nachweis beftandener Prüfungen erfüllen (eine Verordnung
vom 10. Juli 1912 regelte das Minimum diefer „Wahlprüfungen”). Die
Ausübung des Wahlrechts erfolgt nad Artikel 19 am Drte des „dauernden
Aufenthaltes" (mit Nüdficht darauf, daß in manden Gegenden und Be
völferungstreifen Italiens von geringer Seßhaftigkeit ein „Domizil“ fehlt), tft alfo
auch bier im Sinne einer Erweiterung des Kreifes der Wahlberechtigten erleichtert
worden. Durch diefe Reform tft die Zahl der Wähler von etwa 3!/, Million
auf etwa 7°/, Million (darunter 21/, Million Analphabeten, bejonders viele
in Süpditalten) vermehrt worden. Die Wahl iſt geheim und dire. Das
Wahlgeheimnis ift duch eine dem deutſchen „Kloſettgeſetz“ nachgebildete Be⸗
ftimmung des Reformgeſetzes in höherem Maße geſchützt als früher.
Das paffive Wahlrecht tft durch das Reformgeſetz nur unweſentlich ver-
ändert worden. Es ift in der Hauptſache noch immer basfelbe wie in ber
Sardiniſchen Verfaffung vom 4. März 1848, die durch die Beichlüfie der
Rationalverfammlung vom 30. Dezember 1870 zur Verfaflung Italiens erflärt
wurde. Immerhin haben einige fpätere Gefeße, zuletzt das Wahlgeleb von
1882, einige Änderungen eingeführt. Wählbar ift jeder Staliener, der 80 Jahre
alt ift, falls er nicht ein Amt befleidet, welches „inlompatibel” mit dem eines
Deputierten tft: bierher gehören Geiftliche und die meiften Kategorien der Staats»
beamten; es find dagegen wählbar die Generale und höheren Offiziere, Mitglieder
der Kaffations- und Apellhöfe, ordentliche Untverfitätsprofefioren und andere.
Doch dürfen nach der fehr weiſen Beftimmung des Gefebes von 1877 höoͤchſtens
40 Beamte in der Kammer ſitzen, von denen höchftens zehn Richter und hoͤchſtens
zehn Univerfitätsprofefioren fein Dürfen (bei Mehrwahlen entſcheidet das 208). Das
Das italienifhe Parlament , 263
neue Wahlgefeb von 1911 bat diefe Inlompatibilitätshinderniffe nur in einem
unweſentlichen Punkte abgefhwächt (Bürgermeifter und Provinziallandtags-
abgeordnete, die früher erſt ſechs Monate nad) Niederlegung ihres Amtes
wählbar waren, find es jetzt ſchon nad) acht Tagen, das heißt de facto fofort).
Die Deputierten erhalten nah dem neuen Geje 2000 Lire Poſtkoſten⸗
entihädigung und 4000 Lire Aufwmandsentihädigung mit Ausnahme der
(unmittelbaren und mittelbaren) Staatsbeamten, die Gehalt oder Penfion be-
ziehen (ijt deren Betrag geringer als 4000 Lire, fo erhalten fie die Differenz).
Die Anregung, diefer Entihädigung (nad) Analogie des deutſchen Reichsſtaats⸗
echt) den Charakter von Anmefenheitsgeldern (mit Abzugsredht im Abweſen⸗
beitsfalle) zu geben, aljo eine indirekte Präfenzpflicht einzuführen, fiel in Italien
nit auf fruchtbaren Boden.
„Die Zahl der Deputierten für das ganze Königreich) beträgt 508 und
wird auf die verfhiedenen Provinzen verteilt.” (Artilel 44 des Wahlgejepes
son 1882.) Nach einem Geſetz von 1860 follte ein Deputierter für je 50000
Einwohner gewählt werden. Infolge der Verſchiebung der Bevölferungs-
serhältnifje (ftarle Zunahme in diefen, geringe in jenen Wahllreifen) bat fich
im Laufe eines halben Jahrhundert das anfängliche „Verhältnis“ in vielen
Kreifen, ganz ähnlich wie in Deutfchland, zu einem „Mißverhältnis“ entwidelt,
welhes eine ſchwere wahlpolitifche Ungerechtigkeit bedeutet, um fo mehr als,
ahnlich wie im deutfhen Wahlgefeg, die Anderung der Wahlfreigeinteilung
entfprechend den Ergebnifien der Vollszählung im Geſetze (Artikel 46) ausdrücklich
zugefagt war. Daß diefe Zufage auch in dem neuen Wahlgeſetz von 1911 (im
Artikel 54) ausdrücklich wiederholt, aber die Änderung der Wahlkreiseinteilung
dennoch unterlaffen wurde, wird in der Abhandlung eines Univerfitätsprofeflorg
aus dem jahre 1913 Über diefes Geſetz „eine geradezu empörende Beftätigung
eines abfichtlich aufrecht erhaltenen geſetzwidrigen Zatbeftandes” genannt. Diejer
tapfere Profeſſor heißt Siotto Pinto und wirkt an der Univerfität Catania.
Don deutfcher Kultur und deutjcher Sreiheit
Auch eine Kriegsbetrachtung
Don Dr. jur. et phil. Eri Jung o. d. Profeflor der Rechte
(Schluß) 4
Der zweite große Kampf der Deutſchen war geiftigerer Art; er galt ber
Befreiung der Gewiſſen von der dogmatiiden Schablone, die von derjelben
mittelitalienifeden Stadt ausging, die auch noch in Trümmern eine anjcheinend
unüberwindlicde Suggeftion des von ihr ausgehenden Weltimperiums ausübte.
Man darf die Reformation als einen deutſchen Kampf bezeichnen, denn die
älteren Beftrebungen auf eine Erneuerung des Glaubens, in Südfrankreich, tin
England, in den ſlawiſchen Ländern, waren doch eben nicht erfolgreich geweſen,
und nur bie deutſche Bewegung tft in die Breite und auf die Dauer durch ⸗
gedrungen. Man follte fi dur die Unzulänglichleit und Halbheit der
fogenannten Reformation, die befonders in ihrer Iutherifchen Seftalt fofort wieder
in gleiche oder ähnliche Fehler verfiel wie Die alte Kirche, und durch die furdhtbaren
polttifden Schädigungen, die die Reformation mittelbar über Deutſchland bradhte,
nicht den Blick trüben laſſen für ihr eigentliches geiftiges Weſen; diefes tft vielleicht
in der Herder-Goetheichen Zeit zu einem fehärferen, jedenfalls zu einem höheren
Ausdrud gelangt als in den Männern des fechzehnten Jahrhunderts. Jene
weiteren, mittelbaren Errungenfchaften der Reformation find dem heutigen deutfchen
Katholizismus zunächſt durch die tridentintfchen Reformen und mittelbar durch
die Befeitigung feiner Alleinherrichaft ebenfo zugute gelommen wie den Gegnern
und haben ihm zu einer Verinnerlihung und Vertiefung verholfen, die er ohne
die Notwendigleit des fteten Kampfes faum erreicht hätte, und die ihm anderswo
fehlt. Zwiſchen dem wirklich auf dem SKulturniveau feiner Nation jtehenden
deutſchen Katholiken von heute und etwa einem venetianifchen Landgeiftlichen,
felbft wenn er auf dem päpftliden Stuhle fit, ift der Unterſchied der wirklich
in ihnen lebenden religiös - metaphpfiichen Überzeugungen größer als zwifchen
jenem katholiſchen Deutſchen und einem nichtlatholifchen Deutſchen. Deutichheit
tm tiefiten Sinne ift auch eine ethiſche Grundſtimmung und damit eine Religion.
Es gibt eine wundervolle Stelle in Goethes Zagebüchern, vom 7.Januar1812,
die fi vielleicht einmal diejenigen Deutichen verfchiedener Belenntniffe gejagt
Don deutfcher Kultur und deutfcher Sreiheit 265
fein laſſen werden, die troß verfchiedener Begründungen und theoretifchen
Faſſungen doch über das Ethiſche und über das Vorhandenfein einer über-
imdividuellen Bedeutung des Einzeldaſeins einig find und praltifch danach
bandeln. Goethe erzählt darin von feinem Beſuch bei einem Bergdireltor, ber
die nad) Goethes Anficht verfehrteiten geologiichen Theorien entwidelt, der aber
jeinen Betrieb auf die zwedmäßigite und verjtändigfte Weiſe geitaltet bat.
„Merkwürdig fiel mir dabei wieder auf,. daß tüchtig praktiſche Menfchen von
den theoretiſchen Irrtümern keineswegs gehindert werden, vorwärts zu gehen...
Dies belehrt uns, in dem menſchlichſten Sinne, tolerant gegen Meinungen zu
fein, nur zu beobachten, ob etwas geſchieht, und das übrige, was bloß Worte
find, guten und vorzüglihen Menſchen rubig nachzuſehen.“ Es find ja auch
meilt nur bie Theoretiler der Religion, die Theologen, die immer nur das
Zrennende der verjchiedenen chriftlichen Konfeſſionen fehen und betonen.
Die europäifcde Geiftesgefchichte „ift eine große Yuge, in der die Stimmen
ber Bölfer nadjeinander erklingen”, beißt es einmal im Wilhelm Meifter. Die
Renaifjance hat ihre eigentliche Heimat und ihre wefentlichften Wirkungen in
Stalien, die Neformation in Deutichland, die Revolution in Franfreih. Diefe
drei großen geiftigen Bewegungen bilden in biefer ihrer zeitlichen Aufeinander-
folge zwar feineswegs eine organifche Entwidlungsreihe, und fie hatten jeweils
ihre Hauptwirfung auf fehr verfchiedenen Gebieten. Man verfteht gewöhnlich
oder wenigitens man verftand bis vor kurzem unter Renaifjance im bejonderen
Sinne die „zunehmende Beichäftigung mit den das Mittelalter hindurch erhalten
gebliebenen Schriftwerlen des Altertums“. Das ift aber fider zu eng. „ES
war doch nicht fo,” fagt Rohrbach in feiner Geſchichte der Menfchheit mit
Recht, „daß man über die antike Literatur zu der neuen Bildung kam, fondern
jo, daß das Verlangen nad) diefer neuen Bildung zu den Quellen des antilen
Kulturideals führte.” Die Renaiffance wirkte wejentlih auf die künjtlerifche
und wiſſenſchaftliche Betätigung, während die Reformation eine religiös-ethifche,
die Revolution eine politiſche und foziale Bewegung war. Aber trotz dieſer
Berihiedenbeiten war der Ausgangspunlt dieſer Bewegungen ein gemeinjamer,
und diefer Punkt, der Erbbebenherd könnte man jagen, war das Individuum.
Jakob Yurdhard Tennzeichnete das Weſen der Renaifjance als das Erwachen
und die Befreiung des Individuums.
Die durch die deutiche Neformation angeftoßene Bewegung — die natürlich
leineswegs erichöpft oder gleichbedeutend ift mit der Neformationsbewegung des
fehzehnten Jahrhunderts und noch weniger mit einer heutigen proteitantijchen
Kirche beftimmter Faſſung — bat die gleiche Grundlage: daß das einzelne
Gewiſſen nach eigener fubjeltiver Überzeugung verlangte, nad) einem, feinem
eigenen Innern zwingenden, nicht nach Autorität und Überlieferung gefundenen
Ürteil über Gut und Böfe, über Wahr oder Unwahr.
Die franzöfiiche Revolution ift nach den beitimmenden Ideen, Die durch
alle geſchichtlichen Zufälligkeiten, alle UÜbertreibungen und Rückfälle ſchließlich
266 Don dentſcher Kultur und deutſcher Sreiheit
doch als das allein Dauernde erkennbar berportreten, eine Wirkung der Ratur-
rechtslehre; die Raturrechtslehre aber fteht in nachweisbarem Zufammenhang mit
Nenaifiance und Reformation. Das „natürlihe” Recht, Billigleits- oder Ber»
nunftsrecht tft, in fo verſchiedenen Geftalten und mit fo mannigfachen Ber
gründungen e8 im Lauf der Jahrtaufende auch aufgetreten tft, fchließlich nichts
anderes, als die Gegenfäplichkeit zu dem nad) objektiven Merkmalen gegebenen,
in Sagungen und gefchichtlichen Überlieferungen gefundenen Urteil über Recht
oder Unrecht; die eigene fubjeltive Meinung über Recht oder Unrecht, die nad
des Ratio der heutigen Zeit und fchließlich nach dem fubjektiven ethifchen Wert
urteil des ausfchlaggebenden Individuums gefundene Ausjage über Recht oder
Unredit.
Die Gefahren der ratiomaliftifhen Überhebung des Subjelts, die Unter
ſchätzung der in der Überlieferung und in dem Beſtehenden verlörperten, die
individuelle Einfiht allerdings, befonders in ftaatlich rechtlichen Dingen häufig
überragenden Vernunft der früheren Generationen und der ganzen Gattung, fud
dabei am anfchaulichften zutage getreten in der zeitlich letzten Bewegung, in der
Revolution, mo fie vielleicht befördert wurde durch die befondere, vormiegend
verftandesmäßig dialektiſche Beiftesart der Franzofen.
Aber die Gefahr fit an fih auch auf anderen Kulturgebieten gegeben:
die Gefahr einer Überfhägung der eigenen Zeit und des eigenen Ich, oder
auch einer Überfpannung der Anfprüde an das Individuum, dem nad) Dauer
und Wirkungskraft von der Natur fo enge Schranfen gezogen find, daß es eben
do an allen Enden wieder auf die Binfiht und die Mitarbeit der Mitlebenden
und Generationen vor ihm, auf deren Arbeit e8 weiterbaut, angemiefen if,
und damit doch wieder auf die überindivibuellen Kräfte und Zufammenhänge.
Wie wenig kann ſchließlich der einzelne wirklich fich geiftig felbft erwerben von
ben unzähligen Erfenntniflen, die er jeden Tag braucht; wie viel muß auch der
Selbftändigfte, einen wie unendlidy überwiegenden Teil feines geiftigen Beſty⸗
ftandes muß auch das größte Genie aus der Überlieferung übernehmen. Der
Proteftantismus überfpannt unzweifelhaft dem Prinzip nach den indivibualtftiichen
Gedanken und vernadjläffigt den Gegenpol, dab ſchließlich zu allem größeren
Bollbringen aud) wieder eine Vereinigung der Überzeugungen nötig tft; wie es
Mietzſche, natürlich Übertreibend und paradox in „Jenſeits von Gut und Böfe“
ausdrädt: „Daß das Weſentliche, wie es fcheint, im Himmel und auf Erden
tft, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde. Dabei kommt und kam
auf die Dauer immer etwas heraus, befientwillen es fich lohnt auf Gxden
zu leben.”
Daß die Reformation von jenen drei Bewegungen die am tiefften wirkende
und am mweiteften reichende war, kann nicht zweifelhaft fein. Die franzoͤſiſche
Revolution mit ihren Maßlofigleiten und ihrem widergefchichtlicden Radikalismus
bat infolge der durch fie hHervorgerufenen, begründeten Rückſchlaͤge der Sache
einer vernünftigen politiiden Freiheit mehr geſchadet als genügt. Die großen
Don deutfcher Kultur und dentfcher Sreiheit 267
Wirkungen, die fie in der Geftalt des Phänomens Napoleon auf Deutſchland
“ hatte, daß fie die weltbürgerlih und rein humaniſtiſch gefinnten Deutichen durch
die äußerte Not zu politiidem und nationalem Denten erzog und eine Unmenge
von Berüdentümern, wie Garlyle fagt, ausflopfte, war ja faktiih nur eine
jehr ungemwollte pofitive Wirkung. So groß die Wirkufgen bes Humanismus
und der Renaiſſance auf wiſſenſchaftlichem und künſtleriſchem Gebiet auch waren,
au diefe Bewegung umfaßte fchließlih doch ein engeres Gebiet, verglichen
mit der Reformation, die die Menſchen an ihrem Tiefiten faßte, an ihren
ethiſch⸗ religiöſen Überzeugungen, die eben doch den Kern des Perſönlichen aus-
maden und die Vorausſetzung jeder wirklichen Produktivität auf allen geiftigen
Gebieten bilden. „Die Menſchen find nur folange probuftiv, als fie nod)
religiös find,” fagte Goethe am 26. März 1814 zu Riemer; wobei freilich feine
Borftellung von Neligiösfein fi) weber mit der Tatholifchen noch mit einer
anderen beftimmten Tonfeffionellen Auffaffung dedte, wenn fie foldde auch ihrer-
ſeits ſehr wohl mit einfchließen Tonnte. |
Daß auf religiös -ethifhem Gebiet die norbeuropäifch »- germanifdhe im
Gegenſatz zur antik - mittelmeerländifhen Kultur eine neue und felbftändige
Form und nicht etwa eine bloße Ableitung der antifen Kultur darſtellt, wird
niemand beftreiten wollen, troß der vielfachen helleniftifch - femitifchen Elemente
der älteren dogmatifchen Formen der chriftlichen Belenntnifie, der Dogmen, die
ja leineswegd immer der zutreffende Ausdruck ber lebenden und wirkſamen
Religion ihrer Belenner find. Auf ftaatlich » rechtlichem Gebiet find, wie wir
faben, tro mehrfacher Haffiziftiicder Nüdichläge, wenigftens im Mutterlande der
nadantifen Kultur, in Deutichland, die Grundzüge des germaniſchen Geſellſchafts⸗
aufbans erhalten geblieben, der auf die Freiheit und das Eigenleben der Teile
einerfeit8 und anderjeitS auf die intenfive Bindung des Individuums nicht
an die Bentralgewalt, fondern an die gewachſenen Verbände gegründet ft.
Auch auf diefem nächſt dem religtös-etbifchen wichtigiten Gebiet der menfchlichen
Kulturarbeit ftellt deshalb die moderne neuzeitige Kultur eine felbftändige Form
das und ift nicht etwa nur eine Tochter der Antife, eine „romaniſche“ Kulturform.
Auf äſthetiſchem Gebtet wird man vielleidt am ebeiten geneigt fein,
der antilen Kultur auch für unfere Zeit noch eine beftimmende Rolle zugufchreiben
und inſofern dem romanifchen Kulturkreis den Vorrang und bie Überlegenheit
gegenüber dem nordeuropäifhen modernen zuzufprehen. Aber das wäre,
teoß eines gewiflen Anſcheins, doch ebenfalls unrichtig. Zwei Künfte, Malerei
und Muſil, haben fi) im nordeuropäifch- modernen Kulturkreis völlig unabhängig
von der Antike entwidelt, wobei unter Malerei die Augenkunſt zu verftehen
iſt, deren Hauptausdrudsmittel Farben- und Lichtunterfehiede find, im Gegenſatz
zu des Malerei, für die die Form noch wefentliches oder alleiniges Ausdrucks⸗
mittel ift; die Sirtinafresfen Michelangelo find in diefem Sinne noch zur
reinen Formiunft zu rechnen und eher Bilbnerei als Malerei. Die Malerei
nun im diefem modernen Sinn als Kunft der Yarbe und des Lichts ift eine
— — ——
268 Don deutſcher Kultur und deutſcher Freiheit
moderne und zwar eine germaniſche, ſpezieller niederdeutſche Schöpfung; fie iſt
entftanden im Rheindelta durch die van Eyds, und bat in derfelben örtlichen
und volllihen Umgebung auch ihre höchſte Spitze erlebt in Rembrandt. Und
daß die zweite für die moderne Kultur im Gegenſatz zur antiken Tennzeichuende
Kunft, die große Mufil, im Mutterlande der nordeuropäiſchen Kultus, in
Deutſchland ihre höchſte Blüte erfahren hat, wird ja wohl aud) von den anderen
Nationen zugegeben.
* *
*
Entfpreddend jenem Grundprinzip germanifcher Geſellſchafts organiſation —
in der oben angeführten Tainefchen Faſſung „Zuſammenwirken von Initiativen,
die von unten ausgehen,“ Föderalismus, Bartilularismus — find bie
germanischen Länder immer die eigentliche Heimat der Freiheit geweſen. Defien
war man fih auch in früheren Jahrhunderten immer bemußt. Das konnte
au nach dem Verlauf der Religionsbemegung im fechzehnten und fiebzehnten
Jahrhundert gar nicht anders fein, als Zaufende und Tauſende von religiös
und politiſch erfolgten in Deutfchland eine neue Heimat ſuchten und fanden;
befonders die großen Züge der Refugies aus Frankreich nad der Aufhebung
des Edikts von Nantes und die Emigres in der NRevolutionszeit, die vor der
„liberte, egalite, fraternit&“ flohen, in deren Namen befanntlich politiicde Ver⸗
folgungen, Hinrichtungen und Austreibungen in einem Umfang vorlamen, wie
faum jemald „unter dem verabſcheuungswürdigen Deipotismus“ der Könige.
Deutfhland hatte fih in den Kämpfen um die Erneuerung der chriftlichen
Religion für zwei Jahrhunderte politiih vernichtet. Aber es war um dieſen
freilich furchtbaren Preis doch auch das Land geworden, in dem das verhältnis
mäßig höchſte Maaß von religiöfer Duldung zu finden war.
Im Don Uuichote läßt Cervantes einen ber flüchtigen Mortslos fagen:
„sch begab mich nach Deutichland. Dort [dien es mir, daß man noch am freieften
Ieben könne. Beinahe überall in diefem Lande genießt man Gewifiensfreiheit.”
Die rechtlide Lage war tatfächlich nicht fo günftig, daß man von Gewähr-
leiftung der Gewifjensfreiheit hätte reden Lönnen. Denn der Landesherr konnte
von feinen Untertanen den Beitritt zu feiner, des Landesherrn, Konfeilion oder
die Auswanderung verlangen. Aber dies Recht wurde, bejonders in ben
peoteftantifchen Gebieten, nicht ftreng gehandhabt. Und vor allem: bie Biel-
geitaltigleit der politiihen Gebilde ließ fchließlih auch den, der die Heimat
verlafien mußte, immer irgendwo in deutſchen Landen eine Staatsgewalt feines
Belenntniffes finden. Dieſer kulturelle Segen der SKleinftaaten wiegt ihren
politifchen Unfegen nicht ganz auf. Aber er ift jedenfalls ein Umftand von größter
Bedeutung für die deutſche Geiftesentwicdlung und eine der wichtigiten Urſachen
der Dtannigfaltigfeit und Tiefe des deutichen Geiſteslebens geweſen. Chriftian
Wolff fand, bis ihn Friedrich der Große nad) Halle wieder zurüdberief, von wo er
dur Friedrich Wilhelm den Erjten verjagt morden war, in Marburg einen ganz ent-
Don deutfcher Kultur und deutfcher Freiheit 2369
ſprechenden Wirkungskreis. Die Göttinger Sieben fanden bald ihre Stellung
und ihren Lehrſtuhl bei anderen Zandesherren wieder, und wenn es auch viel-
leicht nur geſchah, um den viellieben Better von Hannover zu ärgern. In
Deutihland kann fi durch die Vielheit der Brennpunkte geiftigen Lebens nicht
in dem Sinne eine herrſchende Meinung entwideln wie anderwärt8; bie Diel-
geitaltigleit des deutichen Geifteslebens läßt die Tyrannei des Gout oder Cant
nit. auflommen.
In den geiftigen Kämpfen des ſechzehnten Jahrhunderts galt allgemein
das Heimatland der Reformation und der Buchdruckerkunſt auch als das Land
ber mweitgehendften Toleranz und der freieften Ausiprache.
Db der Germane gutmütiger ift al8 der Romane — wie denn die ftarfen,
ungeſchlachten Naturen vielfah von verhältnismäßig fanftmütiger Art find —
oder ob, was das Wahrſcheinlichere ift, die einheitlichere Volksart zwiſchen
Rhein und Elbe die Urſache ift, fei dahingeſtellt. „Die Franzofen haben in
jhwierigen Lagen immer zum Maffacre gegriffen, um die DObftruftion zu über-
winden, von den Tagen der Kreuzzüge gegen die Albigenjfer im breizehnten
Jahrhundert bis zur Vernichtung der Parifer Kommune im neunzehnten. Hinter
dem Terror von 1793 ftehen nicht nur die Bartholomäusnaht und die Ber-
folgungen, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes einfesten, fondern noch
ungezäblte andere Mebeleien wie jene, die unter der Regierung Ludwigs des
Vierzehnten ftattfanden“, fagt Brooks-Adams, der amerilanifhe Geſchichts⸗
philofoph.
Boltatre bat von dem tigre-singe gefprochen, der im galliiden Volkstum
ftede. Unter den von Herrn Gayot de Pitaval berichteten Rechtsfällen finden
fi Gefchichten von einer Scheußlichkeit, einer Graufamleit der Vollsgenoſſen
untereinander, bie fi) nur dur den inftinktiven Raſſenhaß verſchieden ge-
arteter Vollsbeſtandteile erflären laſſen und denen wir nichts an die Seite zn
ſeten haben.
„Grattez le Francais et vous trouverez le Celte“, fagte Voltaire und
Gobineau fagte es feinen galliihen Landsleuten ganz ähnlid. Und die Briten
— man follte nur no von Galliern und Briten reden und fie nicht mehr.
fälfehlih mit den germanifchen Namen der Franlen und Angelſachſen ſchmücken
— Haben anfdeinend auch ihren germanifhhen Blutbeftandteil verbraudt; fie
baben Tennzeichnenderweife in der lebten Zeit — im Gegenfab zu früher —
ihre keltiſche Berwandtichaft bei jeder Gelegenheit mit Vorliebe betont. Um
jo befler für uns, wenn unfere beiden frühmittelalterlihen Kolonien wieder
feltiftert find. „Oallos quoque in bello floruisse audivimus“, fagt Caeſar:
„auch die Ballier follen früher einmal im Stiege erfolgreich geweſen fein.“
* x
270 | Don deutfcher Kultur und deutfcher Sreiheit
Das erftemal im Beginn unferer Zeitrehnung ging der große Kampf gegen
das römifhe Reich um die politifche Freiheit der Nation, um das Beſtehen
von Böllerindividuen überhaupt. Das zweitemal ging e8 um die Freiheit ber
“ religiöfen Überzeugung für die Einzelfeele. Wenigftens dem Endztele nad) ging
der Kampf darauf ans: dieſer zweite Kampf ift freilich noch lange nicht zu
Ende gefämpft.
Es ift eine Wurzel, aus der dieſe beiden Bewegungen entipringen, bie
man wohl die mwidtigften Ereignifje der nordeuropäiſchen Geſchichte nennen
kann. „Deutſchlands Geichichte iſt, wie ich glaube, die Grundwurzel ber
Geſchichte Europas,” ſchreibt Charles Kingsley, feinerzeit Profefior der Geſchichte
in Cambridge. |
Die geiftige Bewegung der Aufllärumgszeit gehet auf die Anftöße der
Neformation zurüd und wäre ohne fie nicht möglich gemeien. Noch Boltaire
war fi) defien gelegentlich bewußt, daß, wie Victor Hugo in Notre Dame be
Paris es ausdrüdt daß das achtzehnte Jahrhundert „das alte Schwert Luthers
ald Waffe Boltaires“ ergriffen habe.
Die europäiſche Kulturwelt hat zwei große Kulturepochen erlebt, die fi
zeitlich und örtlih und nad der anthropologiſchen Unterlage deutlich trennen
lafien; bie antife, um das Mittelmeer gruppierte helleniſtiſch⸗römiſche Kultur
und die moderne, nachantike Kultur der nordeuropäilden, vorwiegend von
Nationen germanifher Sprade und Abftammung bewohnten Länder. Die
romaniſchen Völker Tönnen natürlich ſchon wegen der Sprache einen befonderen
Zuſammenhang mit der Antike von fi behaupten. Aber das bedeutet feinen
Borrang in der Kultur, denn die moderne Kultur, der auch diefe romaniſchen
Völker angehören, ift nicht etwa nur eine Weiterbildung der antilen Kultur,
fondern etwas anderes, eine andere Kulturindividualität, nad) ihrer Entftehung
wie nach ihrem heute eriennbaren Weſen.
Das Dogma vom Haffifhen Altertum Iaftet noch ſchwer auf und. Daß
überhaupt, ohne an feiner Lächerlichleit zu erftiden, das Wort von den deutichen
Barbaren fallen konnte, ift nur möglich geweſen durch dieſes Dogma, das Die
zomanifchen Nationen freilich zu pflegen Urſache haben, denn es tit die Brund-
lage ihrer unbegründeten Überhebung.
Wenn die romanischen Völfer um beswillen, weil fie eine Tochterſprache
der damals — vor zweitaufend Jahren — höchſtzivilifierten Nation ſprechen,
fih für die eigentlichen Kulturnationen halten wollen, fo tft wirklich nicht ein-
zufehen, warum man nit noch ein paar Jahrtauſende weiter zurüdgeben fol;
auf die älteren Mittelmeerlulturen, von denen wieder der Stern der Antile, bie
griechiſche Kultur ihrerſeits abftammt. Dann find die Fellachen, als die Rady-
fommen der alten Agypter — die fich übrigens tatfächlich den Römern gegen-
über in ganz entiprechender Weile ihrer älteren Kultur rühmten — und bie
Bewohner der meſopotamiſchen Ebene die eigentlichen Kulturträger; benm bie
griechiſch⸗ römiſche Kultur bat von den älteren Mittelmeerfulturen, der mykeniſch⸗
Don deutfher Kultur und deutfcher Sreiheit 271
ketifhen, der ägyptifchen und aſſyriſchen, ihrerfeitS wieder ältere und ſchon
erungene Kulturelemente übernommen.
Kürzlih bat der Franzoſe Boutrour gegen die Deutſchen den Vorwurf
echoben, daß dieſe erftrebten, ſich völlig von der antiken Überlieferung zu be-
freien und ihre neuzeitige Kultur ganz aus ſich heraus und aus germaniichen
oder für germaniſch erllärten Beitandteilen aufzubauen. Wir empfinden den
Borwurf des Franzofen nicht als Bormwurf, fondern befennen, daß allerdings
unfere Vorftellungen von heutiger umd Tünftiger deutider Kultur mindeftens in
der allgemeinen Richtung geben, die dort befämpft wird.
„Das Schiefal der Deutichen tft — ſchrieb Goethe — noch nicht erfüllt.
Hätten fie Teine andere Aufgabe zu erfüllen gehabt, als das römiſche Reich
in zerbrechen und eine neue Welt zu jchaffen und zu ordnen, fie würden längft
wgrunde gegangen fein. Da fie aber fortbeitanden find, und in foldder Kraft
und Tüchtigkeit, jo müflen fie nach meinem Glauben noch eine große Zukunft
haben, eine Beitimmung, welche um fo viel größer fein wird denn jenes
gewaltige Werk der Zeritörung des römiſchen Reichs und der Geftaltung des
Mittelalters, als ihre Bildung jet höher fteht.“
Wir kämpfen heute um unjere Eriftenz gegen die balbe Welt; um bie
ſtaatliche und wirtſchaftliche und felbit um die phyſiſche Exiſtenz des deutſchen
Volle. Und damit — da8 fagen wir laut hinaus ohne falide Scham — um
die höchften Werte der modernen europäifchen Kultur, als deren Schöpfer uns
weientliche Träger die Deutichen ſich erwieſen haben.
Die europätichen Sprachen und der .
Don Profefior Dr. £udmwig Sütterlin
BE er Sturm des gegenwärtigen Krieges hat im Meer der Völker
ſddie Wellen mächtig erregt und durcheinandergewühlt. Blut ift
A 1 nicht mehr dicker denn Waffer: wir haſſen unfern britifchen Vetter,
Pd vie ih nur Verwandte Hafen lönnen, und fechten und jterben
2 Schulter an Schulter mit Ungarn und Türken, die einft die Nacht
einer Völkerwanderung meteorgleich herniederfandte auf unfere Fluren.
Diefer Bruch mit alten Gemöhnungen und der dadurch veranlakte Wetter⸗
fturg der Gefühle ſcheucht auch die Sprachwiſſenſchaft auf in ihrem ftillen
Gemach: das vergangene Jahrhundert, in dem bas aus ber Aſche des Belt:
bürgertum3 neu erglimmte Feuer des Vollbewußtſeins den Lauf der Geſchichte
beftimmte, batte ihrem Bemühen auch einen äußerlichen Zwed verliehen und
in ihr vielleicht zumeilen den Wahn geweckt, fie trage der Strom der Welt als
ihren ‘Bropbeten.
Die krauſe Gegenwart enttäufcht fie nun zunächſt, indem fie ihr manches
Traumgebilde abftoßend verdeutlicht: denn aus dem alten Märchenlande Indien,
deſſen Schriftwerle einft ganz Europa begeiftert hatten, die Verehrer Herders
ebenfo wie bie Jünger Schellingicher Natur- und Religionsphiloſophie, deſſen
vollendete reihe Sprache ihr vor hundert Jahren felbit ins Dafein half, treten
ihr jetzt meſſerſchwingend die braunen Eingeborenen entgegen, die Inder, Deren
Urväter die heiligen Veden gedichtet und das „himmliſch⸗ſchöne“ Schaufpiel
Sakuntalal Läßt die fprachlide Buntheit auf beiden Seiten der Kämpfenden
und die Gleichgältigleit uns ſprachlich nabeftchender Zuſchauer nicht auch noch
befürdten, daß ihre Arbeit fürderhin gar feinen Wert mehr babe für das
Leben? Wäre die Sprache, die uns Deutihe doch noch einte in den troft-
Iofeften Zeiten, fortan fein Band mehr für die Völfer? Und follte man bie
ſprachlichen Entlehnungen von Land zu Land, die ficheren Zeugen für den
Austauſch des Kulturgutes, Tünftig nur zufammenftellen dürfen als Beweiſe für
völfiihen Undank?
Ein fchärferer Blick in die Geſchehniſſe zeigt ſolche Befürchtungen als klein⸗
mütig. Denn ganz ift die Sprache doch nicht ausgeſchaltet aus dem Spiel der
Kräfte, das die Verhältniffe des Lebens geftaltet: jedenfalls jpiegelt ſich Die
Gefinnung der Staaten auffällig wieder in den. gegenfeitigen Beziehungen der
Die europätfhen Sprachen und der Krieg 378
Sprachen, und der Sprachforſcher fieht Fäden, bie nit zufällig umd wicht
bedentungslos fein Lönnen.
Sollte er nicht wagen dürfen, den Gang der Dinge aud) damit zu erflären? .
Der Grundpfeiler, auf dem die gefamte Sprachwiſſenſchaft im Lauf der
legten hundert Jahre ihr mädhtiges Gebäude aufgerichtet bat, tft die Erkenntnis,
daß die indogermaniſchen Sprachen eine Einheit bilden.
Diefer Grundpfetler ift für das beutige Empfinden verſchüttet. Einem
Gebildeten kann man die indogermanijche Berwandtidhaft in der Hauptſache
Dar machen durch die Mebeneinanberftellung von Zeitwortäformen (mie Iateiniich
dixi und griechiſch idea) oder durch Vergleihung von gewöhnlichen Wörtern,
befonders der Berwandtichaftsnamen, Fürmörter oder Zahlwörter. Einem
Krieger unferes Ditheeres nüht dieſe indogermaniſche Berwanbtichaft nichts,
da die dem Deutihen und Auffifch- Polnifchen noch gemeinfamen Erbwörter
im Klang jeht gewöhnlich weit auseinandergehen; etwas beſſere Dienfte leiften
ihm ſchon die wenigen Ausdrüde, die wir dem Slawiſchen entlehnt haben, wie
Droſchle, Pallaſch, Säbel-Sabel, ſowie die viel zahlreidheren, wofür die Ruffen
uns verpflichtet find: teild reindeutiche wie Band, Bank, Butterbrot, Fenerwert,
Halstud, Perüdenmader, Schlagbaum, teild romaniſche oder fonft fremde in
unferer Lautgebung wie Apfelfine, Juwelier, Kartoffel, Preisfurant. Am beften
aber Tann er fi) durchhelfen mit franzoͤſiſchen Entlehnungen, die auch bei uns
ablich find, wie Ballon, Kommode, Kompott, Lampe, Möbel, Reſtaurant; als
Kenner des Franzöſiſchen verftändigt er fih auch noch mit einigen uns jebt
abgehenden, aber im Slawiſchen noch lebendigen Lehnmwörtern aus dem
Franzöfifhen wie debarcadere „Bahnhof“, diligence. „Eilwagen“, gazette
„Zeitung“; dagegen braucht er fih auf das Engliſche nur felten zu ftüben, fo
bei dem Ausdrud „Schienen“ (engliſch rails), ſchon nicht mehr bei Beeffteal,
Pudding und PBunf oder — bei Waterflofett.
So ſucht aljo Die gewöhnliche Lebenserfahrung die Brüde zwiſchen Deutichen
und Slawen an der faljden Stelle, auf der Seite der Lehnmörter, nicht in
der Gegend der Erbwoͤrter.
Der nachdenklidde Geift der Allgemeinheit dagegen ſieht — in noch fhärferem
Gegenſatz zu der Willenihaft — hier überhaupt Teine Brüde, fondern nur eine
Aluft: er entdeckt zwiſchen den Völlern überall nur Berjchtedenheiten und faßt
diefe zufammen unter dem Begriff der Raſſe. Die indogermanifche Sprad-
wiſſenſchaft kann ein Lied fingen von diefer Nafjenfrage, leider ein rühmliches:
denn mit fliegenden Fahnen und voreiligem Giegesgefchmetter ift bier bie
Forſchung auf Jahrzehnte hinaus in eine binterhältige Sadgafie geritten.
Man erflärte die Sprachverwandtſchaft als Folge einer Völferverwandichaft
und fchrieb auf Grund einiger Andeutungen bei alten Schriftftellern nicht nur
den Germanen, fondern auch dem Urvolf boden Wuchs zu, blaue Augen,
weiße Haut und blondes Haar, dazu fpäter noch Langichäbeligleit. Glieder
dieſes Herrenvolles, bei dem die Auslefe der rauhen Urheimat während ber
Grenzboten II 191R 18
974 Die europäifhen Sprachen und der Krieg
Bereifung Europas dieſe milde Art des Albinismus heranzüchtete, mußten nad
den fühnften Vertretern biefer Lehre alle großen Männer fein, nad Chamberlain
in den „Grundlagen bes nennzehnten Jahrhunderts“ auch Ehriftus.
Aber Kronos verſchlang auch bier nad) und nach wieder alle feine Kinder.
Zunächſt konnte der nicht abzuleugnende dunkle und rundlöpfige Teil des
indogermanifhen Bollstums nur eine unechte Beimifchung fein, Nefte von
unterworfenen Stämmen und Raſſen. Nur ftellte fi) bei genauerem Hinfehen
diefe Beimifchung heute als Hauptteil heraus, nicht nur bei den andern inbo-
germaniſch redenden Völkern, fondern jhlieplic auch bei den Germanen, wo
die angebliden Raſſenmerkmale von Norden nad Süden abnehmen, bis zum
Beriäwinden: während bie feinerzeit von Virchow angeregte Unterfuchung ber
Schullinder für Lauenburg 45 Blonde ergab unter 100, für Baden nur 24,
entdedte die Schädelmeffung unter 100 Köpfen in Südbaden 95 runde, in
Friesland nur 49; und ebenfo, verglichen nad) Städten, in Freiburg 93 runde,
in Bremen nur 42.
Daß fich freilich die Bewohner verfhiedener Gegenden an Körper und an
Geift unterfcheiden, zeigt fon in Baden das Nebeneinander von Alemannen
und Franken, bei den Slawen der Gegenfah von Ruſſen und Polen, ähnlich
wie am Nil die edlen Geftalten der Hieroglyphenbilder mit ihren Mandelaugen
hervorleuchten aus der armfeligften Fellachenbevöllerung. — Aber die Urfachen
diefer Unterſchiede und die Tragweite ihrer Wirkungen kann den Spracdhgelehrten
nur die Naturwiſſenſchafft ergründen, fie, die der Sprachforſchung ſchon fe
manchmal vorwärts geholfen bat, durch Darwin, Brüde, Helmholtz; fie leuchtet
dann aud heraus aus dem Zweifel darüber, ob man ein foldhes Merkmal für
ein altes Erbftüd halten müfje aus dem Hausrat der Väter oder für eine
junge Errungenſchaft, gewonnen im gemeinfdhaftlichen, gleichgeftellten Kampf
ums Dafein.
Bis dahin meidet man am beiten das Meer ſchwankender Bermutungen
in der Raſſenfrage und richtet fein Haus nur ein auf dem fiheren Grund ber
Erde, der Sprade. Schon diefe lehrt für heute genug durch die drei Kreife,
bie fie uns in Europa als feitummallte Einheiten entgegenftellt, da8 Romanen-
tum, das Slawentum und das Germanentum.
Die romaniſche Welt liegt unter dieſen drei Einheiten dem Blid ber
Dffentlichleit am freieften da, und durch die Brille des Lateins fieht er deren
Bufammengebörigleit als etwas Gegebenes an, mehr als der Außerlide Sad
verhalt zunächſt rechtfertigt. Die Lupe des Forſchers verfeinert das Bild um
vielfade Züge und Abtönungen. Wenn fie zwiſchen den vier bis fünf Haupt-
gebieten noch den einen oder anderen eigenen Kreis entdedt, jo neben der
Mundart der Nordfranzofen noch das Provenzaliiche, und ihm zur einen Gelte,
befonders in der welſchen Schweiz und Savoyen, da8 Franloprovenzalifde,
anderfeit3, gegen die Pyrenden zu, die Katalanen, fo mildert dieſe Einfügung
nur die Schärfe der Übergänge zwifchen den Hauptgebieten und legt den Zaum
Die europäifhen Sprachen und der Krieg 275
wieder nieder, den die Entwidlung ihrer Schriftiprachen errichtete. Denn wie
der Näherftehende in dem Provenzalifhen ein notwendiges Bindeglied erkennt
zwiſchen Franzöfif und Italieniſch, und wie das Frankoprovenzaliſche vermittelt
fowohl zwifchen Franzöfifch und Provenzaliſch als zwiſchen diefen beiden und
dem Italieniſchen, fo ſchlägt das Katalaniſche wieder zwiſchen Brovenzaliih und
Spanif& eine geiſtige Brücke, die ihre Pfeiler über die Pyrenden und die burg-
artige Kuppe des Monijerrat fpannt bis gegen Valencia, in gewiſſem Sinn als
Entſchädigung für die Lüde, die bei der wirfliden Brüde der Bidaſſoa Das
Baskiſche zwifchen die romanischen Völker reißt. Das bißchen Spaniſch, das
der fonjt fo ſprachfaule Franzoſe bier an der Grenze in der Schule des Lebens
lernt, al Kneipwirt in Luchon oder als Kutfcher und Badediener in Biarrig,
füllt diefe Lüde in feiner Weife aus und verſchwindet gegen die Dienfte, die
der rege Katalane für die Völlerverbrüderung leiftet. — Eine Fahrt öſtlich
Dagegen über den Mont-GCenis bringt uns ähnlich nicht nur bei Pignerolo in
Waldenferdörfer, mit deren Bewohnern wir uns ohne Mühe auf franzöflfc
unterhalten, fondern mit Oberitalien überhaupt in ein Gebiet, wo für das Ohr
des Fernftehenden ein halb franzöfifches taltenifch erklingt. -
Nur die rumänifche Scholle hat die flawtiche Flut von ihrem Mutterboden
gelöft und in das Land zwiſchen Donau und Bukowina verſchlagen, wo fie
zwar ſprachlich in manden Einzelheiten ſtark an ihre Nachbarſchaft gebunden
ift, fo durch eine das einheimifche Sprachgut faft erftidende Fülle von ſlawiſchen
Sremdmwörtern, wo fie aber ihr Iateinifches Ausfehen doch nicht nur beibehielt,
fondern durch Wortanleihen bei Italienern und Franzoſen fpäter wieder Träftig
anffrifchte. Man ſchätzt daher im Kreife ihrer Bewohner das Deutihtum und
das Deutſche Reich ſehr Hoch, am eheiten an den leitenden Stellen und innerhalb
des Judentums, und füllt darum in der Hauptftadt gern die weiten Säle der
vtelfeitig gegabelten deutfchen Schule; aber das Herz zieht die breiteren Schichten
des Bolls in diefen Tagen doch unzmweideutig hinüber zu den Franzofen, ſchon
aus Abneigung gegen die mit ung verbündeten Ungarn.
Diefe landſchaftliche inhettlichfeit verftärlen aber in der Gemeinſprache
auf das allerfräftigite geichichtlihe Ausgleichungen doppelter Art.
Einmal haben fi) die Romanen immer und überall als Nachkommen der
alten Römer gefühlt und in ihren Reichen nicht nur das Lateiniſche lange als
eigentlide Schriftiprache verehrt und verwendet, fondern aud) dem Baum ihrer
ſchriftſprachlich ſchon feitftehenden Landesſprache fortwährend neue Reiſer auf-
gepfropft, jo in Franfreih vor allem zur Zeit Karls des Großen und im Zeit⸗
alter Franz des Erjten, in Spanien im vierzehnten Jahrhundert und fpäter in
den Tagen Calderons. |
Diefe Ausbeutung des Erbes der Alten, die fogar den Eatbau zeitweilig
im bie Geleife Ciceros zurüdlenten wollte, ift heute nur dem gelehrten Auge
erlennbar. Der gemeine Mann führt daher auf romaniſchem Boden jebt
ahnungslos Wortformen im Munde, die ſich für den Kenner der Sprachgeſchichte
18”
276 Die europäifchen Sprachen nnd der Krieg
an ihm ausnehmen wie Ausdrüde Wulfilas im Munde eines Schweizer Berg-
führers, Wortformen übrigens, die für die heutige Begriffswelt des Romanen
ganz unentbehrlid) geworben find, wie franzöfifd) facile, fertile, juste, crime,
penser, trahir. Tatfählih find fie wegen ber engen Verwandtſchaft zwiſchen
Latein und Romantic) für ihn aber kaum etwas anderes als für uns Ausdrücke,
die eine jüngere Zeit wieber aus dem Altdeutſchen berporfuchte, Ausdrüde wie
bieder, Fehde, Halle, Hort; denn fie find Fleiſch von feinem Fleiſch, während
wir mit unfern griechiſch⸗lateiniſch⸗ romaniſchen Entlehnungen bunte Seidenlappen
einfeben ig unfer einheimiſch einfarbiges Wollfleid. Aber nicht nur mit gelehrtem
Iateinifhem Tuch bat der Romane in allen feinen Reichen gern eine begriffliche
Blöße verbedt, fondern auch mit romanifchen Stoffen aus anderer Gegend.
Schon die beiden franzöſiſchen Sprachgemeinfchaften helfen ſich gegenfeitig
vielfad aus, wenn aud die Schlußabrechnung die Einfuhr nad) der Provence
als größer erweiit als ihre Ausfuhr nad) Paris. Denn die wenigen üblichen
Ausdrüde, die als verbleibende Tropfen aus einem geſchichtlich lange Zeit
riefelnden Bad) noch heute im Norden Heimatsrecht genießen (abeille „Biene“,
rossignol „Radtigall”), wiegt der verzehrende Einfluß mehr als hundertfach
auf, den der Norden als Duelle der Schriftipradde und als Herb des ganzen
Staatögebäudes bis in die entlegenften Gebirgsbörfer übt; er fchlägt fih zum
Beifpiel in einem Auvergnedorf bei Elermont-Ferrand ſprachlich nieder in mund-
artlich zugeſtutzten Entſprechungen für facture „Rechnung“, fatiguer „ermüden“,
teliciter „läd wünfhen”, maigre „mager“ und vielen andern.
Einen viel weiteren Ausblid gewähren die Entlehnungen aus einer der
fonftigen romaniſchen Hauptiprachen in die andere, Entlehnungen, die entweder
die Alpen überfteigen ober die Pyrenäen oder beide, je nachdem fie von
Frankreich ausgehen oder von Stalien, feltener von Spanien. Da bier im
Mittelalter erft Franfreih den Reigen anführt, dann aber, mit der Wieder-
erwedung des Haffifhen Altertums, Stalien die hohe Schule wird für bie
Wiſſenſchaft, für Handel und feines Gewerbe, für die Kunſt des Pinſels und
der Töne, aber auch des gefelligen Lebens wie des rauhen Strieges, bis ſchließlich —
nad einer vorübergehenden kurzen Blüte Spaniens — Ludwig der Vierzehnte
doch wieder feine Franzojen in den Vordergrund fchiebt, fo wechleln Ebbe und
Flut an allen Stellen mehrmals ab. So tragen in talien franzöſiſches Gewand
eine Reihe von Ausprüden wie arnese „Harniſch“, bersaglio „Zielfcheibe“
(davon bersagliere „Scharfſchũtze“), und franzoſiſch ift Die ganze Endung -iere.
Der Sondoliere in Venedig nennt ſich aljo ähnlich vornehm wie ein deutfcher
Lagerift oder ein Hühnerologe. Bas Franzöſiſche ift noch viel gaftlicher geweſen.
Allein aus Italien beherbergt es nicht nur eine umfänglide Schar von Einzel-
wörtern wie bal „Ball“, balcon „Ballon“, guide „Führer“, moustache
„Schnurrbart“, fondern als Endung vor allem die Form -esse (in forteresse
„Feſtung“, jeunesse „Jugend“, noblesse „Adel“), die übrigens noch nad)
Spanien weitermanderte: die ſpaniſche grandeza fieht von hinten alfo italieniſch aus.
Die europäifchen Spraden und der Krieg 977
Auf diefe Innigleit der Beziehungen innerhalb des romaniſchen Berwanbt-
ſchaftskreiſes wirft das richtige Licht erit die Tatſache, daß ſich diefes felbe
Gebiet gegen das Germanifche im Vergleich dazu wie durch eine hohe Mauer
abfhließt, die nur in der Zeit der Völlermwanderung ein einigermaßen: offenes
Tor hat für einzelne Wörter aus dem Bereich bes Friegerifchen und ftaatlichen
Lebens, der Landwirtichaft oder der Schiffahrt (aune „Elle“, bateau „Schiff“,
gazon „Wafen“, blanc „blant“, laid „leid, häßlich*“, riche „reich“) und auge
nahmsweiſe au für die Endung -ard, die aus Eigennamen wie Eberhard,
Reginhard-Reinhard (franzöfifch renard „Fuchs“) überfprang auf andere Stämme
(fo franzöfiih in communard „Mann der Kommune“, vieillard „Greis“),
daneben au für zahlreiche Berjonennamen, darum aud für Raymond
„Raimund“, den Vornamen des Mannes „mit der geballten Fauſt“, Poincaré,
wie für Garibalbi.
Bon diefen Nomanen durch eine Welt geichieden ift der große, auch wieber
feft umfchloffene Kreis der Slawen, nit nur räumlich, fondern auch in Weien,
Zeben und Sitte, und nicht zum mindeften in der Sprade.
Während der Romane die Wortbiegung durch Hilfswörter erfegt (metft
dur) Präpofitionen: de la tete, A la tete) und die einfachen Zeitwortsformen
des Latein in Wortgruppen auflöft (lateiniſch donavit: franzöſiſch il a donne),
die freilich wieder zufammenmwadfen Tönnen (il donner-a eigentlid) „er bat zu
geben“), verfügt der Slawe mit Ausnahme des Bulgaren, der ſich hierin —
wie in ber Anwendung des Artilels — dem Romanen gleichftellt, noch über
feben aus alter Zeit lebendig gebliebene Kaſus und über ein ausgeprägtes
Zeitwort, allerdings in auffällig altertümliher Form. Während nämlich das
gefamte Weftenropa vor allem die Zeititufen hervorhebt, das Verhältnis zum
Augenblid des Spreddens, und die Vergangenheit fcheidet von der Gegenwart,
ſchildert der Slawe eher die Art des Verlaufs einer Handlung nad) Augen-
blilichleit ober Dauer. Was der Franzofe aljo ausnahmsmweije durch das
Nebeneinander von Sjmperfelt und Perfelt andeutet (il allait — il alla), und
mas wir als Unterſchied empfinden bei er wacht — er wacht auf, dos iſt für
den Slawen der fpringende Punkt. Der Sat „Die Schwalbe flog zum Neft“
lautet für ihn alfo dreifach verſchieden, je nachdem er einen einmaligen ganzen
Flug im Auge bat, oder nur die Ankunft im Neft, oder einen mehrmaligen Flug.
Eine Altertümlichkeit ift auch die Beweglichkeit des Worttons der meiften
ſlawiſchen Sprachen, des Ruſſiſchen, Bulgarifchen, Serbofroatifchen, Sloweniſchen
und des Kaſchubiſchen, die hierin das Griechiſche übertreffen, indem fie nicht
an die letzten brei Silben des Wortes gebunden find, fondern aud) die viert-,
fünft-, fechftlege Silbe betonen können. Daher heißt bei den Serben ber eine
oſterreichiſche Landesteil Buͤkowina (ruſſiſch Bulowina), der andere, nad) einem
Herzog Stefan benannte Herzegowina; in Bosnien nennt man die Hauptſtadt
Särnjemo, einen Bewohner von ihr Sarajewac, eine Bewohnern aber wieder
Sarajewla. Nur das Bolniihe hat den Ton faft überall auf der vorlegten
278 Die europäifhen Sprachen und der Krieg
Silbe feftgelegt, das Tſchechiſche und Serbiſche auf der erften: der polnifche
Berfafler von „Quo vadis“ heißt alfo Sjenkjewitfh, dagegen die Beamten des
Kaifers Matthias, die mah zu Beginn des breikigjährigen Krieges in Prag
aus dem Fenfter ftürzte, Märtinig und Slawata, der Schladhtort des Jahres 1866
Sadowa. Dazu lommen als weitere Vorzüge einmal eine reich entwidelte
Vähigfeit der Wortableitung und noch mehr eine große Freiheit in der Wort⸗
ftellung, die in Verbindung mit einer meift vorhandenen Bierzahl der Partizipien
und einer beifpielswetfe in der ruffiihen Schriftipradhe zu Gebote ftehenden
Zweizabl der Gerundien die Verfnüpfung der Gedanken ſehr erleichtert, vielleicht
mehr als die unfelige deutſche Verſchachtelung ber Nebenjäge.
Alles in allem ftehen alſo die ſlawiſchen Sprachen auf einer hohen Stufe.
Aber auch rein lautlich find fie befier als ihr Auf, und ihre Kenner
ftellen fie trob ihrer vielen Zifchlaute und trog ihrer zahlreichen Palatal-
fonfonanten an Klangfüle vor das Deutſche. Das Ruſſiſche jedenfalls iſt
mindeftens ebenſo vokalreich wie das Deutſche — eine Probe hat auf 100 Laute
im Ruſſiſchen 42 Vokale ergeben, im Deutſchen nur 36 —, und diefe Bolale
wechſeln ziemlich bunt untereinander ab, ungeachtet vielleicht einer gewifſen
Borberrfhaft des a: eine Stichprobe aus Zurgenieff enthielt 53 a gegen
40 andere Bolale, eine fleinruffiihe Probe allerdings nur 38 a gegen 148
fonftige Bolale. — Und in der Zonführung nimmt es das Serbiſche wenigftens
mit den melodifchften deutſchen Mundarten auf, weil es in den Tonſilben Ab-
ftieg und Anftieg nach Stärke und Höhe ſcharf auseinanderbält: denn damit
ſcheidet e8 zwifchen feinen Formen ähnlich, wie der Nheinländer zwiſchen dem
Dativ Baum und dem Akkuſativ Baum.
Wie ftellen fi) aber die Slawen untereinander, und wie ftellen fie Aid)
zu uns?
Zunächſt heben fi aus ihrer großen Maſſe zwei geichlofiene Gruppen
heraus: die fühliche der Slowenen, Serbokroaten und Bulgaren, unter denen
die Bulgaren auch ſprachlich heute am eheſten einen eigenen Weg gehen, mie
fie auch urfprünglich ein finniſches Bolt waren, das die Sprache der von ihm
unterjochten Slawen annahm; "daneben die weitlihe ®ruppe der Polen, der
Sorben und der Tſchechen, zu denen man als Unterabteilung die Slowalen
ftelit, die übrigens nicht alle im Ausland Mausfallen verlaufen, fondern in der
Mehrzahl zu Haufe Liptauer Käſe bereiten, den Ader pflügen und Wein
ziehen; die dritte und größte Gruppe, die Ruſſen, rechnet man am beiten für
fi, nicht zu den Sübvöllern; fie zerfällt in die nördlichen Großruffen, die
füdliden Kleinruffen (Ruthenen oder Ulrainer) und in die Weißruffen im
Weften.
Bebrohlich tft bei diefer Verteilung der Widerftreit zwiſchen Sprachgebiet
nnd Staatshoheit.
Die Kleinrufien bevöltern nod ganz Galizien und ftoßen da im Süden,
bei Czernowitz, an bie ungarländifhen Rumänen; und das Serbiſche erfüllt
Die europäifchen Sprachen und der Krieg 279
nit nur die ganze Strede vom Timok bis zum Adriatifhen Meer, vereinigt
alfo das alte Königreich Serbien, Altjerbien und Montenegro mit Bosnien,
der Herzegowina und Dalmatien, ſondern dedt ſich ſachlich auch völlig mit
dem Kroatiſchen, und Grund zu der Trennung in ſerbiſch und kroatiſch ift —
außer der Verſchiedenheit des Belenntniffes — nur die Form der Buchſtaben:
die rechtgläubig-griechifchen Serben jchreiben eigene Zeichen, die römiſch⸗
latholiſchen Kroaten dagegen die lateiniſchen Buchftaben. Dazu wurzelt Die
ganze kroatiſche Schriftiprache überhaupt im Serbiſchen, und ihr Begründer
Bul Stefanomwic Karadſchic (1767—1864) gehörte durch feine Eltern nad) der
Herzegowina und nad) dem nörbliden Montenegro.
Die einzelnen Sprachen dieſes Kreifes find nun an ſich zwar deutlich von-
einander gefchieden, fo daß der Tſcheche Schafaril im Jahre 1825 feine Geſchichte
ver ſlawiſchen Sprade und Literatur deutſch fchreiben mußte, um nur im
Dfterreich- Ungarn allen flawifchen Stämmen verftändlich zu werben.
Doch iſt diefe Verſchiedenheit Feine unüberfteiglide Scheibewand, am
wenigſten in der Schriftiprache.
Denn wie im Romaniſchen das Latein, jo thront über den ſlawiſchen
Einzelſprachen die Kirchenſprache des Altbulgariſchen, die für die ſüdliche und
die öſtliche Gruppe lange Zeit die einzige Schreibform war, für das Ruſſiſche
über Peter den Großen hinaus, für das Serbokroatiſche bis zum Beginn bes
neunzehnten Jahrhunderts. Darum führt gerade der ruffiihe Wortſchatz —
txoß der erfolgreichen Reinigungsbeftrebungen des Geſchichtsſchreibers Karamfin
(1766 bis 1826), des Fabeldichters Krylow (1768 bis 1844), des Schaufpieldichters
Gribojedom (1793 bi8 1829) — vor allem in der Dichtung noch heute manche
Ausdrücke in Tirchenflamwifcher Lautung weiter, jo wremja „Zeit“ (neben nord⸗
ruſſiſch wirklich vorliegendem mweremja), jo den Namen Wladimir neben feiner
Abkürzung Wolodja.
Aber auch ohne diejes Kirchenſlawiſche find die heutigen Schriftiprachen der '
Slawen einander doch jo ähnlich, daB eine gute Kenntnis der einen ſchon das
Berftändnis der andern ermöglicht, vor allem im Drud. Mag der Ausdrud
au einmal wechleln, fo Klingen Doch Lautgeſtalt, Wortbildung und Wortbiegung
immer ziemlich aneinander an.
Und im mündlien Verkehr fteht es wohl ähnlich.
Zwar find alle ſlawiſchen Hauptipradhen mundartlid ſtark geipalten.
Dennoch entdedt bier nicht nur die Forihung überall Berübrungspunlte in ber
Geſtalt allmähliher Übergänge, fondern auch die lebendige Erfahrung: wenn
ſelbſt ein Ausländer mit einiger Kenntnis des Ruſſiſchen auch in einer polnifchen
Unterhaltung manches aufſchnappt und fich in Montenegro und Bulgarien fogar
bei den unteren Volksſchichten durchhelfen kann, wie viel eher ein gebürtiger
Slawe, zumal mit Bildung und Geſchick!
Noch machen die Slawen von diefer ſprachlich erleichterten Möglichkeit
engeren Zuſammenſchluſſes feinen allgemeinen Gebrauch, fondern liegen fid)
280 | Die europäifcken Sprachen und der Krieg
vielfad) in den Haaren: während die Serben mit den Bulgaren ftreiten um
Mazedonien, läßt im faiferlihen Rußland der Großruſſe den Kleinruſſen faft
ebenjowenig auflommen, wie den Polen, der in Galizien den Ruthenen aud
ſeinerſeits nur quält.
Die ruffifhe Abneigung gegen Deutichland, die ſchon früher jedes rufflfche
Ungemach Bismard in die Schuhe ſchob, und die fchon damals weite Schichten
einen Krieg mit unferm Reich als einen halben Kreuzzug betrachten lieh, wie
mir ein befreundeter. Gutsbeſitzer einft offen ins Geficht geitand, findet die
Heineren ſlawiſchen Brüder noch nicht richtig bereit zur Gefolgichaft, ſchon weil
biefe Angft haben muſſen von der Moskauer Knute, die Andersgläubigen und
Freigeiftigen auch vor den Schnüffeleten des heiligen Synode.
Die Zukunft fann das ändern. Dann aber bringt fie uns nicht weniger
Gefahren als dem britifchen Vetter, der fi dann natürlich wieder feiner ger
maniſchen Abſtammung erinnert.
Wie ſteht es nun mit dieſer Abſtammung, und wie überhaupt mit den
Brüdern aus dem germaniſchen Hauſe?
Nachdem das Wirrſal der Völkerwanderung von den drei —— des
germaniſchen Sprachaſtes den öſtlichen abgeknickt und zertreten hatte mit der
hoffnungsvollen gotiſchen Blüte daran, ſtand allein noch der ſtandinaviſche
Zweig dem bisher wefſtlichen und jetzt allgemein feſtländiſchen gegenüber, an
dem fi) das Friefiihe, damals noch zwiſchen Nordſee und Leine, mit ſeinem
nordöftliden Nachbarn, dem Angelfähhfiiden, von dem fonftigen Deutſchen
abhob. Auch als die Angeln mit den angrenzenden Sachſen auf das bisher
rein Feltifche Britannien übergefegt waren, hingen fie noch geiftig zufammen
mit ihren feftländifden Berwandten. Dieſes Band zerriffen erft die Einfälle
der Nordmänner: weniger der unmittelbare von Dänemark aus, der den ganzen
Oſtſtreifen zwiſchen Tweed und Theme losrik und hier von 800 bis über 1100
hinaus dem Nordiſchen eine filhere Stätte bereitete, an die noch heute nordiſche
Wörter im Engliſchen erinnern wie law „Geſetz“, bylaw „Ortsgeſetz“, sky
„Himmel“ und to take „nehmen“, als die mittelbare, über die Normandie
hinweg fett dem Jahre 1066: nachdem diefe Wilinger an der franzöfiichen Weſt⸗
füfte im Laufe von hundertundfünfzig Jahren franzöfifche Spradde und Sitte ange-
nommen hatten, hielten fie in England dreihundert Jahre fo zäh daran feft, daß fie
damit England ſprachlich in ein ganz neues Fahrwaſſer fteuerten, und daß darum
der Deutſche jebt dem echten Altengliichen weniger ratlos gegemüberfteht als
die Nachfahren der fagenhaften Hengift und Horfa. Daß der König und fein
ganzer Hof nur Franzöſiſch verftanden, Gericht und Parlament nur in Franzöoͤfiſch
verhandelten, hatte zur Folge, daß heute nad) einem Wort Leffings die Sprache
der britiihen Inſel in der Hauptſache Franzöfiich ift, nur engliſch ausgeiprochen,
und daß zur Ausftattung des nicht Hafftich gebildeten Engländers ein Wörter-
buch gehören fol, das ihm die fremden Ausdrücke erflärt. Und als das ein-
heimiſche Sprachgut vom Jahre 1400 an wieder mehr zu Ehren fam und bie
Die europätfdyen Sprachen und der Krieg ' 981
Sprache gerade angefangen hatte, ihre inneren Unebenheiten zu glätten, ftrömte
no einmal Fremdländiſches herzu, bauptfächlich Lateinifches und Griechiiches,
in den Tagen, die das alte Rom und das alte Hellas unter feinem mittel-
alterlichen Schutte bervorfteigen fahen, teilmeife — im Laufe des fechzehnten
Jahrhunderts — au Spaniſches.
Seitdem zeigt die Sprache des Briten vor allem in Wortſchatz und Wort-
formung ihr Doppelgefidht, und der Verfluß der Jahre Hat die romaniſchen
Züge darin nicht verwiſcht, ſondern ſtets kraͤftiger herausgearbeitet.
Alles in allem bat alſo England ſprachlich mehr als halb das Band
durchſchnitten, das es an Mutter Germania Mnüpfte, und fi) damit — befonders
Paris zuliebe — den Weg veriperrt nad Berlin und Wien, den Weg aber
aud zum Berftändnis deutſchen Weſens. Freilich tft diefer Weg für England
etwas lang, dadurd, dak er Über das ihm zunächſt liegende Niederdeutſche
zum Hochdeutſchen binausführt.
Doch Hat der ſtandinaviſche Norden diefen mühevolleren Weg zu uns
nicht geſcheut! Das Daniſch⸗Schwediſch⸗Norwegiſche liegt uns von Haus aus
dur) mande Eigentünnlichleiten ferner als dem Engliſchen: fo durch die Zer-
ftörung der Beugung des Hauptworts und die dadurch notwendig gewordene
feftere Wortftellung, dur die Einſchränkung des grammatiſchen Geſchlechts,
beim Zeitwort dur die Ausgleichung der Perfonalformen des Präfens (däniſch
nit nur han taler „er ſpricht“, fondern auch jeg taler „ih ſpreche“, in der
Mehrzahl vi tale „wir ſprechen“, I tale „ihr ſprecht“), im Sakbau durch die
Bildung von Beifügefäten ohne einleitende Wortformen (in der Art des
englifden the man, | saw, was a lawyer); fern liegt es uns auch durch die
übrigend dem Deutſchen entnommene Umfchreibung der Leideform mit bleiben
(nad) der Weile des deutſchen: ‚ber König bleibt geliebt, die Stadt bleibt ge-
ſchũtzt).
Dieſe Kluft zwiſchen uns und unſern nordiſchen Verwandten hat der
Lauf der Geſchichte ſtellenweiſe ganz gangbar überbrückt. Denn über ein Jahr⸗
taufend lang ſtrahlte deutſcher Einfluß über Dänemark nad) Schweden und
Rorwegen aus: vom Abſchluß der Völlerwanderung, wo der Niederrhein den
Rordländern über da8 Sachſenland hinweg die Stegfriedfage und die Wodans-
verehrung zuführte, über Guſtav Adolf hinaus, bis zu Klopftods Aufenthalt in
Kopenhagen, wo zuerſt der aus Norwegen gebürtige Dichter Holberg der
fhwellenden Flut einen Damm entgegenfegte, ja noch weiter, bis zu unjern
Tagen, wo erft Geyer und Tegner fiheren Erfolg hatten in der Abwehr. Die
Sanfa, die In den ſchwediſchen Städten fogar Anteil beanſpruchte an der Ber-
waltung, einigermaßen auch die Reformation, mehr wieder der breikigjährige
Krieg und die daraus folgende ftantliche Verkoppelung mit Deutichland, gaben
diefer Strahlung ihre Richtung und ihre Kraft. Sie brachte ſprachlich fogar
niederdeutſche Wortbildungsmittel nad dem Norden (jo die Borfilben der
Wörter be-gehren, ent-fallen, ver-laffen, und die Nadjfilben der Wörter teil-
282 Die europäifhen Sprachen und der Krieg
baftig, offen-bar, Dieb-erei, Falſch⸗heit, Fürft-in, höf⸗iſch), und jo viele deutjche
Einzelwörter, daß es im Däniſchen davon geradezu wimmelte: vor allem
niederdeutſche im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, hochdeutſche erft im
ſechzehnten und fiebzehnten Jahrhundert. Solche deutſchen Eindringlinge leben
noch beute im Norden üppig fort, fo bei den Dänen: achten, Angit, arbeiten,
Bild, bleiben, Faftelabend, doch, je-je „je deſto“, dazu unverfälicht hochdeutſche
wie Kranz, plöglid, treffen; bei den Schweden nit nur brauchen, Bürger,
frei, fremd, Edelftein, Schmwertfeger, Schuhmacher, fondern auch wieder bod)-
deutſche wie kratzen.
Das ſtaatliche Zerwürfnis zwiſchen Dänemark und Deutſchand hat bier
zwar gewirkt wie ein hoher Schutzzoll. Aber abgejehen davon, kommen uns
die Nordländer doch auch heute fprahli in weiten Maß entgegen, jo daß
befonder8 das gefchäftige Kopenhagen den Reiſenden anmutet wie eine balb-
deutfche Stadt.
Leider können wir dem Norden diefes freundliche Wohlwollen nur unvoll-
kommen vergelten, in Dänemark wegen der Schwierigleit der gerade hier maß-
gebenden feeländifchen Ausiprache, in Schweden nicht jo recht wegen der Eigenart
feiner klangvollen Zonführung; kaum aud in Norwegen, nicht nur, weil
das bier Schriftipradhe gewordene Däniſch nicht in das Boll dringt, jondern
auch, weil dem gerade im Bolf der Einfluß des Englifhen entgegenfteht: weniger
dan? den bier bei billiger Unterkunft im Sommer Lachſe angelnden Briten als
infolge der gewinnbringenden Beziehungen der norwegiſchen Arbeiterflaffen zu
nordamerilaniſchen Häfen, Bergwerlen und Fabriken.
Holland und das belgiihe Flandern endlich, mit denen fi} der germanifche
Sprachkreis um uns herum fchließt, find gutes, deutfches Urland; abgejehen
von dem friefiihen Nordrand und den niederſächfiſchen Landichaften um die
Hfiel, ein Stammftüd des fränkiſchen Gebiets, zu dem aud Köln gehört und die
Pfalz, und die fpradlih wie nad) der Art der Bewohner mit diefen Gegenden
enger verwandt find als der Badener in Heidelberg mit dem Badener in Yreiburg-
Aber fie find ihrer Herkunft nicht fo umentwegt treu geblieben, wie wir es
gern erwarteten. Auch ſprachlich bat diefe Norbweitede von Deutichland nicht
mehr viel wiſſen wollen, nachdem fie feit dem Jahre 1200 ihre fränkifche
Mundart zur Schriftipradde erhoben hatte, und darum auch nur wenigen echt-
deutihen Wörtern nachträglich noch Gaftrecht gewährt, wie äten, Harz, Kurz⸗
weil, Kranz, Spieß, verzagen, zerren, Zieratt zittern, zollen.
Viel mehr Gnade bat bei ihr das Franzöfifhe gefunden, da dieſem —
außer anderem — im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert die hochfinnige
Gunft der burgundiſchen Herzöge Vorſchub leiftete, fpäter die Verbindung mit.
dem Reihe Napoleons.
So tft das Land der Generalftanten, das der Sprache jeines neidiſchen
Nachbars England immer fehr kühl gegenüberſtand und ihr früher nur jelten
einen Ausdrud entlehnte, ein behaglicher Hort des Franzöfiihen geworden:
Die europäifhen Spradyen und der Krieg 283
befonders im Haag, das nad dem Ausſpruch eines Zeitgenofien im Jahre 1641
von galliiden und holländiſchen Yranzöslingen wie überflutet war; dort gaben
ſich nicht nur der Hof und alle Herren des SchwertS und der Feder ganz
pariſeriſch, ſondern noch im neunzehnten Jahrhundert war bei den höheren
Schichten die Sprade des hier einft halbvergätterten Voltaire das modiſche
VerftändigungSmittel im Briefmechfel und in der Geſellſchaft.
Bir ermeffen die Wucht und den Umfang diefes nachhaltigen Einfluffes
am beften an dem traurigen Erfolg: nit nur find dort unfere fühlichen
Örenzmarlen, die im fiebzehnten Jahrhundert noch bis Boulogne reichten,
jet weithin abgebrödelt; aud in Holland hat die Sprade von ihrem
galiihen Bormund für immer eine Unzahl von Einzelmörtern Äbernommen:
nad) der Auswahl eines Turzen etymologiſchen Wörterbuchs, das im ganzen
8000 Formen zufammenfaßt, über 1000, gegenüber rund 650 aus dem Latein,
200 aus dem Deutfchen und 68 aus dem Englijchen.
Den Wall, der die drei hauptſächlichſten Sprachgebiete Europas jo grund-
fägfih voneinander jcheidet, hat der Strom der Kultur alfo an verſchiedenen
Stellen überſchritten und dabei fprachliches Gut zahlreich von der einen Geite
auf Die andere geſchwemmt.
Sein Lauf geht im allgemeinen von Süden nad) Norden und Diten, und
er Reigt bei feinem Borfchreiten ftufenweife abwärts. Indem er erft von
Rom ansgeht, dann von Paris, findet er den erften bedeutenden Widerftand
auf dem Dftufer der Weichſel. Hier ftaut ſich fein Waſſer in dem weftlich
davorliegenden beutichen Beden, bis es, zunädjit gehoben dur einen mächtigen
reindeutichen Schwall, in neuem Anfturm nad Dften und Norden weiterbrict:
fo gelangt der Titel Caefar erft als Kaifer zu uns, dann als Zar bis nad)
Mostau; ebenfo fchon von den Goten aus das germantihe Kuning „König“
in der Bedeutung „Yürft“ zu allen Slawen; dazu noch fpäter der Name Karls
des Großen, der den Dftlenten (als Kräl, Kröl) heute die Königswürde ver-
örpert und in den Perfonennamen Kral und Kroll zu uns zurüdwanderte.
Wie viel unfere deutfchen Fluren von dieſem fremdländifchen Wafler in
fh aufgenommen haben, mögen wenigftens einige Zahlen veranfdhaulichen, die
gleich nachher vergleichsweife einen Maßſtab abgeben können für unfere Ber-
dienfte um den ſlawiſchen Dften.
Während fi) der deutſche Wortihat nach der kulturgeſchichtlichen Gefichts-
punkten Rechnung tragenden Darftelung %. Seiler8 vor der Einführung des
Chriftentums nur etwa 330 Fremdbroden einverleibt hat, und ungefähr eben
jo viele nach der grundlegenden Zufammenjtellung Friedrich Kluges, eignet er
id — wieder nad) Seiler8 Wörterverzeichniſſen — von da bi8 zum Ausgang
des Mittelalters noch ein gutes Tauſend weitere an, in der neueren Zeit
außerdem gar noch 4800. Eine Hochflut brachte dabei der dreikigjährige
Krieg: auf einer Streife in den Schriften des fiebzehnten Jahrhunderts ftieß
284 Die europäifchen Sprachen und der Krieg
Frau Klara Hechtenberg⸗ Collitz allein auf rund 8400 folder Überläufer, davon
die gute Hälfte mit Heimatsrecht auch noch bei uns. Aber auch das deutſche
Srembmwörterbuch des gerade in Frankreich gefallenen Hans Schulz, defien alleir
erſchienene erite Hälfte — nur als Auswahl — über 1600 Grundformen
beipricht, bätte für unfere landläufige Gebildetenſprache gut die gleiche Zahl
erreicht.
Das meiſte von dieſem fremdländiſchen Stoff hält fi aber nicht an ber
Oberfläche des guten Schriftiums und der feinen Gefellichaft, ſondern fidert
nad und nad hinab bis auf den Urgrund der Mundart, im Süden und
Weiten freilich wohl mehr als im Innern des Reichs: jedenfalls führt der
St. Galler Bauer gut 400 ausländiſche Ausprüde im Munde, gegenüber einem
berüdfictigten Geſamtwortſchatz von höchſtens 4000 Formen immerhin ein
leidlicher Bruchteil; der Pfälzer dagegen in dem Heidelberger Vororte Hand-
ſchuhsheim bringt es gar auf faſt 700 Fremdwörter, bei einem Gefamtbeftand
von 20000 Wörtern für das ganze Dorf und von 10000 bi8 15000 Aus
drüden für den einzelnen — nach der Schäbung von Philipp Lenz —, glüd-
licherweiſe doch nur, um mit Klopftoc zu reden, ein Tropfen am Eimer!
Demgegenüber kann der Einſchlag nicht auflommen, den das Deutſchtum
bei dem ſprachlichen Gewande des Slawen hinterlafien hat. Denn fo fehr uns
das über Böhmen oftwärts vorbringende Chriftentum vorarbeitete, ſpäter die
Geltung des Magdeburger Rechts und der Handel der Hanfa, fteht er bei den
noch erhaltenen öftlichen Hauptſprachen der Slawen in feinem rechten Verhältnis
zu ber Bodenfläche, die wir ihnen feit Karl dem Großen im Weften abgenommen
haben, in feinem rechten Verhältnis auch zu der allgemeinen fremden Beimifchung.
Er ift — nad dem heutigen Stand wenigftens — fogar geringer als bie
meift durch unfere Vermittlung hindurchgegangene romaniſche Beeinfluffung.
In einem polnifch-franzöfiihen Wörter: und Geſprächbüchlein vom Jahr 1798
kommen auf 3500 bi8 3600 polnifde Ausdrüde im ganzen nur etwa 130 von
deuiſcher Herkunft, aber 210 Iateinifch - tomanifche (ein deutſches alfo auf
27 polnifhe Wörter, dagegen ein Iateinifch-romanifches fhon auf 19). Und in
einem ähnlichen ruffiiden Werfen aus unferer Zeit jtehen unter 2260 Aus-
drüden 268 romanifdhe, 56 rein deutſche und zwölf romaniſch⸗deutſche (Gips,
Matrofe), fowie 15 englifche, mithin ein romanifches neben acht bis neun
ruffiihen, ein deutiches neben 34 und ein englifches neben 151 ruſſiſchen.
Freilih find die deutſchen Ausprüde den Slawen mehr in Fleiſch und
Blut übergegangen als die ihm mehr zur Zierat und als Flitter dienenden
Nömlinge: denn die deutſchen Entlehnungen bezeichnen Begriffe aus dem
gehobenen Alltagsleben, Handwerle, Gegenftände ber Hausetnrichtung, der Küche,
bes Handels, der Kleidung, des Kriegs und der Jagd, und find der weiten
Maſſe des Volkes eigen und vertraut, während das aus unjerem Sübmeften
übernommene Sprachgut — durchgängig Ausbrüde für verfeinerte Lebens-
gewohnheiten — nur der Gebildete in den Mund nimmt.
Die europäifchen Sprachen und der Krieg 285
— — —
— — ⸗
Doch deuten ſolche Einzelwörter die geiſtige Abhängigkeit zwiſchen ben
europaͤiſchen Bölfern nur ganz grob an, fo wie die flüchtigſten Reihſtiche eine
fpätes mit der Mafchine ausgeführte Naht vorzeichnen. Unmerklich fchlingen
fih neben ihnen von Sprache zu Spradhe noch zahllofe andere, feinere Bänder,
bei denen die entlehnende Gegend ihre Selbftändigleit äußerlich weniger aufgibt,
und die gerade deshalb um fo feiter Inüpfen. Sie ſchließen den ganzen Weiten
unferes Erbdteils, Romanentum und Germanentum, teilmeife auch noch das
Slawentum, zufammen zu einer Ginheit, deren ganzes Denlen und Sprechen,
in Wortſchatz und Satzbau, der Geiſt des Lateins beberricht.
Aber diefe Verknüpfung mag noch fo eng fein, einigen Sptelraum bewahren
fich die Glieder diefer Einheit Doch noch zum eigenen Atmen und Leben. Das
Wafler, das über die Grenze der großen Sprachgebiete flutet, verbeert nur
zeitweilig einzelne Felder, im ganzen dient es eher ihrer gleichmäßigen
Befruchtung. Reißt die Welle dem Grenzdamm einmal eine größere Lüde, fo
ſorgt die Zeit meiſt auch gleich wieder für ihre Schließung: man wirb feiner
Eigenart bewußt und ſtößt das Fremde aus, im großen und Heinen. Der
Germane fegt bei fih das Romanentum aus, in Deutichland und Holland, in
Daͤnemark und Schweden; der Ruſſe wehrt ſich gegen das Altbulgarifche, wie
der Standinavier und Holländer gegen das Deutſche, und wie der Deutiche
gegen das Englifhe; und jo verdammt in Frankreich Dalberbe auch die aus⸗
laͤndernden Beſtrebungen der Plejade.
Die Führer bei ſolchen Bewegungen treibt in ber Segel das Gefühl für
die Würde ihres Volles, manchmal aud die Rüdfiht auf den guten Geſchmack.
Unbewußt arbeiten fie aber auch für die Größe und die Stärkung ihres VBolks-
tums: denn alles Ausländifhe in der Sprache richtet eine Scheidewand auf
zwifhen Gebildeten und Ungebildeten und ebnet dem Sieg und der Allein-
berrfhaft der fremden Sprache und eines fremden Volkes nur zu fehr ben
Weg, lähmt in einem Staate, wie uns Elſaß⸗Lothringen gezeigt hat, der
Regierung auch vielleicht den Arm bei ihren Gegenmaßregeln.
Ein Staat vollends empfindet das Dafein fremder Sprachen noch viel.
mehr, zumal wenn er es mit einem jenfeitS der Grenzen gar herrſchenden
Bollsteil zu tun bat.
Darum ftreben felbitbewußte Reiche, wie Rußland, Ungarn, aud) Deutſch⸗
land, in ihrem Innern möglichſt nad ſprachlicher Einheit; Franfreid dagegen
ſchiebt langſam, aber bewußt und planmäßig durch viele ftille Kanäle feine
Sprache vor gegen Norden, in Belgien, wie e8 für fie wirbt in Rumänien.
Freilich kann das Ausland uns in diefen Dingen für die Zulunft über-
haupt nur ein recht bedingtes Vorbild fein. Denn daß wir unjere germanifchen
Leitern no enger an uns fchließen, ift wegen der geographiſchen und der
ſtaatlichen Verhbältniffe, und wie der Stand und der Lauf der Kultur gegen-
wärtig nun einmal ift, faum möglich, wenn wir dem Norden und dem nächſten
Weiten ſprachlich auch mehr Teilnahme zumenden fönnten. Um jo mehr müſſen
286 Die europäifchen Sprachen und der Krieg
wir im eigenften, im deutſchen Haufe nad) dem Rechten fehen. Für die Aus-
landsdeutfchen haben wir Gott fei Dank ſchon vielfach ein offenes Herz und
eine offene Hand, auch wo fie auf einem vielleiht fchon verlorenen Boften
ftehen. Aber auch unmittelbar an den Grenzen, vor allem im Süden und
Südweſten, muſſen wir ſprachlich nur auf das Gemeinſame jehen, nicht auf
das Trennende. Nur wenn wir aud) in der ſcheinbar ungelenfeften Mundart
des Elſaß den Hauch des deutſchen Geiſtes verjpfren und in den gröbften
Zauten des Berner Oberlandes nur die „nadläffig rohen Töne der KRatur“
berausbören, vermeiden wir, beide dem Franzöfiihen in die Arme zu treiben,
in denen fie felbft die gutmütigit gedachte Spöttelei eines Neihsdeutfchen immer
Schub ſuchen läßt.
Und wenn wir künftig auch von unſerer gerade in letzter Zeit auf Koſten
der Literaturfenntnts etwas übertriebenen Wertihäbung der mündlichen Be
herrſchung der heutigen Auslandsipradden wieder ein wenig ablommen, und
wenn wir ebenfo die Sitte noch weiter einjchränten, unſern Gebildetentöchtern
wahllos, auch den unfähigften und unmilligften, im romaniſchen oder englifchen
Ausland die letzte Weihe zu geben für den Lebensweg, fo fann das ihrer
Bildung und unferm Vaterland nichts ſchaden. Denn das ift im Grunde doch
nur eine farblofe, verjpätete Blüte aus der Zeit, da Leſſing feinen Laokoon erft
glaubte franzöſiſch fchreiben zu müſſen, aus der Zeit, da Johannes von Müller
in der Berliner Alademie der Wiflenfchaften den Geburtstag des großen Friedrich
noch feierte durch eine Rebe über „La gloire de Frederic“; es ift — ſchilleriſch
geredet — eine Erinnerung an die „Zage dharalterlofer Minderjährigleit”, die
wir nun, fo Gott will, für immer hinter ums haben!
Maßgeblihes und Unmaßgebliches
Schöne Kiteratur
Edgar Poe, Werke. Band 1.
%. €. €. Brund, Minden i. W.
Mit diefem Bande ift die verdienitreiche,
ttefflihe Ausgabe der Werte ded großen
amerilanifhen Dichters zur Vollſtändigkeit
gediehen. Und damit dürfen wir das ſchöne
Unternehmen doppelt freudig und dankbar
begrüßen. Die ſechs Bücher mit dem weiß.
goldenen Rüden bilden ſchon äußerlich eine
Bierde jeder Bibliothek.
Eingeleitet wird dieſer erite Band, der
mit einem Bilde des Dichters und einem
Fakſimile geſchmückt ift, durch eine Biographie,
welhe Sohn H. Ingram verfaßt Bat. Sie
bemüht fi, die gebäfligen, vererbten Ber.
daͤchtigungen zu befeitigen, mit denen man
Boed Leben folange befudelt Bat. Noch
beute gilt ja die Anfiht und ift weit ber»
breitet: der Charakter eines Künſtlers ift
Ionform feinen Werfen. Ganz äußerlich de-
duziert man: bat einer von Mord und Dieb»
ſtahl geichrieben, fo muß er felbft irgendwie
anrädhig gewefen fein. Was weiß die Menge
bon der Seele ded Schöpfer?, von dem Ge⸗
heimnisvollen, Tiefſchmerzlichen, Rotwendigen,
von dem, was aus unerforſchten Quellen
keimt? Und fo zieht man plump und ſchaal
einige jener Schlüſſe, deren der Alltag gerade
fäbig ift und deren er fo viele in ungeduldiger
Bereitihaft bat, und geht überlegen lächelnd
feine Weges. Somit wollen wir Ingram
Dank wiffen für fein Bemühen, töridhte und
niedrige Segenden befeitigt zu Haben und
den größten amerifaniihen Poeten, dieſen
feeliiden Spürjäger, diefen Rätjeldeuter, von
falſchen Vorausſetzungen gereinigt gu fehen.
Ein tieffhürfender Auffag von Moeller van den
Brud führt in Edgar Poed Schaffen und
Schriften ein; dann folgt eine Auswahl feiner
Berje, die zumeift ganz vortrefflich übertragen
find. Ein. Dramenfragment und einige
erlag
feſſelnde Auffäge vervollftändigen den Band,
der wiederum mit Zeichnungen bon Marcus
Behmer geihmüdt ift.
Es wird wohl die Zeit kommen, die in
Poe nit nur den Erzähler von graufigen
Novellen, von Kriminalnovellen erblidt, fon-
dern aud feine brennende Sehnſucht und
Einfamteit verftehen lernt. Es bat Künftler
gegeben, die in fchöner Klarheit, in reiner
Sarmonie geſchaffen haben, die das Licht
tiefer Tiebten und freudiger begrüßten, — aber
wir jollen Ehrfurdt haben vor einem, der
mit den dunflen Gewalten des Lebens ge-
rungen bat, der unerforjchte Tiefen und Ab⸗
grände fand und mutig Binabftieg, um fie
zu erforfhen; vor einem, der fi befreien
mußte von geheimnisvollen Mädten, die den
Sorglofen, Unbedenklihen fremd und ſchrec⸗
haft erfcheinen. Aber wen Iodte es nicht,
Hinunterzufchauen in jene purpurnen Schädhte,
wo e3 bligt und gleißt wie von bergrabenen
Schägen? ... Wieviel neue Möglichleiten
bat diefer Dichter erfchlofien, in welch truntene
Fernen bat er gewiefen! Er ſah dem Xode
gelaffen ind Auge und erzwang ſich Yivie-
iprade mit ihm; er forſchte nad den großen
Zufammenhängen bed Leben; er blidie
ahnungsvoll hinauf zum Wandel der Geftirne.
Und e3 geziemt und, Achtung zu begen vor
einem folden raftlofen, ehrlichen Kämpfer,
ihn nicht äußerlich zu begreifen, fondern da,
wo alle Kunft feimt und wurzelt: im Ewigen!
Dazu möge dieſe vortreffliche Ausgabe feiner
Werke ihr Teil beitragen; dann bat fie ihren
Zweck erreicht! Ernft Ludwig Schellenberg
Laturgefchichte
Menſchen und Tiere in Deutſch⸗Südweſt.
Bon Adolf Fiſcher. Gebeftet M. 4.—, ge
bunden M. 5.50 (Stuttgart, Deutſche Ver⸗
[ag8 -» Anftalt). Ein Buch ohne Bildſchmuck,
aber in feiner ſchlichten Ausdrucksweiſe an⸗
288
regend und überzeugend. Ein Reiſter in
der Erkenntnis der vielfältigen Beziehungen
zwiſchen Menſchen und Wild zu den Eigen-
tümlicäfeiten des Landes fpricht zu und und
fefielt unfere Teilnahme. Seine lebenswahren
Schilderungen zeugen bon ungewöhnlicher
Beobachtungsgabe. Tiber der ganzen Dar»
ftellung ſchwebt ein Hauch des Mitleides für
das traurige Schidfal der alteinheimifchen
Bevoͤllerung und der jagbbaren Tiere bon
Deutih-Südweftafrila. Lobensiwert ift dabei
die Gründlichleit der in dieſem Werle auf⸗
geivendeten Arbeit, die forgfältige Benuyung
und geſchickte Bewertung der in älteren Reife
werlen enihaltenen Nachrichten und die ſach⸗
tundige Schürfung der widtigften Beobach⸗
tungsangaben aus den eigenen langjährigen
Tagebühern. So bringt Fiſchers Bud auch
der Wiſſenſchaft Rugen und wird bei weiteren
Forſchungen über Wild und Leute von Deutfch-
Sũdweſtafrika weſentliche Dienfte leiften. Was
Fiſcher im Vorwort von ſeinem Freunde Otto
Eggers jagt, „ſein Rüſtzeug ſei geweſen:
Fleiß und Können und die große Liebe zum
Land“, daB gilt gewiß auch für den, ber
diefe® Buch geichrieben Hat, ein Buch, das
jedem Leſer viel gibt und auch dem wiflen-
ſchaftlich arbeitenden Forſcher eine Fülle von Be»
lehrung darbietet. Prof. Paul Matfchie
Tagesfragen
Kriegsbüdlein für Das beutie Haus,
beraudgegeben bon Rechtsanwalt Dr. Georg
Baum in Berlin (Berlag von 3. Heß, Stutts
gart).
Der Krieg Hat auch die Daheimgebliebenen
bor eine große Reihe neuer und ſchwieriger
Aufgaben geitellt. Seitdem die dritte Wirt-
Ihaftsperiode dieſes Krieges begonnen Hat,
Die auch dem Haushalt des einzelnen
Individuums Einfhräntungen, Sparjamteit
und Überlegung, wie man mit feinen Mitteln
auskommen foll, auferlegt, treten eben an
den einzelnen fo viel Schwierigleiten und
Maßgebliches und Unmaßgeblidyes
ragen Beran, daß er fi dankbar nad) einem
Berater umfehen wird. Run geben wohl die
Tagedzeitungen zu allen diefen altuellen Fragen
‚ Auslünfte und Ratſchläge. Aber wer fammelt
diefe und wer ahnt, dab, wenn er heute
in feiner Zeitung über irgendein Problem eine
Abbandlung geleſen hal, dieſes etwa vierzehn
Tage Später für ihn praftifch werden könnte?
So ift e8 dankbar zu begrüßen, daß ein
folder Berater auf all den Gebieten, auf
denen der Krieg neue Probleme aufgeftellt
bat, in Geftalt diefeg Kriegsbüchleins dem
deutſchen Volle geboten wird. Bon Wit
arbeiten, deren Ramen für Sadlunde
bürgen, und unter denen fi Berfönlichfeiten
wie Karl Oppenheimer, Oftwald, Heinz
Potthoff, Adele Schreiber befinden, find
folgende Gebiete gedrängt auf faft 800 Seiten
behandelt worden: Hilfstätigleit im Kriege,
Krieg und Volkswirtſchaft, Wirtichafteführung
der einzelnen Stände, Krieg und Frauen,
insdejondere die Hausfrau in Kriegszeiten,
Krieg und Jugend, ärztliche Natichläge,
Kriegsausrüftung, Liebesgaben, Fürforge für
Berwundete, Berfiherungswefen, Kriegsrechtd-
fragen, Feldpoſt, Bermittlung von Auskunfte⸗
wegen und endlih Militärifches.
Der Herausgeber de Buches jelbft,
NRehisanwalt Dr. Baum, Berlin, der ala
einer der beften Kenner des Geiverbe-,
Kaufmannd- und Verfiherungsrechted einen
ſchriftſtelleriſchen Namen befigt,” Hat Die
Kriegsrechtsfragen behandelt, unter denen die
Probleme ded Schadenerjages für Kriegs⸗
Ihäden, der Vertragsverhältniſſe im Kriege,
des Erbrecht und des Schuldnerihuges her⸗
borgeboben jeien.
Alles in allem werden in dem Büchlein
in$befondere rauen, denen der gegebene
nädfte Berater dadurch fehlt, daß er in®
Feld gerüdt ift, für die verfchiedenen Fragen,
die durch des Krieges Zwang an fie heran
treten, brauchbare und zuverläffige Auskunft
erhalten. Dr. Sontag
UNen Manuflripten it Borto hinzuzufügen, da audernfalld bei Ablehnung eine Rüdfenbung
nicht verbürgt werben Tann.
fümtither Uuffäge
Nachdrudct nur mit andbrädiider Erlaubuis des Berlags g
VDereuwortlich: der Geranbgeber Georg "Tleinew in Berlin» Bihterfelde Well. — — — uns
Briete werben erbeten unter der Abdreſſe:
Un deu Herausgeber der Grenzboten in Berlin - Bickterfelbe We,
e 56,
Gerufpredger des Serausgebers: Amt Lichterfelde 408, des Berlags und ber Schriftleitung: Amt Säge 6510.
! Bezlag ber Grengboten ©. m. b. 6. in
W 11, Xempelhofer Ufer 862.
S
Deut: „Der Neichsbote“ ©. m. 5.6. in Berlin SW 11, Deſſaner Strahe 88/87.
Kur Hundertjahrfeier der Deutfchen Burfchenfhaft
am 12. Juni 1915
Die gefchichtliche Bedeutung der Urburfchenfchaft
Don Prof. Dr. Paul Sfymanf
itten in das heftige Toben des europäilhen Krieges, in dem
a Deutihland unter Anftrengung aller feiner Kräfte um fein
[8 W 1 völkiſches Daſeinsrecht und feine politiſche Weltſtellung gemaltig
R —7 N ringt, fällt die Hundertjahrfeier einer Begebenheit, welche für die
EEE eichichtliche Entwidlung des deutichen Bolfes im legten Jahr⸗
hundert von Bedeutung geweſen ift: das Yubiläum der Gründung der Deutjchen
Burſchenſchaft.
Als am 12. Juni 1815 die Jenger Landsmannſchaften unter Führung der
Bandalia zum Wirtshaus zur Tanne hinauszogen und nad) einer Anſprache
des Bandalenfeniors als Zeichen ihrer Auflöfung die Fahnen ſenkten, da ahnte
feiner der jungen Studenten, zu welcher bedeutjamen Rolle die neugegründete
Verbindung, diefe Vereinigung aller Burjchen, noch berufen ſei, und welchen
Weg durch Tränen und Blut fie werde gehen müſſen, ehe fie das von ihr
eritrebte deal erreihhen ſollte. Es war zunächſt faum mehr gefunden als eine
neue Form des Studentenftaates, eine einheitliche Organijation an Stelle der
bisherigen Zeriplitterung in Landsmannſchaften; die neue Geijtesrichtung, der
fie ihre Entftehung verdankte, vermochte nicht zur gleichen Zeit auch ſchon einen
neuen inhalt zu fchaffen. Das follte erft der Entwidlung der nächſten beiden
Jahre gelingen, und nicht bloß Jena hatte daran feinen Anteil, jondern in
hervorragender Weife auch Gießen, wo die Gruppe der „Schwarzen“ die geijtige
Führung beſaß. Das ftudentifhe Wartburgfeft am 18. Oltober 1817 bildete
den glänzenden Gipfelpuntt der burſchenſchaftlichen Entwidlung, auf den jedod
zwei Sabre fpäter die durch die Karlsbader Beichlüffe herbeigeführte Kataſtrophe,
©rengboten II 1915 19
SIR
—
290 dur Bundertjahrfeier der Deutfhen Burfhenfhaft am 12. Juni (915
ihre Auflöfung durch die Behörde an allen Univerfitäten, folgen folte. Wenn
e8 nun auch der Burſchenſchaft gelang, bald nachher als Geheimverbindung zu
neuem Leben zu erftehen, fo befaß diefe epigonenhafte Neugründung nicht mehr
die Ideenfülle und die elementare Kraft der Urburſchenſchaft und erhielt bis
zu ihrer zweiten Sataftrophe nad dem Frankfurter Wachenſturm (1833) die
allgemeine Bedeutung ihrer Vorgängerin nicht wieder, obwohl fie bei weitem
mehr als diefe in das politifche Treiben der Zeit verftridt war”).
Die Zeit nah den Freiheitsfriegen befand fi in krankhafter Erregung;
das aufftrebende Neue ftand in fchroffem, unüberbrüdbarem Gegenjate zum
überlebten Alten, und die allgemeine Enttäufhung im deutſchen Volk über die
Geftaltung feines Schidfals war tief und berechtigt. „Man muß es geftehen,“
fagt Heinrih von Sybel, „niemals ift einem großen, mit friſchem Siegeslorbeer
gefrönten Volle eine fümmerlichere Unverfafjung auferlegt worden als e8 damals
dem deutfhen durch die Bundesafte geſchah. Die mächtigen Gedanken, welche
Preußens Wiedergeburt und damit Deutjchlands Befreiung vorbereitet hatten,
waren bier in ihr Gegenteil verwandelt.“ Ganz befonders tief mußte biefer
mädtige Zwielpalt im Voll auf feine Jugend wirken, zumal auf die, welche
ſelbſt auf den Schlachtfeldern Europas mitgelämpft und für die Freiheit des
deutfhen Landes ihr Blut veriprikt Hatte. In ihr lebten große und fchöne
Gedanlen. So fagt die Verfafjung der Hallefhen Teutonia, welche eine Vor-
läuferin der Burſchenſchaft war und dur ihren Kampf mit Immermann
belannt geworden ift: „Darum möüfjen wir e8 (das heißt das Vaterland) ehren
und lieben, jebt und immerdar; darım wir Blut und Leben gering achten,
wenn feine Freiheit gefährdet und feine Ehre angetaftet wird, müflen kommen
und männlid kämpfen, wenn unfere angeftammten Fürften zu feiner Ber-
teidigung rufen, denn wer fein Vaterland nicht achtet umd liebt, ift felber der
Achtung nicht wert, und wer es feige verlaffen kann in der Not, der bat ſich
felbjt verlafien.” Auch war fi die Jugend bewußt, was man in dem
„heiligen“ Kriege gegen den korſiſchen Eroberer gewonnen hatte. „Etwa bloß
ein paar Streifen tote8 Land,” ruft ein damaliger Student Haupt in einer
Brofhüre aus, „Befreiung von. den Bedrüdungen der Herrſcher und unfere
verlorenen Städte und Feitungen? — Nein, Brüder, wir haben mehr gemonnen
als das alles wert if. Wir haben ein Land gewonnen, ein herrliches, großes,
blühendes Land, ein Vaterland; wir haben den innern Zerftörer und Eroberer
aller Völker, die Parteifudht, und ihre Mutter, die Seldftjucht, aus dem Lande
gejagt; wir haben ewige Städte und Feitungen gewonnen in dem Einflange
der Herzen aller Stämme Deutſchlands; wir haben erkennen lernen, daß wir
ein Bolt find, daß wir ein Vaterland haben, und daß das Heil desfelben einzig
in der Einigkeit und Liebe, in dem Verſchmelzen und Unterorbnen jedes Cinzel-
*) Ausführlichere über die Entwidlung der Burſchenſchaft findet fi unter anderen bei -
Schulze und Sſymank: Daß deutſche Studententum von den älteften Zeiten bis zur Gegenivart.
(Leipzig, R. Voigtländer, 1910.) ©. 176ff.
dur Hundertjahrfeier der Deutfchen Burfchenfhaft am 12. Juni 1915 291
willens unter dem der Gefamtheit beftehen Tann. In Parteien zerfplittert
waren wir der Raub jeder Macht, vereint trogen wir einer Welt.“
Aus diefer Geiftesrichtung ging die Bewegung ber Urburfchenfchaft hervor,
aber der eigenartige akademiſche Boden, auf dem fie fich entfaltete, gab ihr
ſoviel des Befonderen, daß fie tatſächlich eine felbitändige, ihrem inneren Wefen
nad) fein veräftelte Bewegung daritellt, der bei allem Nebelhaften und Unerfäll-
baren doch ein gefunder Kern innewohnte. Die neue Drganifationsform, welche
man für den Studentenftaat gefunden hatte, wollte, wie die Burſchenſchafts⸗
verfafjung von 1818 zeigt, „die freie und natürliche Vereinigung der gefamten
auf den Hochſchulen wiſſenſchaftlich ih bildenden deutfchen Jugend zu einem
Ganzen fein, gegründet auf das Verhältnis der deutfchen Jugend zur werdenden
Einheit des deutſchen Volles." Mit jugendlich - Lühner Begeifterung ftellte fo
die Urburſchenſchaft ihrer Nation in dem ftreng einheitlich geſchloſſenen Burfchen-
ftaat ein Ideal vor Augen, fie ſchuf für ihre Sehnfucht auf akademiſchem Boden
eine fefte Form ohne partifulariftifche Überbleibjel. Ihr Verdienſt mar es, daß
fie nidht bloß von ihren Wünfchen redete, fondern zum erften Male von allen
Zeilen des deutſchen Volles die befreiende organifatorifche Tat fand. Und zu-
gleich follte die neue Form des Studentenftaates ein bedeutungspolles Sinnbild
für den politiihen Staat fein, deffen Einheit die Burfchenfchaft erträumte, „ein
Bild ihres in Gleichheit und reiheit blühenden Volles“. Gemwiß war die
Urburſchenſchaft feine politifcde Schöpfung und fie wollte, wenn man von dem
Heinen SKreife der um Karl Follen gefharten „Unbedingten“ abfleht, eine folche
auch gar nicht fein, aber in ihrer Wirkung war fie doch politiſch, indem fie ihr
Erziehungsideal einer großen, über ganz Deutfchland verbreiteten Schicht von
Bebildeten einprägte; die Gefchlechter, die durch ihre Schule gingen, konnten
nit Träger des alten, im Deutfchen Bunde verlörperten Syſtems fein, das
alle Hoffnungen der Vaterlandsfreunde vernichtet hatte. In diefer erzieherifchen
Beeinfluffung des Volkes, die durch taufend Kanäle oft ungeahnt und unauf-
fällig in die meitejten Sreife fich verteilte, Tiegt ein guter Teil der entwidlungs-
geſchichtlichen Bedeutung der Urburſchenſchaft; fie hielt Den Gedanken der deutfchen
Einheit in treuer Hut, fie mwinterte ihn in ihren Epigonen während der politiſch
fo dürren Jahre zwifhen 1820 und 1830 dur) und ließ die nationale Sehn-
ſucht nicht eriterben. |
Damit war ihre Bedeutung aber keineswegs erſchöpft. Sie griff vielmehr
dur) das Wartburgfeit geradezu beitimmend in den gejchichtlihen Werdegang
des deutichen Volkes ein. „ES war etwas tief Eindrudsvolles, daß über all
die neuverſtachelten Eiferfuchtsgrenzen der deutichen Binnen-Baterländer hinweg
diefe Jünglinge aus Nord und Süd unter dem Zeichen eines gemeinfamen
Deutichgedantens fich zu verfammeln mwagten. Wenn damals der badifche und
der fchleswig-holfteinifehe Student fi) die Hand reichten, fo waren das Völler⸗
haften, die bisher faum etwas Genaues voneinander gewußt hatten, war das
ganz etwas anderes, als wenn heute Heidelberg und Kiel, Freiburg und
19*
999 Sur Bundertjahrfeier der Deutſchen Burſchenſchaft am 12. Juni 1915
Königsberg fih grüßen“ (Heyd). So ward, wie eine Zeitung jener Tage
rühmend fchreibt, das Felt zu einem „Silberblick deutſcher Geſchichte“ und zu
einem „Blütendurchbruch unferer Zeit”, und mit Recht gedenlt die Burfchen-
ſchaftsverfaſſung von 1818 jener „heiligen Tage, die jedem, ber es rebli mit
dem Baterlande meinte, eine helle Morgenröte des Tages fein müſſen, der da
fommen jollte”.
Aber nicht das, was die Burſchenſchaft im NRitterfaale der Wartburg und
am lodernden Feuer des Wartenberges verlündete, war das entwidlungs-
gefchichtlich Bedeutungsvollite an der Tagung. Ste bot in diefer Hinficht nicht
mehr, als die edeliten Geiſteskämpfer in ber Zeit der Freiheitskriege erjonnen
und gedacht hatten; aber die von edler Leidenſchaft durchglühte Kraft, mit der
fie jene Gedanken Tundgab, rüdte fie in den Mittelpuntt des allgemeinen
Intereſſes: dur fie wurde die Idee der nationalen Einheit erft zu einem
allgemeinen Zufunftsprogramm, dem die breite Öffentlichkeit lauſchte. Und
diefer Heroldsruf, den fie von der Lutherburg herab erklingen ließ und in dem
die tiefgefühlte nationale Sehnjuht einen elementaren Ausdrud fand, war
zugleich eine fchmetternde Fanfare, mit der das emporftrebende jüngere Geſchlecht
dem alten politifden Syftem entſchiedene Fehde anfagte.e Auch ohne das Ein-
greifen der Reaktion hätte fomit die Wartburgverfammlung einen Markftein in
der nationalen Entwidlung bedeutet; durch die Stellungnahme der feindlichen
Mächte ward ihre Bedeutung aber noch erhöht; und die kommende Zeit bewies
die Wahrheit der prophetiſchen Worte, welche der Jenaer PBrofefjor Kiefer in
feiner damals gedrudten Verteidigungsfchrift ausfprad: „Was fie (da8 beikt
die Wartburgverfammlung) in ihren unabfehbaren Folgen für Deutichlands
Sugend noch werden mag, ift fie nur durch den Gegenlampf geworden, ben
fie mit der Schlechtigleit des Lebens Hat führen müſſen. Mit Niefenfchritten
bat fie Ideen entwidelt, die damals nur als dunkle Ahndungen dem jugend-
lien Geifte vorſchwebten, und durch die fliegende Geiftesgewalt, mit welcher
fie id über alle Anfeindungen triumpbierend erhalten bat, bat fie ftatt der
urfprüngliden Bedeutung einer höchſt unfchuldigen, rein gemütlichen und
andädtig-frommen Zuſammenkunft jet die Bebeutung eines politiiden Feſtes
gewonnen, weldes in feinem dunklen Schoße fruchtbare, auf Jahrhunderte
wirkende Keime enthalten Tann.” Und tatfächlich eröffnete die Tagung auf
der Wartburg, die man mit Fug und Recht wegen ihres interterritortalen
Charakters als das „erite deutſche Nationalfeft” bezeichnen Tann, eine lange
Reihe ähnlicher Feſte — alle beftimmt, den völkifchen Einheitsgedanfen lebendig
zu erhalten und die unerfüllte nationale Sehnſucht zum Ausdrud zu bringen.
Als eine Nachwirkung der burſchenſchaftlichen Tätigleit und als Beweis von
ber Größe ihres Einfluffes auf das gefamte Volt darf man es betraddten, daß
ihre Farben ſchwarz⸗ rot» gold jene Trilolore bildeten, „die dur ein halbes
Sabrhundert die Fahne der nationalen Sehnfucht blieb, die foviel Hoffnungen
und fovtel Tränen, foviel edle Gedanken und ſoviel Sünden über Deutichland
Sur Aundertjahrfeier der Deutfchen Burfhenfhaft am 12. Juni 1915 293
bringen follte, bis fie endlich, gleih dem fchwarz-blau-roten Banner ber
italienifhen Carbonari, im Toſen der Barteilämpfe entwürdigt und gleich
jenem durch die Farben des nationalen Staates verdrängt wurde” (Treitſchle).
Über den Wert des burfchenfchaftlicden Wirkens hat man fehr verfchieden
geurteilt; am jchärfften und unabhängigften geht unter den Geſchichtsſchreibern
Heinrich von Treitfchle mit ihm ins Gericht. Und tatfählich entſprach bie
Burſchenſchaft, wie Iehterer überzeugend ausführt, ſowohl in ihrer ftudentifchen
wie nationalen Betätigung, ganz dem Charakter ihrer Heimat, des thüringifchen
Landes, wo der aroßzügige, aber auch herbe Staatsgedanfe nie Boden gefaßt
dat und man daber für die Bedingungen des ftaatlihen Werdens fein rechtes
Berftändnis beſaß. Die Burſchenſchaft war ein rein theoretifches Erzeugnis,
welches auf die landsmannſchaftlichen, an fi) durchaus begründeten Unterſchiede
feinerlet Rüdficht nahm, und fie glaubte, diefelben gewiſſermaßen durch einen
Federſtrich befeitigen zu können, ftatt fie in organiſcher Weife beim Aufbau des
Neuen mitzuverwenden. Diefer das geſchichtlich Gewordene mißachtende, dem
Sefühlsleben entfpringende Zug trug ihr nicht nur den Verdacht des Revolutionären
ein und ftügte die Meinung des in Metternichs Sinn fchreibenden Wiener
Bubliziften Gent, daß fie „ein durchaus vermerfliches, auf gefahruolle und
frevelhafte Zwecke gerichtetes Inſtitut“ fei, fondern er bewirkte au, daß fie
Beftrebungen unbeadtet ließ, die wie ber fpäter von Preußen gefchaffene
Deutihe Zollverein in praftifcher Weife zu einer nationalen Einigung führen
jollten. Wenn man für die Bedeutung der burfchenfchaftlihen Bewegung ein
Bild gebrauchen will, fo darf man vielleicht jagen: die Burſchenſchaft war der
breite Bad, in den von allen Seiten Zuflüffe rannen, und der fo allmählich
zu einem weite Vollskreiſe umfafienden ftarlen Fluffe ward; aber erft als dieſer
Fluß fi mit der anderen Strömung vereinigte, die von Preußen ausging und
zunähft nur wirtfchaftlider Natur war, kam der ftolge, unaufbaltiame Strom
zuftande, der dann mit Naturnotwendigfeit und Sielficherheit zur Gründung
des deutiden Einheitsſtaates führte.
Staatenbund von Nordeuropa
Don Juftizrat Bamberger
Man vergleiche die Auffäge in den Heften 88, 48, 49 vom Jahre
1914 und in Heft 2 des Jahres 1916.
enn es wünfjchenswert ift, für den Fall der Beendigung bes
8 Krieges eine völlerrechtliche Verbindung anzuſtreben, die Das
\ or, Y Deutihde Rei mit den ihm benachbarten Fleineren Staaten, —
— ae Schweden, Norwegen, Dänemarl, Holland und auch Belgien nebft
LNuxemburg — zu einem Staatenbunde vereinigt, jo liegt es nahe,
den Blid auf die bereitS beftehenden Stantenbundsbildungen zu richten und zu
prüfen, ob fie fi zum Beten der Gefamtheit und ihrer Glieder bewährt
haben oder nicht. Die Verfaſſung der Vereinigten Staaten von Nordamerifa
vom 17. September 1787, die Schweizeriihe Bundesverfafiung vom 8. April
1848 und die Verfaffung des Deutichen Reich vom 16. April 1871 bezeichnen
übereinftimmend als ihr Ziel den Schuß des Bundesgebiet, den Schub des
darin geltenden Rechts und die Pflege der Wohlfahrt der Bundesangehörigen.
Das Deutſche Reich ift nach der herrſchenden Lehre nicht als völlerrechtlicher
Bund im eigentliden Sinne, fondern als ein Bunbdesftaat aufzufaflen, während
die Vereinigten Staaten eine eigentlihe Staatenbundsvereinigung völlerrechtlicher
Natur darftellen. Gemeinfam ift allen drei Schöpfungen, daß die Unabhängigkeit
der Gliedſtaaten grundſätzlich gewährleiſtet wird, joweit fie nicht durch aus⸗
drüdlide Beitimmung zum Belten der Bundeszwede beſchränkt if. Man wird
einräumen müſſen, daß dieſe Stantenvereinigungen bis jet die Erwartungen
erfüllt haben, die ihre Teilnehmer an fie Mnüpften. Der amerilanifhe Bund,
ber auf 46 Staaten angewachſen ift, befteht ſeit 128 Jahren, der ſchweizeriſche
feit 67 Jahren, das Deutiche Neih nunmehr 44 Jahre. Die nächfte, nicht
ausdrücklich hervorgehobene, aber vielleicht wichtigfte Wirkung der Vereinigungen
beftand darin, daß Kriege zwiſchen den einzelnen Staaten von felbft in Wegfall
Tamen. Die Staatenvereinigungen verringern aljo die Sriegsgefaht. Sie
dienen unmittelbar und jelbfttätig der Sache des Friedens. Sie bienen ber
Sache des Friedens nicht nur innerhalb des Bundes, fondern auch nad) außen.
Solange ein Meiner Staat alleinfteht, jchwebt er vermöge feiner natürlichen
Schwäche in beftändiger Gefahr. Diefe Gefahr wird für ihn befeltigt ober
doch ſtark verringert, jobald er Mitglied einer Staatengeſellſchaft wird, die mit
ihrem größeren Anfehen und mit ihrer größeren Macht für ihn eintritt. Bis
Staatenbund von Ylordeuropa 295
zu dem Zeitpunkt gefährbet er überdies mit feiner Widerjtandsunfähigkeit nicht
etwa nur fich felbft. Vielmehr bildet das Daſein eines einzelnen Kleinftantes
eine allgemeine Gefahr für den Frieden. Es ift eine traurige Wahrheit, daß
der Schwache die Begehrlichleit des Starken reizt. Wieviel fehlte im Monat
Auguft 1866, daß Napoleons Forderung, ihm Belgien zu überlafien, Krieg
zwifchen zwei großen Reichen entzündete? Und wieviel fehlte im Beginn des
Jahres 1867, als der König der Niederlande fi beftimmen ließ, dem
franzöſiſchen Kaiſerreich das Großherzogtum Luremburg zu verlaufen, daß um
dieſes Zwergſtaates willen ein europäifcher Krieg ausbrah? Was für Unheil
Belgiens Schwäche über ganz Europa gebracht hat und in erfter Linie über
diefes unglüdliche Land felbft, das haben wir ſchaudernd miterlebt. Nur eine
Berlennung jo großer Gefahren, eine Verkennung des Begriffes und der Auf-
gaben des Staats geitattet das felbftändige Dafein der Kleinftaaten. Wie
wirtfchaftlich ſchwache Einzelperfonen für fi allein dem Kampf ums Dafein
nicht gewachſen, fondern genötigt find, fih zufammenfhliefen und, nunmehr
widerjtandsfähig geworden, in eine weitere Gemeinihaft mit Stärleren zu
treten, fo find auch politiſch ſchwache Staatsgebilde, wenn fie ihre Unabhängigfeit
fihern wollen, unweigerli auf eine Bergefelihaftung angewiefen. In der
Erlenntnis dieſer Wahrheit, mit weitem Blid und Luger Selbſtbeherrſchung
haben fich die erwähnten europäifchen und nordamerilaniſchen Staaten zufammen-
geichlofien und haben dies, ſoviel befannt geworden, nie bereut. Es ift hier nicht
der Drt, alle fegensreihen Wirkungen aufzuführen, die die Staatenvereinigung
mit fih bringt. Daß jeder einzelne Bürger für die Geltendmachung feiner
geiftigen und wirtfchaftlichen Kräfte nicht mehr auf den engen Raum eines Heinen
Landes beſchraͤnkt blieb, daß er als ſtolzes Glied eines mächtigen Staatenvereind
in einem großen Wirtfehaftsgebiet Fähigkeiten entwideln konnte, die bis dahin brach
lagen, das fei hier nur angedeutet. So tft denn auch nie belannt geworben,
daß einer jener nordamerilanifhen Staaten oder irgendein ſchweizeriſcher
Kanton den Eintritt in das Bundesverhältnis bedauert und angeftrebt bätte,
die ehemalige Unabhängigkeit, diefes glänzende Elend, wiederzuerlangen. Nie
ift befannt geworden, daß das Königreich Bayern Neigung verfpürt hätte, feine
hohe Stellung als Mitglied des Deutſchen Reiches aufzugeben und ſich wieder,
wie einft, allen Gefahren internationaler Verwidlungen auszufegen. Liegt es
doch für jeden denkenden Menichen auf der Hand, dab die Unabhängigkeit des
Kleinftantes nichts ift, als ein leerer Schein, nichts als eine fable convenue,
und daß die Gefahren diejer Vereinzelung ins Ungemeſſene wachſen mit dem
Wachstum der Großmächte und mit der immer häufiger zu beobachtenden Ver-
bindung der Großmächte untereinander. — Inzwiſchen hat der große Gemein-
Ihaftsgedante felbft in dem Böllerkriege jeine Wirkung geäußert. Er bat
Bündniffe. auf beiden Seiten der Tämpfenden Parteien hervorgerufen, er bat
die ſtandinaviſchen Länder zum Schuge ihrer gemeinjamen Intereſſen zufammen-
geführt und er hat jeht einen neuen großen Sieg bavongetragen. Im Mai 1915
296 Staatenbund von Nordeuropa
haben die fübamerifanifhen Staaten Argentinien, Brafilien und Chile einen
Vertrag zur gütlicden Erledigung von Streitigleiten geichloffen, die etwa zwiſchen
ihnen ausbrechen könnten. Danach iſt jeder Streitfall, der weder auf diplo⸗
matiſchem Wege, noch fchiedsgerichtlich zu erledigen ifl, vor einen ftändigen
Bundesausfchuß zu bringen. Der Bundesausſchuß hat feinen Sit in Montevideo.
Er hat auf Anruf auch nur einer der drei Regierungen in Zätigfeit zu treten.
Damit ift eine neue Sintereffenvereinigung zwiſchen drei Reichen gefchaffen, die
zufammen ein Gebiet von zwölf Millionen Duabdratlilometern mit vierundzmangzig
Millionen Einwohnern umfaffen — mehr als die Hälfte von ganz Südamerilka.
Mährend der europäilhe Boden vom Blute dampft, während die europätiche
Diplomatie fi außerftande erwies, furchtbares Unheil zu verhüten, zeigen fi)
in der neuen Welt Kluge und entichloffene Männer bemüht, ihren Ländern und
damit auch den benachbarten Rändern die Segnungen des Friedens zu fichern.
Die hohe Bedeutung des Bündniffes, das unter dem Eindrud welterjchätternder
Ereignifje geichloffen wurde, fpringt in die Augen. Dan kann fehwerlich etwas
anderes darin erbliden, als den Anſatz und die Grundlage für eine bedeutungsvolle
Schöpfung, für den Bund der Vereinigten Staaten von Südamerika!
Sähreitet die Vergeſellſchaftung der Staaten hiernach erfreulichermetie
unaufhaltfam fort, fo erſcheint es für die alleinftehenden Staaten in nod
böberem Grade, als bisher, angezeigt, zu unterfuchen, ob e3 in ihrem mohl-
verftandenen Intereſſe liegt, auf die Vorteile zu verzichten, die eine Staaten-
organifation mit fi bringt. Unverkennbar find die Schwierigleiten groß, bie
fih dem Plan eines Staatenbundes von Nordeuropa entgegenftellen. Schwierig.
feiten ähnlicher Natur waren aber auch bei der Begründung ber übrigen
Staatenverbindungen zu überwinden, wie bie amerikaniſche, bie ſchweizeriſche
und die deutſche Geſchichte lehrt. Gleichgültigkeit, Engherzigkeit, Eiferfucht und
Mangel an weiten Blick haben diefen Beitrebungen, wie anderen, lange Jahre
hindurch Hindernifje bereitet. Doch haben fi alle Yortfchritte der Menſchheit
nur allmählich vollgogen. Und es läßt fidh nicht verlennen, daß die Errichtung
eines auf freier Vereinbarung beruhenden Staatenbundes, ber unter Berld-
fichtigung des SKolonialbefiges ein gemwaltiges Gebiet umfaßt, die grünblide
Prüfung feiner Zweckmaßigkeit, feiner Ziele und Bebingungen erforderlich macht.
Die belgifhe Frage tft bier nicht näher zu erörtern. Nur foviel jet
bemerft, daß ein Schuk- und Trubbündnts mit Belgien unbebingt durch eine
ftraffe Militärkonvention gemwährleiftet werden müßte, wenn ber Zweck einer
klug · ſchonenden Behandlung bes Beftegten mit den Lebensinterefien bes Siegers
tn Einklang gebradt werden fol. Damit wäre freilich dann auch ber erfte
Schritt zur Begründung bes Staatenbundes getan. Auf anderer Grundlage
wäre eine Berftändigung mit ben übrigen, tatſächlich neutralen unb befreundeten
Staaten anzuftreben. Daß ihre Madhtverhältniffe in bezug auf Lage, Flächen-
raum, Benöllerungszahl und wirtſchaftliche Entwidlung fehr verfchieden find,
faͤllt fiherlih ins Gewicht und erfordert eingehende Verückſichtigung. Doc
Staatenbund von Ylordeuropa 297
macht biefer Umftand eine Verbindung zum Schutze gemeinfamer Intereſſen
nit unmöglid. Denn ähnliche Verſchiedenheiten beitanden unter den jeht
verbündeten deutſchen Staaten auch, ohne daß fie den Abſchluß des Bündnifjes auf
die Dauer gehindert hätten. Wenn es weiter zu Bedenlen Anlaß geben follte, daß
ein Teil der Bevölferung in den in Rede ftehenden Ländern zurzeit nicht
freundlich gegen Deutfchland gefinnt ift, fo ift dies gewiß forgfältig zu beachten.
Entſcheidendes Gewicht wird indeilen auf die Vollsftimmung kaum zu legen
fein. Sole Stimmungen wechſeln. Um dies zu erfennen, braucht man nicht
auf die Zeit des Koriolan oder Yulius Cäſar zurüdzugehen. Es mag genügen,
an die wechlelvolle Gejchichte der Beziehungen zwiſchen Franfreih und England
zu erinnern. Für die Mafle Itegt es nahe, Mikgriffe, die einzelne Beamte ſich
zufhulden kommen laſſen, dem ganzen Lande anzurechnen. Im allgemeinen
läßt fih fchwerlih behaupten, Deutſchland babe im letzten Menſchenalter jeit
dem Siege über Franfreih und der Aufricätung des Reiches eine Neigung zu
Übergriffen gegen fremde Staaten oder zu ihrer Unterbrüdung an den Tag
gelegt. Ein Berfuh von Triegerifhen Eroberungen auf Koften der Nachbarn,
wie er fo Häufig in der Geſchichte namentlih von Franfreih und England
feftzuftellen ift, wird fi nicht nachweiſen laffen. An Gelegenheiten hat es
befanntlich nicht gefehlt. Sie blieben unbenugt. Die Tatſache des dreiundvierzig-
jährigen Friedens von 1871 bis 1914 läßt fi nicht aus der Welt ſchaffen.
Sie Tiefert einen Beweis, der ſich nicht entkräften läßt. Auch dafür find die
Beweife vorhanden, daß Deutſchland während der ganzen Regierungszeit Kaifer
Wilhelms des Zweiten eifrig, wenn nicht zu eifrig, beftrebt geweſen tft, durch
weites Entgegenlommen ein freundliches Einvernehmen mit allen Nachbarländern
zu erhalten. Wenn Zuverläffigleit und Treue im Leben der Nationen noch
ttgend Wert haben, — läßt ſich behaupten, Deutichland habe feinen Bundes-
genoffen, Äſterreich oder Stalien, die Treue gebrochen? Oder e8 habe um
eigenen Vorteils willen die Türkei ihren Yeinden preisgegeben? Flößt Italien
den neutralen Staaten größeres Bertrauen ein als Dentihland? Und bat fid
die deutſche Regierung im Sommer 1914 wirklich geirrt, wenn fie glaubte,
tings von Feinden umgeben zu fein? Hat fie dennoch geirrt, — war biefer
Jertum fo umverzeihlih, daß Deutichland jeden Auſpruch auf Vertrauen ver-
loren bat?
Wer fih bemüht, gerecht zu richten, wer die reine Wahrheit fucht, wird
diefe Fragen nicht zu ungunften des Reiches beantworten können. Deswegen
darf die Hoffnung ausgeſprochen werden, die geiftigen Führer in den neutralen
Staaten möchten ımbeeinflußt von wechlelnden Bollsftimmungen nad) eigenem
Ermefien prüfen und entſcheiden, ob e8 zum Ruben oder Schaden ihres Landes
dienen wird, für den Fall des Friedens dem Staatenbundsgebanten näher zu
treten.
Hriegsgetreide- $ürforge
Don Güterdireftor der Stadt Berlin Schroeder
8 dürfte wenig ernfthafte Männer in Deutichland geben, welche
nad den Erfahrungen diefes Krieges dem Gedanken wiberftreben,
für künftige ähnliche Fälle noch befjer vorzuforgen. Dazu würde
einmal die Möglichkeit gehören, die genügende Menge an menſch⸗
Ss licher Nahrung im Lande zu erzeugen, zum anderen bie, im
rechten Augenblid auch die Verfügung über fie zu haben.
Die Möglichkeit, die nötige Menge an Nahrungs- und auch Yuttermitteln
im Lande zu erzeugen, ift jebt fo oft behandelt worden, daß ich mich mit
ihrer Crörterung nicht länger aufhalten will. Daß das in Deutſchland vor-
bandene Obland zur Verforgung ausreicht, ift fachlich Längft nachgewiefen worden.
Warum waren aber diefe Ländereien bisher ertraglo8? Weil fich die Urbarmachung
unter den jegigen Preisverhältnifien landwirtſchaftlicher Erzeugniffe und menfchlicher
Arbeit nicht lohnte. Wird das nunmehr mit einem Schlage anders werben?
Ich fürdte nein! Wer fol alfo die Zubußen leiften? Der Staat? Der
Odlandbefitzer? Die nährbebürftigen Städte?
Es wird nicht unterlaffen werden können, durch eine befiere Belehrung
der Bevölkerung an Drt und Gtelle alle die bisher ertraglofen Ländereien,
welche die Kultur lohnen, aber nicht als geeignet erlannt worden find, zu
Nutzländereien bherzurichten, zum Beiſpiel an ſich fruchtbare aber erjoffene
Zöndereien, Waldungen, die auf fruchtbarem, nur zwedimäßig zum Aderbau
berzurichtendem Grunde ftoden, fandige, ſcheinbar unfruchtbare Flächen, bei
benen es gilt, den jebt zu tief unter der Oberfläche ſtehenden, an ſich fruchtbaren
Boden durch Ziefkultur heraufzuholen und andere mehr.
Daß es ſolche Ländereien in Fülle gibt, wiffen wir von denjenigen Landes⸗
teilen, welche ſchon geologiſch⸗agronomiſch Tartiert find, von noch größeren
Flächen, die nicht Lartiert find, können wir ähnliches vermuten. Die geologiidh-
agronomifhen Unterfuhungen und Karten müſſen alfo zunächſt einmal fertig-
geftellt werden.
Ganz ohne Zwang wird e8 bei der Urbarmachung von Ädland dem Privat-
befiger gegenüber wohl nicht mehr abgehen. Bei Ländereien, die nur ber
fachlich richtigen Behandlung bedürfen, um einen Reinertrag abzumwerfen, ift
dies wohl kaum jemand zumider. Die von Grund auf nicht ertragsfähigen
Kriegsgetreide » Sürforge 299
Ländereien aber ertragsfähig zu machen, wirb den öffentlichen Körperfchaften,
die es angeht, zugemutet werden müflen, und es wird nicht zu umgehen fein
für jeden Bezirk einen Plan aufzuftellen, nach welchem im Laufe des nächſten
Menſchenalters zu verfahren iſt. Als Mitwirkende bei der Herrihtung von
Ddland zu der, Wiefe oder Weide werben aud) die Städte das ihrige zu
leiften haben. Sie werden in der glüdlihden Lage fein, die ihnen entftehenden
Koſten fih von jedem erftatten zu laſſen, der bei ihnen zuzieht. Ob fie dabei
den WBohlhabenden mehr, den Unbemittelten weniger beranziehen, iſt Sache
bejonderer Erwägung.
In Groß-Berlin werden für den Kopf der Bevölferung jährli etwa
66 Kilogramm Gemüfe ohne Kartoffeln verbraudt. Das find rund 40 Duadrat-
meter NRiefelfeldgemüfeandbau. Da der Gemüjebau auf NRiefelfeld mindeftens
die Betriebstoften aufbringt, find an Ankaufs⸗ und Herftellungstoften für Rieſel⸗
land 20 bis 30 Marl von jedem Zuziehenden einmal zu bezahlen, um ſich
„jein“ Gemüfe zu „erfigen“. Ldland ift nun zwar nicht gerade gutes Niejel-
land, aber e8 wird e8 doch im Laufe der Jahre in den meilten Fällen. Die
anderen Abmwäfler- „Befeitigungs“ (fo heißt es ja leider allgemein noch, es muß
aber in Zukunft heißen „Ausnugungs“-) Syfteme hätten fünftig den Gefichts-
punkt der Stadtverforgung genau fo behördlich in Auftrag zu belommen wie
fie heute die Probe der gefundheitlich einwandfreien „Befeitigung“ zu beitehen haben.
An Hausmüll, Straßenkehricht und dergleichen fallen auf Kopf und Jahr
der Bevölkerung mindeftens ein halber Kubikmeter. Es fteht feft, daß elendefter
trodener Sandboden, wie er zum Beiſpiel um märlifde Städte zu QTaufenden
von Heltaren ertraglos Liegt, mittel @inverleibung von !/, bis 1 Kubikmeter
derartiger Abfallftoffe auf den Quadratmeter anbaufähig wird, und zwar nicht
nur für die verhältnismäßig anfprucdhslofe Kartoffel, fondern auch für die meiften
viel anfpruchsvolleren Früchte. Davon Tann ſich jeder, der es will, bei Berlin
auf einem Nachmittagsausflug überzeugen. Yür Berlin ergibt das 160 bis 200
Hektar (600 bis 800 Morgen) derart jährlich zu gewinnendes Kulturland. Im
Bergleih zu den SKoften, die jetzt entftehen, um die Abfälle zu ſcheußlichen
Bergen aufzuhäufen, find die Ausgaben (mit 0,80 bis 1,— Marl je Kubil-
meter), bei richtiger Heranziehung der jett ſchon zur Verfügung ftehenden und
künftig unfchwer zu fchaffenden Verkehrsmöglichkeiten (Nachtſtraßenbahn, Feldbahn
und deren BZufammenarbeiten mit der Waflerbeförberung), für die direkte Be-
förderung auf die paflenden Ländereien, die ja im Privatbefit verbleiben können,
nit weſentlich höher. Der Kartoffelverbraud in Berlin beträgt — an dem
Überſchuß der Jahreszufuhr gegen die Ausfuhr gemefien — etwa 100 Kilo
gramm auf den Kopf. Bet mäßiger Ernte (150 Doppelzentner je Heltar)
gehören 66 Quadratmeter dazu, die an Kulturkoſten (1,50 Mark — 1 Quadrat⸗
meter je Kubilmeter) ein „Einbürgerungsgeld“ von rund 100 Marl beanſpruchen
würden. In Berlin würden bei 160 bis 200 Hektar alljährlid 24000 bis
80000 Menſchen neu zuziehen können, deren Startoffelbedarf auf diefe Weiſe
—) )
300 Kriegsgetreide⸗Fürſorge
mit Neuland gedeckt wäre. Die jetzt lagernden Rieſenberge geſtatten für längere
Zeit einen gehörigen Aufſchlag auf dieſe Zahl zu machen; die Abfuhr könnte
bei derſelben Körperſchaft verbleiben, der ſie jetzt obliegt.
Daß die jetzt ſo leicht eingeführte Art der ſofortigen Verfütterung der
Speiſereſte der Haushaltungen der Städte in den Frieden hinübergenommen
wird, iſt wohl ſo ſelbſtverſtändlich, daß kein Wort darüber zu verlieren ſein
dürfte. Freilich erfüttert ſich der Städter damit nur eine Fleiſchgabe von
einem Pfund Schweinefleiſch für die Woche, aber ſie iſt doch reiner Gewim.
Die Hauptſache wird immer die Brotverſorgung ſein.
Man ſpricht vom Getreidemonopol. Der Gedanke einer derartigen not⸗
gedrungen bureaukratiſchen Einrichtung erſcheint wenig angenehm, wohl aber dürfte
es ohne eine ähnliche, natürlich friedensmäßige Einrichtung, wie die jetzige Kriegs⸗
getreidegeſellſchaft es iſt, künftig nicht abgehen. Wenn die Spirituszentrale
in gemeinſamer Arbeit mit allen alkoholverarbeitenden Induſtrien in der Land⸗
wirtſchaft ihre Lebensfähigkeit erwieſen hat, warum ſollte eine ähnliche Ver⸗
bindung von Roherzeugern (Getreidebauern) und Verarbeitern auf das Brot⸗
getreide bezogen, nicht lebensfähig ſein? Freilich beſteht ein grundlegender
Unterſchied darin, daß die Alkoholerzeugung und Verarbeitung meiſt in
Betrieben geſchieht, die man nicht mehr, ſelbſt in ihren kleinften Anlagen, als
Kleinbetrieb bezeichnen kann, die vielmehr an dem Getreidebau gemeſſen über⸗
wiegend Großbetriebe find. Es muß alſo verſucht werden, durch techniſche Ein⸗
richtungen den landwirtſchaftlichen Mittel⸗ und Kleinbetrieb heranzuziehen. Grund⸗
fägliche Bedenken kann ich aber nicht finden. Im Getreidebau iſt ber Großbetrieb
dem Kleinbetriebe überlegen und dieſer ſieht fi mehr und mehr gezwungen,
fi die Einrichtungen des Großbetriebes (Getreidebindemafhinen, Kraftdreſch⸗
maſchinen uſw.) zu Nuten zu machen, wenn anders er auch lebensfähig fein
will. Denn bei diefer Erzeugung kommt e8 mehr wie bei jeder anderen in
der Landwirtſchaft auf Herabdrückung der Geftehungstoften an. Das ift aber
bem Großbetriebe im legten Jahrzehnt entfchieden erreichbar geweſen. Ich will
als Beifpiel nur zwei Einrichtungen anführen. Die Rieſendreſchmaſchine liefert
heute in zehn Arheitsftunden je nad) Art des Getreides dreihundert bis fünfhundert
Doppelzentner Getreidekorn, die ehemalige Dampfdreſchmaſchine hundert bis
hundertundfünfzig Doppelgentner, und zwar mit zwölf Arbeitern gegen vierund⸗
zwanzig.‘ Die Tonne koſtet an Arbeitslohn 5 Marl gegen 10 Mark und bie
Maſchine bringt ihre Zinfen ſchon bei einer nicht bedeutend höheren Gebrauchs⸗
zeit auf. Dazu gibt fie die Möglichkeit, die Ernte wicht unmefentlich früher zu
beginnen, fie durch Erdruſch vom Felde fort zu fihern und an den die Land-
wirtſchaft fo ungünftig belaftenden Gebäuden erheblich zu fparen, da das ge-
preßte Stroh nur den vierten Teil Raum einnimmt, wie Getreibegarben. —
Der neuzeitliche Getreidefpeicher aber nimmt ungefadtes Getreide, wie e8 dieſe
Maſchine ohne Hilfe der menſchlichen Hand loſe in den Wagen laufen läßt, in
faſt jedem Feuchtigkeitsgrade auf und feht damit die Erntearbeit unter Dad
Kriegsgetreide » £ürforge 301
und Fach fort, das heißt fichert die bekauntlich an ſich nicht lagerfeſte deutſche
Getreibeernte volllommen. Die Erfahrung aber, zum Beifpiel der Stadt Berlin
auf ihren Gütern, erweiſt die volle Verzinsbarkeit der Speicheranlageloften bei
zweimaligem Umſchlage allein aus der Erſparnis an Handarbeit bei der Ber
arbeitung des erdroſchenen Korns an einer Stelle, ftatt fonft an fünfundzwanzig.
Die Erfparniffe betrugen im Laufe von fünf beziehungsweife fieben Jahren noch⸗
mals über 5 Mark die Tonne. Die Erntefiherung und die höhere Verwertungs⸗
möglichleit aber allein und ohne diefe 10 Mark für die Tonne laſſen folche
Anlagen als eine der beften Sapitalsanlagen in der Landwirtſchaft ericheinen.
Bas liegt alſo für ein Grund vor, nit auch bei uns ein Verfahren
durhguführen, welches Amerika aus anderen Berhältniffen heraus geboren hat,
und welches Rußland jeit zehn Jahren auszudehnen fi) mit Erfolg bemüht,
wie die Borg- und Getretdegefhäfte mit England bemeifen? Wir würben
dann freilid dazu kommen müflen, in ähnlicher Weife wie wir Gefamtarmen-
verbände und amdere mehr im Lande baben, auch Gefamternteverbände zu
Ihaffen. Zu beteiligen find außer Staat, Gemeinde und Gut die getreidever⸗
arbeitenden Induſtrien. Auf jedem Gute und in jeder Gemeinde wirb fich
dann eine ſolche Rieſendreſchanlage befinden, die zu feſtem Lohnſatze möglichſt
in da Ernte vom Felde fort den Exrnteteil erdrifcht, den jeder Getreidebauer
dem Ernteverbande abzuliefern bat. Für jede zmweitaufend Heltar Getreibe-
anbauland — aljo in wirtſchaftlicher Entfernung liegend (drei Aderwagen oder
Feldbahn mit je dreißig bis vierzig Doppelzentner Iofem Getreide find dem
gerade Dreſchenden nur nötig, die drei Stunden Lieferzeit bedeuten) — ift ein
derartiger, einen Teil der Ernteeinrihtung bildender Speicher zu . errichten.
Diefer hat das Getreide in jedem, leicht und ſchnell genau feftzuftellendem
Feuchtigkeitsgrade abzunehmen und mit dem für dieſe Type (Heftolitergewicht u. a.)
geltenden Preife zu bezahlen. Die vielfach örtlich” mögliche Verbindung mit
der verarbeitenden Induſtrie — welche übrigens als Speichernebenbetrieb troß
der Kleinheit des Betriebes ebenfo billig arbeitet, wie der fpezialifierte Mühlen⸗
tiefenbetrieb — filhert die angemefjene Verwertung des Getreides und der Staat
wird ſich ſodiel Einfluß darauf fihern fönnen und müſſen, um feine Zwecke
damit zu erreihen und obne daß der Verzehrer — der wie oben angeführt ja
au einen mit den Jahrzehnten fteigenden Anteil an dem Ädlandsanbau hat
— mit ungebührlichen Brotpreifen belaftet werden muß.
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Die Zukunft der Sugendpflege
Don Dr. W. Woarftat
l. Die körperliche Kräftigung der Jugend und die Erziehung
zur Wehrtüchtigkeit.
nter allen Fragen der Jugendpflege nimmt die Frage der körper⸗
lien Kräftigung unferer Jugend, die Erziehung unferer Jugend
zur Wehrtüchtigkeit deshalb den erften und wichtigſten Platz ein,
ZA weil uns diefer Krieg mit brutaler Gewalt die Augen darüber
E A geöõffnet hat, daß von ber Erhaltung und Steigerung der Wehr-
fähigteit in dem heranwachſenden Geſchlecht unfere nationale Zukunft abhängt.
Was Männer wie der Generalfeldmarfhall von der Golg feit Jahren immer
und immer wieder betont haben, ohne daß ihre Stimme wirkli allgemeines
Gehör in unferem Volle gefunden hätte, das ift jetzt jedem einzelnen Deutfchen
Auge in Auge mit den Zatfadhen zur Gewißheit geworden: ohne eine rüftige
und wehrhafte Jugend ift es um Deutſchlands Zukunft geichehen, möge der
jetige Weltkrieg ausgehen, wie er wolle.
Nun bat man allerdings auch ſchon vor dem Striege von den verſchiedenſten
Geiten und in der verſchiedenſten Weife eine Lörperlide „Ertüchtigung“ unjerer
Jugend zu erreichen verfuht. In erjter Reihe find bier DOrganifationen mit
mehr oder weniger militärijdem Anſtrich zu nennen, wie die Jugendwehr⸗
fompagnien, der bayerifhe Wehrkraftverein und der Pfadfinderbund. Diefe
und eine große Anzahl der glei) noch zu nennenden Vereine find auf Anregung
des Generalfeldmarſchalls von der Goltz feit 1911 zum „Jungdeutſchlandbund“
zufammengetreten.
Eine Törperliche Kräftigung der jugend im allgemeineren Sinne, nicht
unter dem befonderen militäriihen Geſichtspunkte eritreben die Turn⸗ und
fonjtigen Sportvereine; vor allem hat in den letzten Jahren der Wandervogel
und die gefamte Wanderbewegung einen ſehr großen Einfluß auf die deutiche
Jugend gewonnen. Es gibt beute feine einzige “ugendpflegevereinigung, bie
nieht den erzieherifhen Wert der Leibesübungen, des Sports, des Wanderns
vor allem, erfannt bat und ausnugt. So wirlen an der körperlichen Kräftigung
unferer Jugend ebenfogut die kirchlichen Jugendpflegevereine mie die fozial-
Die Zukunft der Jugendpflege 303
demofratifde Yugendorganifation mit. ine befondere Erwähnung verdient
der „SZentralausfhuß zur Förderung der Bolls- und ugendipiele”, der
1912 fein zmwanzigjähriges Beftehen feierte und unter anderen das „Jahr⸗
buch für Bolle- und Jugendſpiele“ und das „Deutſche Wanderjahrbudj“
berausgibt.
Die Beltrebungen der Yugendpflege, unfere Jugend körperlich zu Träftigen,
haben feit mehreren Jahren auch Fräftige Unterftübung durch die Negierungen
der deutfchen Bundesitaaten gefunden. In dem großen $ugendpflegeerlaß des
preußiſchen Kultusmintiteriums vom 18. Januar 1911, duch den Die
Drganifation der Yugendpflege angebahnt wurde, und in den beigefügten
„Srundfägen und Ratſchlägen für die Jugendpflege* wird auf die Bedeutung
der Leibesübungen für die Jugendpflege nachdrücklich hingewiefen und Schulung
der Sinne, Schulung und Bildung des Willens und des Charakter als End-
ziel auch für diefen Teil der AYugendpflegearbeit aufgeitelt. Auf diefe Ver⸗
fügung Hin ift dann vielerortS die Gründung von Drt3-, Kreis- und Bezirks»
ausfhüffen für Yugendpflege erfolgt, die, durch ftaatliche Mittel unterftüßt, auf
den Gebiete der Lörperlihen Jugendpflege die eifrigfte Tätigkeit entfaltet haben.
In Preußen genießen aud) die dem „Jungdeutfchlandbund“ angegliederten Vereine,
da fie fi den Jugendpflegeausſchüſſen angefchloffen haben, die ftaatlichen Ver⸗
günftigungen, die dieſen zugeftanden find, zum Beifpiel Fahrpreisermäßigungen,
Haftpflicht und Unfallverfiherung ufw. Im preußifchen Etat find über andert-
halb Millionen Mark für Zmwede der Jugendpflege ausgeworfen, der Kaiſer
felbft Hat Geldmittel zur Verfügung geftellt und die Feitung Silberberg den
jugendvereinigungen als „Jugendheim“ zur PVerfügung geſtellt. Andere
Yundesftaaten, wie Sachſen, Hefien, Württemberg, Hamburg und andere find
in ähnlicher Weife vorgegangen.
Bor dem Striege ließ nun der Staat allen ugendpflegevereinigungen
möglichite Freiheit, um in der einem jeden eigentümlichen Weife auf die Jugend
zu wirken. Er verlangte keineswegs, daß die Fugendpflegearbeit unter irgend-
einem tendenziöfen GefichtSpunft geleitet wurde. Amar wurde in den oben
erwähnten „Srundfägen und Ratſchlägen“ darauf hingewieſen, daß mie alles
Heldentum, das nationale Heldentum insbefondere der Sinnesart der Jugend
entipredde, daß daher die Kriegsgeihichte, daß Regimentsgeſchichten geeignete
Vortragsitoffe für die Yugendpflege abgeben. Daneben wird aber empfohlen,
das felbfttätige Intereſſe, die felbitändige Mitarbeit der Jugend an den Jugend⸗
pflegeorganifationen zu weden und auszunugen. Am wenigften wird bei der
törperlicden Jugendpflege eine unbedingte militärifhe oder nationale Tendenz
gefordert, wenn man auch eine antimilitärifhe und antinationale Tendenz, wie
fie vor dem Kriege in einzelnen Gruppen der Yugendpflege berrfchte, als auch
gegen die Zwecke der ftaatlichen Yugendpflege gerichtet abmweifen mußte. Ander-
feit8 hat man vor dem Kriege jenen Yugendpflegevereinen, die ihren Übungen
einen ausgefprochen militärifchen Charakter gaben, die aljo Erziehung zur Wehr-
304 Die Zukunft der Jugendpflege
tüchtigleit im engeren Sinne treiben wollten, von vielen Seiten baraus einen
offenen Vorwurf gemacht.
Nah Ausbruch des Krieges hat fich in diefer Beziehung auf allen Seiten
ein Umſchwung vollgogen. Die preußiichen Minifterien des Krieges und des
Kultus taten einen energifcden Schritt weiter zur Militarifierung der körper⸗
lien Jugendpflege. Sie organifierten durch eine Verfügung vom 4. September
1914 eine umfafjende Werbetätigleit, um die Jugend vom vollendeten ſechzehnten
Lebensjahr an zum Eintritt in die allerortS ausgebauten oder neu gegründeten
Jugendwehrkompagnien zu veranlafien. Dort follte die Jugend zunächſt „während
der Dauer des Krieges“ für den militärtiden Hilfs- und Arbeitspienft wie für
den ihnen bevorjtehenden Dienft im Heer und in der Marine vorbereitet werben,
„loweit es ohne Ausbildung mit der Waffe möglich iſt“.
Diefes Vorgehen der Regierung iſt überall gebilligt worden, fogar im
Lager der Sozialdemokratie. So erfennt beifpielsweife Hermann Mattutat in
einem Auffage der Sozialiſtiſchen Monatshefte*) diefen Ausbau der Yugend-
webr als eine nationale Notwendigkeit an, begrüßt fogar in ihm die Aner-
fennung einer alten Programmforderung der fozialiftifhen Partei, nämlich der
Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigleit. Er verlangt, daß die Jugendwehr
politifh neutral geftaltet würde und tritt für die Beteiligung ber ſozial⸗
demofratifden Jugendorganifationen an der Jugendwehr ein, um diefen Zwed
zu erreichen. Dabei erfennt er an, daß die Regierung ein rebliches Bemühen
zeige, diefe politiihe Neutralität in der Jugendwehr zu erhalten, indem fie die
ſozialdemokratiſchen Organe zur Beteiligung aufgefordert und bei der Aufftellung
der Grundzüge ihnen Entgegentommen gezeigt habe. in bejonderes Lob wegen
bes Fehlens „jedes nationalen überſchwangs“ in dieſen Grundzügen erhält
von ihm die württembergifche Jugendwehr.
Man kann aljo, ohne zuviel zu fagen, behaupten, daß heute innerhalb
des deutſchen Volles Einmütigleit darüber herrſcht, daß die körperliche Er⸗
ziehung der deutfchen Jugend unbedingt eine Erziehung zur Wehrtüchtigleit
fein oder werden müfle.. Daher muß man erwarten und verlangen, daß bie
Erziehung zur Wehrtüchtigkeit, wie fie jebt zunächſt während der Kriegäzeit in
den Jugendwehren angeftrebt wird, auch nad) dem Kriege fortgefegt werde.
Allerdingg wird man dann nit umhin können, diefe ganze Erziehung.
organifatorifh und zum Zeil vielleicht auch inhaltlich auf neue Grundlagen zu.
ftelen. Denn ihre augenblidliche Organifation, gelennzeichnet als Ausbau der
ſchon vorhandenen Jugendwehren und anknüpfend an ſchon Beitehendes, war:
zwar für den Augenblid das Gegebene, trägt aber doch nur den Charalter
eines Provtforiums. Sie erfüllt ſchon jet kaum mehr ihren Zwed. Überall.
wird über das Abftrömen und Fortbleiben der Jugend aus den Jugend⸗
fompagnien geklagt.
*) Augendwehr und Arbeiterbewegung. Sogialiftiihde Monatshefte 1914, Nr. 20,.
Geite 1240f.
Die Zukunft der Jugendpflege 305
Das ift überhaupt der fchlimmfte Fehler der augenblicklichen Organiſation,
daß fie auf dem Grundſatz der freiwilligen Beteiligung der Jugend aufgebaut
ift und daher niemals die gefamte Jugend erfaßt und erfafien kann. In weiten
Kreifen der Jugend befteht noch immer troß der eifrigen Werbetätigleit, die
nad dem Jugendpflegeerlaß von 1911 einfeste, Gleichgältigkeit, in andern
Kreifen, namentlich in denen der felbitändigen Jugendbewegung (Wandervogel
und verwandte Bereine) Miktrauen gegen dieſe von Erwachſenen geleitete
Jugendpflege. Ja, felbft nach dem Erlak vom September 1914 ift die Be-
geifterung für die Jugendwehr ſehr fchnell wieder abgeflaut.
Die Gründe dafür find zum Teil allgemein-pfychologifcher Art. Sie liegen
im Wefen der menſchlichen Natur im allgemeinen und dem der jugend im
befonderen.. Es nübt daher nichts, über ſolche Erfcheinungen zu Hagen ober
zu ſchelten; man muß fie vielmehr zu verhindern fuchen.
Eine allgemeine und dauernde Erfaffung unferer Jugend dur eine Er-
ziehung zur MWehrtüchtigleit ift nur dann möglid, wenn die Beteiligung an
ihren Einrichtungen allgemein verbindlich if. Und nur der Staat allein ift
imftande diefe Allgemeinverbindlichleit für die Veranftaltungen der Törperlichen
Jugendpflege auszuſprechen. Daher muß die Förperliche Yugendpflege, inſoweit
fe eine Erziehung zur Wehrtüchtigkeit fein fol, verftaatlicht werben.
Man bat bisher einer Beritaatlihung der Yugendpflege oder auch nur
irgendeines ihrer Zweige gerade in den Kreifen ‚der freien Jugendpflege faft
allgemein durchaus ablehnend gegenübergeftanden. Man fürditete den Bureau-
katismus und Schematismus, der mit einer Verſtaatlichung notwendigerweife
verbunden fein müßte, und betonte, daß gerade in ber Jugendpflege Indivi⸗
bualiftierung in den Mitteln, je nach der fozialen Stellung, der Bildung, felbft
nad) dem Charakter des Volksſchlages vonnöten ift, dem die Kreife angehören,
die für die Jugendpflege gewonnen werden follen. Man betrachtete mit Recht
bie Bielgeftaltigfeit der Jugendpflegeeinrichtungen, die begeifterte Freiwilligkeit
und Hingabe an ihre Aufgabe, die bei den Yugendpflegern, die freiwillige Mit⸗
arbeit und Gelbitbetätigung der ſich beteiligenden Jugend als hohe Vorzüge,
bie ber bisherigen Art der Jugendpflege anbafteten. Der preußifche Jugend⸗
pflegeerlaß vom Jahre 1911 wußte diefe Vorzüge richtig einzuſchätzen, da er
die Wichtigkeit ber opferwilligen Zätigfeit der leitenden Perfonen und ber
Selbitbetätigung der Jugend am Ausbau und der Leitung ber Einrichtungen
für den Erfolg der Jugendpflege betont. Er wollte baber die Jugendpflege
auch gar nicht verftaatlichen, jondern vielmehr, wie Dr. Friedrich Reimers im
Handbud für Fugendpflege*) fih ausdrückt, als Träger der Yugendpflege bie
Ration — mit den beften geeignetiten Perfönlichleiten in völlig freiwilliger
Betätigung — binftellen, der Staat felber aber follte der „treue, von tiefem
”) Seraudgegeben bon der Deutihen Zentralftelle für Jugendpflege. Langenfalza,
Herm. Beyer u. Söhne. 1918.
GSrenzboten II 1915 20
806 Die Sufunft der Ingendpflege
Berftändnts erfüllte, nimmer ermübende Helfer und Förderer der Jugendpflege
fein, der durch Hergabe feiner Einrichtungen und Beleitigung vorhandener
lähmender Geldnot den zu felbftlofer Betätigung drängenden fittlichen Kräften
freie Bahn ſchafft“.
Aber jelbft wenn wir jebt, gedrängt von den Erfahrungen und Forderungen
unferer Zeit, die Berftaatlidung eines Teiles ber Jugendpflege fordern, fo
braudden jene Befürchtungen deshalb nicht aufzuleben. Denn wohlgemerkt,
nur ein Teil der Jugendpflege, ja felbft nur ein Teil der Törperliden Jugend⸗
‚pflege fol vom Staate auf feite Grundlagen und Bahnen geftellt werden,
nämli die Erziehung zur Wehrtüchtigkeit. Nur die körperliche Jugendpflege,
foweit fie Erziehung zur Wehrtüchtigkeit leiften ſoll, foll aus dem Gefamt-
arbeitsgebiet der Jugendpflege herausgehoben und vom Staate auf neue und
zwar allgemeingültige und für die Jugend und bie Jugendleiter allgemein-
verbindlide Grundlagen geftellt werden. Alle die vielgeftaltigen Jugendpflege⸗
veranftaltungen jollen im übrigen ihre volle mdividuelle Yreibeit behalten; die
in ihnen wirlenden ſittlich⸗erzieheriſchen Kräfte, vor allem die Freiwilligkeit der
Arbeit und die Selbittätigleit werden auch in Zukunft ungeſchmälert ihre Wirkung
entfalten Tönnen.
Aber bei der Erziehung zur Wehrtüchtigkeit handelt es fi) eben nicht
allein um eine allgemein-erzieberifde Einwirklung auf die Jugend, wie bei der
Zugendpflege im allgemeinen. Dieſe allgemein-erzieheriide Einwirkung Iäßt ſich,
wie die Geſchichte unferer Yugendpflege beweift, von den verfehiedenften Grund»
logen aus und auf dem verfhiedeniten Wegen erreihen. Hier handelt
es fih aber vielmehr um die Löfung einer ganz beitimmten, praktifchen
Aufgabe, die das Boll und den Staat als Ganzes aufs ftärkite praktiic
intereffiert: die MWehrtüchtigleit des kommenden Geſchlechts. Bei der Wichtig.
Teit des zu erreihenden Erfolges ift es dringend wünfchenswert, daß biefem
Ziele nicht von den verſchiedenſten Seiten zugeftrebt wird, fondern es tft
nötig, daß das Ziel und die Wege, die zu ihm führen, einhettlih und Mar
beftimmt und gezeigt werden und daß dieſes Ziel und diefe Wege allgemein-
verbindlich für die ganze deutſche Jugend bingejtellt werben.
Man kommt aljo um die ftaatlide und allgemeinverbindliche Organiſation
der Erziehung zur Wehrtüchtigleit,” troß jener gefchilderten Bedenken unb
Befürchtungen nicht herum. ES fragt fi aber nun, in welcher Weile dieſe
Drganifation zu geftalten wäre. Man Tönnte zunächſt an eine felbftändige
Organiſation dieſes Zweiges der Yugenbpflege denken, etwa in ber Weile, ba
die Jugendlompagnien als ftaatliche Einrichtungen übernommen und der Eintritt
in fie für alle Jugendlichen in einem beitimmten Alter, etwa vom fünfzehnten
bis zwanzigſten Lebensjahre, verbindlih gemacht würde.
Abgefehen davon, daß diefe Einrichtung, beiſpielsweiſe die Kontrolle über
die Beteiligung der in Betracht kommenden Jugendlichen, eine unverhältnismäßig
große Aufwendung von Kraft und Mühe koſten würbe, fo ftellen fi) ihr doch
Die Zukunft der Iugendpflege 807
auch noch ſchwerwiegende praktiſche Bebenlen entgegen. Es würde in ihr eine
neue, felbftändige Drganifation gefhaffen, die aufs Rene einen Teil der Zeit und
Kraft der Jugend in Anfpruch nehmen würde. Die Leidtragenden würden dabei
zwar nicht die Jugendlichen felber fein, fondern die Arbeitgeber der Jugend einer-
feit8 und die Schule, namentlich die höhere Schule, anderjeits. Wir wiflen, unter
welchen Schwierigleiten und tatſächlichen Opfern der Arbeitgeber die Einführung
des Fortbildungsfchulgwanges möglich war. Die Durchführung der felbftändigen
obligatorifchen Jugendwehr würde neue und größere Zugeftändniffe an Freizeit
vom Arbeitgeber erfordern. Was endli die Schule, namentlich die höhere,
angeht, jo befindet fie fich ſchon heute den vielen Jugendpflegeorganiſationen
gegenüber deshalb in einer ſehr fehwierigen Stellung, weil alle dieſe Beftrebungen
neben der Schule hergeben und ihr die Jugend aus der Hand nehmen, ohne
dab e3 der Schule bisher gelungen wäre, den richtigen Anſchluß an biefe
Beitrebungen zu gewinnen. Schon heute fpielt fi der größte Teil ber
erzieherifhen Einwirkung auf die Jugend neben der Schule ab, und die Schuld
daran liegt nicht bloß auf feiten der Schule. Wenn nun die Drganifation
der Erziehung zur Wehrtüchtigkeit felbftändig neben die Schule tritt, fo wirb
jener unerwünſchte Zuftand noch verſchlimmert. Man müßte anftelle befien
wünfchen, daß gerade der Schule ein Feld eröffnet würde, auf dem fie wieder in
höherem Maße zu erzieheriihem Einfluß auf die Jugend gelangten Tönnte.
Alle diefe berechtigten Anſprüche finden eine genügende Berüdfichtigung,
wenn man die Erziehung zur Wehrtüchtigkeit an die Schulen felbft angliedert,
und zwar an die Volks⸗, Fortbildungs-, Mittel- und höheren Schulen in gleicher
Weiſe. Und auch die praktiſchen Organiſationsſchwierigkeiten würden dann auf
ein geringes Maß zurüdfinlen. Es ift in diefem alle eigentlih nur ein
zweckentſprechender Ausbau des Zurnunterricht3 vonnöten. Dieſer Ausbau hätte
zu erfolgen nad) den Grundfägen, die von der Regierung in den „Richtlinien
für die militärifche Vorbildung der älteren Jugendabteilungen während des
Kriegszuftandes“ aufgeftellt worden find. Ein großer Zeil der darin angegebenen
Ziele Tieße fih ſchon in den gewöhnlichen Turnftunden erreihen. Dazu müßten
dann aber Heinere und größere Geländeübungen treten. Diefe könnten auf
halb⸗ und ganztägigen Wanderungen ftattfinden, wie fie auch jebt ſchon an
den Schulen Ablih waren. Diele Wanderungen wüßten jebt aber öfter, plan-
mäßig und allgemeinverbindlih ftattfinden. Die Einbuße an Unterrichtszeit,
die dabei eventuell unvermeidli werden könnte, wird durch den erzielten
Gewinn an körperlicher und geiftiger Friiche bei der Jugend wieder wettgemacht
werden.
Jedoch wäre es von erzieheriihen und praltifchen Geſichtspunkten aus
gleich wichtig, daß die Form der Jugendkompagnie beibehalten und daß ben
Sugendlompagnien innerhalb des Rahmens der Schule eine gemifje Selbft-
ftändigleit gewährt würde. Diefe Form erleichtert der Jugend bie Selbfttätigkett,
die Mitwirlung bei Ausbau und Leitung der Einrichtungen, auf deren er-
90*
308 Die Zukunft der Jugendpflege
zieberifhen Wert oben bingemwiefen wurde. Dieſe Selbftändigleit gegenüber
der Schule müßte fogar foweit gehen, daß auch Jugendliche, die nicht mehr
der Schule angehören, beifpielsweife junge Leute, die mit dem Einjährigen-
zeugnis bie höhere Schule verlafien haben, der entſprechenden Jugendkompagnie
nicht bloß ihrer ehemaligen Schule, fondern aud, wenn fie ihren Wobnfit
verlegt haben, am neuen Wohnort der einer fremden Schule beitreten müßten.
Ferner muß die Selbftändigfeit der Yugendwehrlompagnie fo ausgebaut
werden, daß die freiwilligen Hilfskräfte, die bisher fo QTüchtiges in der
Erziehung zur Wehrtüchtigkeit als Führer der Jugend geleiftet haben, auch
fernerhin ihre Kräfte in den Dienft der Sache ftellen können. Ihnen muß
die Möglichkeit gegeben werden, als Jugendwehrführer, etwa bei Gelände.
übungen, fi) neben den Qurnlehrern der Schulen zu betätigen, namentlich
auch dann, wenn etwa mehrere Schulen in größeren Verbänden oder gegen-
einander üben.
Bet diefen organifatorifhen Fragen, bie ſicher noch mancherlei Überlegung
loften werden, ins einzelne zu geben, dazu ift hier nicht der Pla. Es follte
bier nur auf die Notwendigkeit bingewiefen werden, die Erziehung unjerer
Jugend zur MWehrtüchtigleit mit Hllfe der Autorität des Staates allgemein-
verbindlich zu maden und auf feſte Normen zu bringen, und gleichzeitig follte
ein Weg gezeigt werben, wie bdiefer Zweck am leichteften zu erreichen wäre,
ohne daß die Intereſſen der beteiligten Kreiſe zu ſtark in Mitleidenſchaft
gezogen würden. Unſer Vorſchlag lautet alfo: allgemeinverbindliche Erziehung
„unjerer Yugend zur Wehrtüchtigleit bei Unterorbnung und Anlehnung ihrer
Drgantjation an die Schulen, jedoch fo, daß den Yugendabteilungen ein gewiſſes
Maß von organtfatoriiher Selbftändigleit gewahrt bleibt.
Sollen die Dramatiker fchweigen ?
Don Dr. Julius Zeitler
Jie Rundfrage, die neulich von einem Leipziger Abendblatt (Abend-
zeitung) bei Bühnenleitern, Künftlern, Schriftftellern und Ton-
dichtern veranftaltet wurde, um ihre Urteile über den Einfluß des
Krieges auf die deutiche Theaterwelt zu fammeln, tft außer-
ordentlich aufſchlußreich bezüglich der gegenwärtigen Lage der
Theater.” Man findet darin Beiträge zur Pſychologie des Publilums, zur Lage
des Schaufpielerftandes im Kriege, zur Klarftellung des merfwürbigen und leider fo
ſehr erllaͤrlichen Wandels, den der Spielplan in ben legten Monaten erfahren bat.
a, es ftedt ſogar eine Art Theatergefchichte diefer Kriegszeit darin, da wir bie
einzelnen Phaſen der Spielplangeftaltung ſchon deutlich überbliden können: von
dem nationalen und Haffifhen oder epigonifchen Drama nad) der Lähmung
des Auguft, der Überwucderung ber folgenden Monate mit patriotiſchem
ſchnellproduziertem Hurralitich, bis zum fentimentalen und beruhigenden Vollks⸗,
Biedermeier- und Zauberftüd. Werke der Iehteren Ordnung nannte man
„Entfpannungsliteratur” ; das Theater wich den Zeitereignifien jo weit aus,
daß die Ablenkung von diefen als feine Hauptaufgabe erſchien, das
Bublitum fteuerte immer mehr in eine Sudt zum Leichten und Leichteften
binein und fo wollten die Theater nur noch der Zerftreuung, Erbeiterung und
Erholung dienen. Es muß gejagt werden, daß dieſe zunehmende Verflachung
von recht vielen Stimmen nur mit Nefignation gebucht wurde. So beflagt Dito
Maurenbrecher, daß „unfer Publilum vom Theater vorerſt noch nicht die große
Erhebung und Erbauung wolle, die man ihm gern reichen möchte”, und Alfred
Halm findet bittere Worte über die Erniedrigung und Verflachung des
Publilumsgefhmads, die in ihren Wirkungen auf eine recht lange Zeitipanne
hin nur niederdrüdend empfunden werden lönnen.
Alle Stimmen verwerfen natürlich ausnahmslos die aktuelle ſchnell zufammen-
gezimmerte Kriegsdramatil, bis zur Kriegspoſſe und Kriegsoperette binunter,
jenen patriotifchen Schund, über deſſen entfebliche Albernheit man eigentlich fein
Wort zu verlieren braucht. ES gibt geradezu Tein Baterlandslied, defien Titel
310 Sollen die Dramatifer ſchweigen?
oder Anfangsftrophe nicht als Titel eines biefer in einer ſchreckensvollen Mafien-
baftigfeit auftretenden Werke mißbraucht wurde. Manche Direltoren bedauern es
mit bitterem Hohn, daß fie die Pforten ihres Haufes foldem Schund nicht ver-
&hließen durften — aus wirtfchaftlihen und Publitumsgründen. Es muß aber
anerlannt werden, daß bie ernfteren Bühnen dieſer Seuche fo gut wie gar nicht
anheimfielen, daß fie auch in der Kriegszeit immerhin auf ein anftändiges Niveau
bedacht waren. Jene Probufte, wie „Immer feſte druff“, „Sloria-Biltoria”,
„Infanteriſt Pflaume”, „Die Tripelentente”, „Krümel vor Paris“ und andere,
feinen in der Tat jebt ganz an bie Stätten verwieſen, wohin fie gehören, in
die Operettenhäufer und Barietes. Die Stüde find damit ſchon von felbft in
den Orkus gefunten, und es hätte auch jenes prinziptellen Beichluffes einer
Bühne (der Münchener Generalintendanz), fi aktuellen Kriegsdramen zu
verſchließen, gar nicht beburft, um fo mehr, als ein folder Beſchluß, wie wir
ſehen werben, doch auch eine zweifchneidige Sache ift, indem er neben dem
Schlechten auch dem Guten die Lebensmöglichkeit abſchnürt. Aber aud die
nationalen Dramen der Vergangenheit (Kleift, Leſſing, Heyfe) haben angefangen,
in den Hintergrund zu treten, nud ernfte Theaterleiter beginnen, dem irre-
geleiteten Kriegszeitgeſchmack des Publikums mit Aufführungen von Neu-
erfheinungen zu begegnen, die ſchon vor dem Kriege entftanden find,
aber eine Weile in den Schubläben der Dramaturgen ſchlummern mußten.
Selbftverftändlih find auch Haffiihe Werke ohne nationalen Gehalt wieder
aufgenommen worden. Soweit jene Neuerfcheinungen einen ſolchen batten,
erbielten fie ihn ſchon aus der Zeitſtimmung vor dem Kriege, wie Freiherr
von Unrubs „Louis Ferdinand”, Ludwigs „Kronprinzendrama”, Paul Ernſts
„Preußengeift“, Burtes „Katte“, Eulenbergg „Morgen nad Kunersporf”
und andere — eine ganze Reihe von Preußenftüden! Die Literaturgejchichte
mag unterſuchen, warum fi) fo viele Dichter der Preußendiftorie zuwenden,
warum au der Preußenroman in der Luft liegt. Es find GStüde, die
gewifiermaßen eine zweite Staffel jener nationalen Dramen darftellen. Im
weiteren Sinne gehören auch das in Erfurt aufgeführte Striegsichaufpiel
„Fröſchweiler“ von Wentel und Runkel, Lee „Grüne Dftern“, 1813 fpielend,
Hans Frands „Schlacht bei Worringen“ (Düffeldorf), Edmund Baflenges
„Sotentreue“ (Chemnit) und Edarts „Heinrich der Hobenftaufe“ Dazu; wohl alle
find ſchon vor dem Krieg geichrieben und [piegeln doch die Kriegsftimmung wider.
Sogar Bismards Gedanken und Erinnerungen haben fich gefallen laſſen müſſen,
dramatifiert zu werden. Jenſeits dieſer immerhin kriegeriſch durchdrungenen
Dramenwelt erhielten wir von Schönherr, Wildgans, Bartſch, Sternheim neue
Stüde, die aber in diefem Zufammenhang außer Betracht bleiben ſollen. Alſo
jene oben erwähnten Werle fanden wenigftens da oder dort bei den Theater-
leitern eine freundliche Aufnahme, man ſchlug zwei Fliegen mit einer Klappe,
man befriedigte die patriotiſche Gefinnung und ſchien dabei zugleich Die lebendige
Dramatik, das Schaffen der Gegenwart, zu fördern.
Sollen die Dramatiker fchweigen? all
Aber e3 iſt Mar, auch dieſe ſporadiſchen Erſcheinungen und Aufführungen
baben e8 noch längſt nicht vermocht, unferer Theatergegenwart einen Charalter
zu geben. Im ganzen wird gerade jett, in dem Zwiſchenraum zwiſchen der
erften und der zweiten Kriegsepoche, deutlich, daß über unferen Bühnen ein
Zuſtand der Ratlofigleit Itegt, eine gewiſſe Blutleere, trotz aller Experimente,
aud) den Breitern heilfames Menſchenblut zuzuführen, ja faſt eine Lähmung,
wie fie im Monat der Mobilmahung herrſchte. Woran liegt das? LUnfere
Frage beantwortet das Schweigen der Dramatifer. Warum fchweigen fie?
Schweigen fie nicht zu lange? Das Mikverhältnis zur Kriegsdichtung liegt
Mar zutage; viele Tanfende Kriegsiyriler fingen und zwitſchern und marjchieren
gereimt und ungereimt — die Dramatiler aber fchweigen. Dem ungeheuren
Geſchehen dieſer Zeit erftehen noch feine dramatiſchen Geftalter. Was uns
angefündigt fit, hat Teinen Bezug darauf. Denn wir werden wohl
weder Ernſt Hardts „König Salomo” noch Sudermanns faft in der Urzeit
ipielendes neues Drama, die angejagt find, mit den Ereigniſſen unjerer
Zeit, die uns im Herzen zittern, in Berührung bringen dürfen. Es mag
Heroismus fein, einer bebenden Gegenwart künſtleriſch entfliehen zu Lönnen.
Aber es ift ficherlih ein anderes Heroentum, als es heute in den Geelen
lodert, als e8 heute bie dramatifche Hülle zu fprengen fuhen muß. Was
uns bisher von unferen PDramatilern in diefer Richtung befchert wurde,
ft überaus fpärlid und es find beftenfalls nur Leine Abjchlagszahlungen.
Schmidt-Bonns und Dülbergs dramatiide Prologe, Hawels „Einberufung“,
Bahrs munterer Seifenſiederſchwank, Klabunds „Sleines Kaliber”, Carl Anzen-
grubers „Im großer Zeit”, Thomas „Erfter Auguſt“ — teils fteden fie noch
ganz in der Mobilmahung, teils find fie nad) außen gerichtet und geben
billige Feindeskarikaturen. Alexander von Gleichen - Rußwurms „Feinde
ringsum“ beſchwor das Griechentum und ftellte die Mobilmachung Themiftofles’
anf die Bühne. Tiefer ins Gefüge der Zeit greift Carl Hauptmann in jeinen
dramatifhen Einaftern, die, wie ſchon das Tedeum „Krieg“, ins Philoſophiſche
münden, und das innere und weitere nationale Geſchehen noch nicht ergreifen.
Auch Hans Johſts „Stunde des Sterbenden” fchließt fih an Hauptmann an.
Das wären fo ziemlih alle dramatiſchen Geburten, die der Krieg bisher
gebracht bat.
Aber wie ftellen fi nun unfere ZThenterleiter und Dichter felbft dazu?
Was erhoffen fie von der eigentlich lebendig zu nennenden Dramatik unjerer
Zaoge? Hören wir die Rundfrage, fo begegnen wir bei nicht wenigen einer
großen Zufunftsfreudigkeit, nicht wenige hoffen auf bedeutende Dramatiker und
fordern fie, und wo einmal eine Stimme refigniert ausklingt, geſchieht es aus
Liebe zum Beiten, aus unüberwindbarer Stepfis gegenüber dem Publikumsgeſchmack.
Da lebt Graf Bylandt-Rheidt der Hoffnung, daß unfere große Zeit „auch
wieder große” Dichter erftehen laſſen wird, Julius Rudolph hofft, „daß
biefe große Zeit auch große Dichter bringe, damit die Mafjenproduftion
312 Sollen die Dramatifer ſchweigen?
von dramatiſchen Seichtheiten aufhört,“ Georg Stollberg erwartet einen
günftigen Einfluß auf die dramatifhe Produktion („wir waren nahe an der
Berfumpfung“), Wolzogens Gattin wünſcht, daß fih in blühender Schaffens-
fraft „ein perfönlich-nationaler Geſchmack herausdeftilliere aus dem Pulverdampf
des Srieges, aus dem Strudel des Völferblutbades", Mar Pategg veripricht,
daß fih „modernen Dichtern, foweit fie die SZeitereigniffe mittelbar oder
unmittelbar in padender Form widerzuipiegeln wifjen, gern die Tiheaterpforten
öffnen”, auch Ernſt Wachler fordert, daß „die Bühnenleiter foviel als
möglih neue Dichtungen” aufführen follen. Richard Leiner ſeufzt gar nad
Dichtern, die ältere Ideen in fi haben aus